Diskussionsveranstaltung im Asan Institute for Policy Studies

Schwerpunktthema: Rede

Seoul/Korea, , 9. Februar 2018

Der Bundespräsident hat am 9. Februar im Asan Institute for Policy Studies in Seoul eine Ansprache gehalten: "Nur im Dialog haben Entspannung, und letztlich Frieden und Einheit überhaupt eine Chance. Und wer im Dialog ernsthaft nach Lösungen sucht, der muss einerseits den politischen Druck aufrechterhalten, aber immer wieder auch Vorstellungen und Vorschläge für eine bessere Zukunft einbringen und entwerfen. Der muss den Status quo überwinden wollen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache am Asan Institute for Policy Studies in Seoul

Es ist mir eine besondere Freude, heute hier zu sein, bei einer der weltweit anerkanntesten Denkfabriken zu Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik.

Mein Besuch in Korea fällt in eine ganz besondere Zeit. Heute Abend werden die 23. Olympischen Winterspiele in Pyeongchang feierlich eröffnet. Spiele, die in der altgriechischen Tradition immer schon mit der Idee des Olympischen Friedens verbunden waren. Und gerade hier, auf der koreanischen Halbinsel mit ihren sehr realen Bedrohungen, und gerade in diesen Tagen, nach einem spannungsgeladenen Jahr für die gesamte ostasiatische Region, kommt der Gedanke an den Olympischen Frieden gerade zur rechten Zeit. Auch wenn er an der unmittelbaren Lage nur wenig ändert, ermöglicht uns der olympische Gedanke – immerhin für einige Wochen – einen Perspektivwechsel und er kann vielleicht sogar neue Hoffnung hinterlassen.

Für die Republik Korea ist der Olympische Friede keine neue Erfahrung. Bereits 1988 hat Ihr Land die Sportwelt zu den Sommerwettkämpfen nach Seoul eingeladen. Zur selben Zeit wurde in meiner Heimat, im damals noch geteilten Deutschland, viel gesprochen über Solidarnosc in Polen, über Glasnost und Perestroika in der damals noch bestehenden Sowjetunion. Vor allem im Osten Deutschlands haben diese Ideen die Menschen zutiefst bewegt – sie gaben ihnen Mut, sie nährten ihre Hoffnung auf Reform und Veränderung. In meinem Teil des Landes, im damaligen Westen, ahnten zu dieser Zeit wohl nur die wenigsten, dass die Teilung bald überwunden sein würde.

Hier in Korea kam der Olympische Friede von Seoul 1988 über ein Land, das sich in nur wenigen Jahrzehnten einen ganz beachtlichen Aufstieg erarbeitet hatte: von den Verwüstungen des Krieges und einer autoritären Form der Regierung hin zu einem erstaunlichen Maß an Freiheit und Wohlstand. Ihr Land hat aus eigener Kraft zur Demokratie gefunden und zählt bis heute zu den führenden Industrienationen – obwohl sich die ältere Generation noch sehr gut an Hunger und Flucht erinnern kann. Südkoreas Erfolgsgeschichte ist ein Lehrbuchbeispiel für gelungene, demokratische Entwicklung. Darauf können Sie hierzulande zu Recht stolz sein, und dazu will ich Sie ganz ausdrücklich beglückwünschen.

In meiner Heimat kam es dann wesentlich schneller als von den meisten erwartet zur historischen Umwälzung. Waren 1988 bei den Spielen von Seoul und Calgary noch zwei deutsche Olympia-Delegationen angetreten, so reisten dann 1992 wieder gesamtdeutsche Teams nach Barcelona und Albertville. In der Zwischenzeit hatten die Bürger im Osten Deutschlands in einer friedlichen Revolution das eingefordert, was manche heute als selbstverständlich ansehen mögen: ihr unveräußerliches Recht auf Freiheit, Demokratie – und auch das, die Chance auf Wohlstand.

Und sie hatten Erfolg: Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer unter dem unermüdlichen Druck des Protests – und das ganz friedlich und ohne Blutvergießen. Bereits elf Monate später war die deutsche Wiedervereinigung politische Realität – auch deshalb, weil die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs meinem Land neues Vertrauen schenkten. Berlin, die deutsche Hauptstadt, wurde vom Symbol des geteilten Europa zu einem Symbol für seine friedliche Vereinigung.

Die mörderische Mauer quer durch Berlin, sie hatte die Stadt für mehr als 28 Jahre geteilt, genauer: für 10.316 Tage. Es waren über 10.000 Tage, die Familien trennten und sich tief in die Biografien auf beiden Seiten einbrannten. Es war schwer, sich unser Land ohne diese Mauer vorzustellen, ohne Todesstreifen und Selbstschussanlagen. Für die, die mit alldem aufgewachsen waren, war das schon Alltag.

Seitdem sind nun abermals gut 28 Jahre ins Land gegangen. Seit vier Tagen, seit dem 5. Februar, ist die Mauer nun schon länger Geschichte, als sie zuvor Realität der Teilung war. Für uns Deutsche brachte ihr Fall zunächst Tage der Freude und der Erleichterung. Aber bald zeigte sich, vor uns lagen auch Jahre harter Arbeit mit dem Ziel des Zusammenwachsens unseres Landes, für viele Ostdeutsche verbunden mit tiefgreifenden Brüchen, sicherlich mit vielen neuen Freiheiten, aber auch Entbehrungen und Enttäuschungen, insbesondere mit dem Wegfall von Arbeitsplätzen. Für Deutschland war die Wiedervereinigung jedenfalls nicht das Ende der Geschichte, sondern der Beginn eines neuen, aufregenden und für die meisten Deutschen auch sehr erfolgreichen Kapitels.

Wenn ich Ihnen heute von diesen zweimal 10.000 Tagen erzähle, dann möchte ich damit vor allen Dingen eines sagen: Die Geschichte ist offen. Und deshalb lohnt es sich, die Hoffnung nicht aufzugeben.

Hoffnung zu haben, ist eben nicht naiv und realitätsvergessen, sondern im Gegenteil: In der Hoffnung lebt der Wille, Realität zu verändern. Dafür jedenfalls stehen meine ostdeutschen Landsleute, die – vor und nach dem Mauerfall – Mut zur Veränderung bewiesen haben.

Nun weiß ich, dass die Situation in Korea eine ganz andere ist. Die Gemeinsamkeit des Teilungsschicksals darf nicht den Blick darauf verstellen, dass es hier eine noch ganz andere Dimension der Herausforderung gibt, vor der Korea und insbesondere Sie hier im Süden heute stehen. Die andere Dimension ist geprägt von zwei Tatsachen. Erstens der, dass Sie nun schon mehr als 70 Jahre der Teilung hinter sich haben und zweitens auch der, dass die militärische und nun auch nukleare Bedrohung nicht abstrakt, sondern unmittelbar und allgegenwärtig ist.

Ich bin überzeugt, dass es ohne die Aufrechterhaltung von politischem und ökonomischem Druck nicht geht. Ich bin überzeugt, dass es dieses Druckes bedarf, um echte Dialogbereitschaft herzustellen. Das haben mir meine Erfahrungen aus den Verhandlungen mit dem Iran gezeigt, an denen ich acht Jahre beteiligt war. Aber wahr ist auch: Nur im Dialog haben Entspannung, und letztlich Frieden und Einheit überhaupt eine Chance. Und wer im Dialog ernsthaft nach Lösungen sucht, der muss einerseits den politischen Druck aufrechterhalten, aber immer wieder auch Vorstellungen und Vorschläge für eine bessere Zukunft einbringen und entwerfen. Der muss den Status quo überwinden wollen. Der braucht, kurz gesagt, immer beides – Hoffnung und Mut.

Die Lage in Ostasien ist so angespannt wie selten zuvor – und zugleich komplexer denn je. Alte Gewissheiten sind infrage gestellt, schauen wir etwa auf die neue Diskussion, die wir in Deutschland und Sie in Korea mit den USA über die Zukunft des Freihandels haben. Zugleich versprechen neu erstarkende Mächte wie China und Russland Wohlstand und Sicherheit, allerdings ohne Freiheit und ohne demokratische Selbstbestimmung. Gerade China tritt immer selbstbewusster auf und stellt die internationale Gemeinschaft – ganz besonders die Republik Korea – vor grundlegende Fragen der regionalen Sicherheitsstruktur. Auch das Verhältnis zwischen den demokratischen Nachbarn Südkorea und Japan war in den letzten Jahren – das haben wir auch aus Deutschland beobachtet – nicht frei von Misstönen und Konflikten, ganz unabhängig von den grundlegenden Gemeinsamkeiten, die es sicher gibt in diesen zwei Staaten und von denen ich hoffe, dass sie auch weiter intensiv gesucht und gepflegt werden. Vor allen Dingen aber lässt die nukleare Aufrüstung in Nordkorea jeden Gedanken an eine Wiedervereinigung oder auch nur einen bedeutungsvollen nachhaltigen Dialog zum gegenwärtigen Zeitpunkt als Träumerei erscheinen.

Aber gerade deshalb erinnere ich heute an die prinzipielle Offenheit der Geschichte – und an den Willen, eine bessere Zukunft zu entwerfen. Wenn es diesen Willen hier in Korea nicht gibt, dann gibt es ihn anderswo noch viel weniger. Ich weiß natürlich, dass jegliches Szenario für ein friedliches und eines Tages wiedervereintes Korea nur dann Hoffnung auf Realisierung hat, wenn es die außenpolitische Stabilität der Region gewährleistet. Deshalb habe ich anlässlich meines Besuchs 2014 bereits eine Beratergruppe ins Leben gerufen, die sich insbesondere mit den außenpolitischen Fragen der Wiedervereinigung befasst. Aber wenn ich heute nur eine Botschaft mitbringen darf, dann ist es diese: Das größte und ehrlichste Interesse an einer friedlichen Wiedervereinigung werden immer die Koreaner selbst haben. Wenn die Hoffnung einen Ort braucht, dann ist er hier.

Ich würde mich freuen, wenn wir dazu miteinander ins Gespräch kämen. Ich kann mir keinen besseren Moment für diese Diskussion vorstellen, als den heutigen Tag: Den Tag, an dem koreanische Athleten unter einer gemeinsamen Flagge ins Stadion zur Eröffnung der Spiele einziehen wollen.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und bin gespannt auf den Austausch mit Ihnen.