Wiedereröffnung der Dauerausstellung im Haus der Geschichte

Schwerpunktthema: Rede

Bonn, , 11. Dezember 2017

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 11. Dezember bei der Wiedereröffnung der Dauerausstellung im Haus der Geschichte eine Ansprache gehalten: "Indem wir uns damit beschäftigen, was war, denken wir darüber nach, was hätte sein können. Historisch zu denken, schult unsere politische Imagination. Es macht uns misstrauisch gegenüber Denksystemen, die vorgeben, es führe nur ein unvermeidlicher Weg zu einem einzigen, und dazu noch vorgegebenen Ziel."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei der Wiedereröffnung der erneuerten Dauerausstellung zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland im Haus der Geschichte

Als wir eben, während unseres Rundgangs eine ganz kurze Pause in den Bankreihen des alten Bonner Bundestages gemacht haben, da kam mir, und vermutlich nicht nur mir, der Gedanke, wie sehr auch die Dinge ihrer Zeit verhaftet sind. Wie stabil und unverrückbar erschienen uns die Verhältnisse in Deutschland, in ganz Europa, als die Bundestagsabgeordneten noch Annemarie Renger, Heiner Geißler oder Hildegard Hamm-Brücher hießen, und als sie hier, im alten Bonner Plenarsaal, auf diesen grünen Ledersitzen dicht nebeneinander saßen.

In den alten Bundestag, hier in Bonn, bin ich selbst nicht mehr eingezogen, erst später in den Berliner. Aber ich darf Ihnen versichern, uns Neu-Berlinern war nach dem Fall der Mauer und nach dem Umzug in das erneuerte Reichstagsgebäude klar: Die Welt ist weiter und der Himmel höher geworden. Wir mussten uns ja damals nur umsehen, um das zu bemerken.

Das alte Chorgestühl war da längst ausgetauscht gegen bequeme Drehstühle mit blauer Polsterung, die Sie abends im Fernsehen sehen, auf denen man leichtgängig vor und zurück, nach rechts und nach links gleiten kann – flexibler und komfortabler, als das früher der Fall war. Alles war in Bewegung geraten, auch die Abgeordneten.

Und doch verbindet mich etwas mit dem alten Plenarsaal, mit den alten Bänken, die ich gerade gesehen habe. Ich kann jedenfalls nicht an ihnen vorbeigehen, ohne mir vorzustellen, wer wohl drauf gesessen haben mag. Helmut Kohl, Franz Josef Strauß, Willy Brandt, Herbert Wehner? Und ich wüsste nur zu gerne, welche persönlichen Unterlagen lagen wohl im Pult davor? In diesem kleinen Pult, dessen Klappe man so hörbar laut zuschlagen konnte, wenn einem gerade keine andere Form der Unmutsäußerung einfiel.

Die Zeit haftet an den Dingen und wir hängen an ihnen, weil sie uns mit dem Vergangenen verbinden. Und wir hängen an ihnen, auch weil sie uns an Menschen erinnern, die sie – in diesem Falle kann man das wörtlich sagen – besessen haben. Es ist gut, diese Dinge zu bewahren. Und es ist gut, sie herzuzeigen. Sie regen uns ja nicht nur zum Nachdenken an, sondern auch zum Erzählen. Deshalb, lieber Herr Professor Hütter: Das Konzept der Dauerausstellung geht auf. Es will ja, dass Menschen und Generationen miteinander ins Gespräch kommen, dass sie erzählen aber hoffentlich auch immer wieder zuhören.

Museen sind Speicher des kulturellen Gedächtnisses, schreibt Karl Schlögel in seinem gerade erst erschienenen Buch über das untergegangene sowjetische Imperium. An ihren Exponaten und der Art, in der sie präsentiert werden, lasse sich Zeit vergegenwärtigen, die vergangene ebenso wie diejenige, in der wir aktuell leben. So will eine Nation, eine Stadt sich selbst gesehen wissen, schreibt er. So soll ein Bild von sich in die Welt hinausgeschickt oder zumindest in den Köpfen der Besucher verankert werden. Schlögel vergleicht Museen mit Zeitkapseln oder Zeitmaschinen, egal, ob es sich um eher konventionelle Ausstellungen handelt oder um Museen, die auf dem allerneuesten technischen Stand sind, mit laufenden Bildern, Audioguides oder EVA, dem sprechenden Service-Roboter.

Warum beschäftigen wir uns mit Geschichte? Oder anders gefragt: Warum beschäftigt sie eigentlich uns? Der amerikanische Historiker Timothy Snyder hat sich vor nicht allzu langer Zeit gefragt, was sie uns lehren kann und ist zu dem Schluss gekommen, dass sie uns zu denken lehrt.

Indem wir uns damit beschäftigen, was war, denken wir darüber nach, was hätte sein können. Historisch zu denken, schult unsere politische Imagination. Es macht uns misstrauisch gegenüber Denksystemen, die vorgeben, es führe nur ein unvermeidlicher Weg zu einem einzigen, und dazu noch vorgegebenen Ziel. Die Auseinandersetzung mit Vergangenem lässt uns erkennen, dass nichts völlig neu ist, aber auch nichts wirklich vergangen. Wer historisch denkt, so sagt Snyder, wird auch von dem, was ihn in der Zukunft erwartet, nicht völlig überrascht werden, weil er gelernt hat, dass die Geschichte eben Abzweigungen, Umwege und Sackgassen kennt. Und der wird sowohl gelassener als auch erfinderischer, wenn die Gegenwart ihn mal auf ganz neue, auf ganz unbekannte Pfade lenkt.

Snyder versteht seine Aufforderung zu historischem Denken auch als Mahnung. Wir sollen uns nicht zu sicher sein. Die Geschichte endet nicht. Sie führt die Staaten dieser Welt nicht auf den geraden Weg in die Demokratie, so gut uns diese Vorstellung auch gefallen mag. Dagegen lehrt sie uns, die wir in einer liberalen Demokratie leben, dass diese Errungenschaft nicht mit einer Ewigkeitsgarantie versehen ist. Wir sollen, besser gesagt, wir müssen kritisch bleiben. Das heißt auch, dass wir nicht aufhören können, unseren Umgang mit der eigenen Geschichte und mit den politischen Schlüssen, die wir daraus ziehen, immer wieder zu hinterfragen.

Wer die Demokratie erhalten will, muss zu allererst verstehen, warum er das will. Er muss verstehen, warum wir uns nach dem Scheitern der Weimarer Republik, der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und dem Zivilisationsbruch der Shoah die parlamentarische Demokratie als Staatsform gewählt haben. Er sollte verstehen können, wie diese Erfahrungen unsere Verfassung formten, und wie wir mit diesem Grundgesetz, erst in der Bonner, später in der Berliner Republik, gut und immer besser gelebt haben. Wer die Demokratie verteidigen und erhalten will, sollte schließlich verstehen, dass sie im Ostteil unseres Landes erkämpft worden ist und die Erinnerung gerade daran wach halten. Den Bürgerinnen und Bürgern der ehemaligen DDR steht, wie der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, einmal gesagt hat, das kaum zu überschätzende und alleinige Verdienst zu, allen Deutschen das einzigartige und berauschende Gefühl selbsterkämpfter Freiheit geschenkt zu haben.

Diese Ausstellung hilft uns, die Wege zu verstehen, die wir gegangen sind: von der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa über den Fall der Mauer bis zu den Herausforderungen der Gegenwart, den Flüchtlingsbewegungen, ausgelöst durch Hunger, Kriege und Terror in der unmittelbaren Nachbarschaft Europas. Und diese Ausstellung – gerade mit dem Blick auf die Alltagsgeschichte, die wir gerade gesehen haben – regt uns an, genau darüber ins Gespräch miteinander zu kommen.

Wer diese Wege nachvollzieht, der erkennt, dass die Geschichte einer Nation oder eines Landes kein Solitär ist. Sie passt nicht in eine Vitrine. Deutsche Geschichte ist und war immer auch europäische Geschichte. Der Fall der Berliner Mauer etwa wäre ohne die schon bestehende Einbindung in euroatlantische Strukturen, ohne die damalige Weitsicht unserer transatlantischen Partner, nicht denkbar gewesen. Sie wäre aber auch nicht denkbar gewesen, ohne die Freiheitsbewegungen Osteuropas und die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten wäre nicht ohne die Reformbemühungen Michail Gorbatschows, den ich gerade vor drei Wochen nochmal in Moskau gesehen habe.

Wer sich schließlich für einen Moment den Raum vorstellt, durch den all diese Wege geführt haben, der wird daraus möglicherweise den Schluss ziehen, dass das historische Europa größer ist als das politische, und dass – besonders für uns Deutsche – die Verpflichtung vor der Geschichte nicht an der Ostgrenze der Europäischen Union endet.

Vor allem aber wird die Verknüpfung von jüngster Vergangenheit und Gegenwart dem Besucher die Frage aufgeben, welche Verpflichtung Deutschland auf diesem Weg seit 1945 zugewachsen ist und welche Verantwortung es für die Zukunft der Europäischen Union trägt.

Die Welt um uns herum verändert sich und das Tempo, dass sie dabei zuweilen vorlegt, stellt unseren Wahrnehmungsapparat, vor allen Dingen aber – das stellen wir gerade fest – unsere Reaktionsfähigkeit vor große Herausforderungen. Wer Auto fährt, der weiß, dass eine gute Orientierung bei hohem Tempo unerlässlich ist. Wer sich in der Geschichte auskennt, findet in ihr Orientierungshilfe auch für die Gegenwart. Er weiß, dass die Globalisierung keineswegs nur eine Erfindung des Internets ist, er erkennt Gefahren, aber ich bin mir sicher, er erkennt auch Handlungsmuster und -optionen.

Es hilft gelegentlich, von Zeit zu Zeit zurückzublicken, gerade auch, um den Blick nach vorn, um den Blick in die Zukunft zu schärfen. Und es ist hilfreich, sich der guten Führung eines Museums wie hier im Haus der Geschichte anzuvertrauen.

Ich gratuliere allen, die für diese Wiedereröffnung hart gearbeitet haben. Ich danke Ihnen für das Lernen, das Sie uns allen damit ermöglichen, die Orientierungshilfe, die Sie uns schenken und ich wünsche Ihnen viele und zufriedene Besucher.