Antrittsbesuch in Nordrhein-Westfalen: Abendessen mit dem Ministerpräsidenten

Schwerpunktthema: Rede

Aachen, , 12. März 2018

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 12. März während seines Antrittsbesuchs in Nordrhein-Westfalen bei einem Abendessen mit dem Ministerpräsidenten, Armin Laschet, im Rathaus der Stadt Aachen eine Ansprache gehalten: "Aber dann gibt es mit Nordrhein-Westfalen so etwas wie ein Brennglas der ganzen Republik. Ob es der tiefgreifende Strukturwandel in der Industrie ist oder ob es die großen Herausforderungen rund um das Thema Integration sind. Hier im bevölkerungsreichsten Bundesland sind Veränderungsprozesse ganz besonders gründlich sichtbar. Und das gilt in jeder Hinsicht."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache im Krönungssaal des Aachener Rathauses anlässlich des Antrittsbesuchs in Nordrhein-Westfalen

Es ist schön, von hier aus diesen schön gefüllten und festlich hergerichteten Krönungssaal zu sehen. Aber ich darf Ihnen versichern, lieber Herr Laschet, meine Damen und Herren, es ist wirklich eine ganz besondere Ehre, hier zu sein, und wir werden die Wertschätzung, die Sie uns mit diesem festlichen Empfang und dem Abendessen angedeihen lassen, sehr genießen.

Sie haben gemerkt: Dieses Mal war meine Ankündigung, dass ich komme, wirklich ernst gemeint. Sie war es auch beim letzten Mal, denn man hätte es Nordrhein-Westfalen ja eigentlich nicht zumuten können, dass der Bundespräsident erst seine 15. Station bei den Antrittsbesuchen in Nordrhein-Westfalen macht.

Es war auch ganz anders geplant, aber just an dem Abend, als ich mich aufmachen wollte Richtung Düsseldorf, wehte eine kalte Atlantikfront aus Jamaika zu uns herüber und die Verhandler machten zunächst einmal in Reaktion auf diese Kaltwetterfront die Schotten dicht. Und Sie haben alle miteinander verfolgt, was dann stattfand.

Ich glaube, es war richtig, zunächst mal die folgenden Tage in Berlin zu verbringen, und dafür zu werben, dass die Neuwahl jedenfalls nicht erste Priorität aus Artikel 68 Grundgesetz ist. Und dass diejenigen, die sich haben wählen lassen, die Verantwortung übernommen haben, und sich Mühe zu geben haben, dass eine Regierung zustande kommt.

Ich weiß nicht, wie Sie es empfunden haben, aber vermutlich geht es Ihnen ähnlich wie mir. Sie haben auch die Phase der Verunsicherung, die Phase wachsender Ungeduld bei den Menschen um Sie herum gespürt. Und deshalb sage ich: Ich bin froh darüber, dass diese Phase der Verunsicherung vorbei ist, und dass wir dann sehr wahrscheinlich nächste Woche eine neue Bundesregierung haben werden. Und die Tatsache, dass das so ist, und ich mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, gibt auch den Raum, diesen versäumten und verschobenen Besuch vom November jetzt endlich nachzuholen.

Wir holen diesen festlichen Abend nach. Und wir holen den Besuch eines Gotteshauses nach, das wahrscheinlich wie nur wenige andere in Europa Geschichte schrieb: der Aachener Dom. Und sich dessen zu vergewissern, das ist wichtig in einer Zeit, in der viele auch in Deutschland viel zu leichtfertig über Europa reden. Ich finde, dass wir das, was uns in Europa miteinander gelungen ist, nicht genügend wertschätzen.

Nur mit und dank diesem Europa ist uns in einer Region der Welt, die drei Jahrhunderte von Kriegen und Bürgerkriegen beherrscht war, zum ersten Mal eine Phase von über 70 Jahren Frieden miteinander gelungen. Diese Wertschätzung zu behalten, dafür zu sorgen, dass diese Phase möglichst auf ewig in die Zukunft verlängert wird, das ist die Aufgabe derjenigen, die heute Verantwortung tragen in der Politik. Dafür werbe auch ich selber.

Heute und morgen darf ich dann, wenn ich das so sagen darf, mein Bundesland Nordrhein-Westfalen besuchen. Und wenn ich so ein bisschen zurückblicke auf die anderen, vorher stattgefundenen Besuche, die meine Frau und ich absolviert haben, kann ich sicher sagen: Wir haben bisher aus jedem Bundesland Eindrücke mitgenommen, die uns in Erinnerung bleiben werden. Ob West oder Ost, ob ganz im Norden oder im Süden – Deutschland hat nicht nur viele Landschaften, Eigenheiten, Dialekte, sondern was uns ganz besonders ins Auge gefallen ist, eben auch ganz unterschiedliche Schwerpunkte und Stärken.

Aber wir haben eine große gemeinsame Stärke, die ich hervorheben will und die wir aus meiner Sicht ein bisschen zu häufig als selbstverständlich betrachten. Und das ist die Fähigkeit von Menschen, an mehr zu denken als nur an sich selbst.

Wir haben das in verschiedenen Bundesländern, bei verschiedenen Gelegenheiten gesehen. Wo immer eine Herausforderung auftaucht, da finden sich ganz viele, die nicht auf den Staat warten, sondern selbst nach Lösungen suchen. Wir haben Schülerinitiativen getroffen. Wir haben Nachbarschaftsvereine getroffen, die Flüchtlingen beim Ankommen helfen und dabei, sich an die neue Situation zu gewöhnen. Wir haben Gedenk- und Geschichtsprojekte gesehen, wir haben Kulturhäuser in Bürgerhand besucht, Unternehmer mit Gemeinsinn und Betriebsräte, Menschen, die im Altersheim vorlesen, Menschen, die sich um die Kinder der alleinerziehenden Nachbarin kümmern und solche, die Sterbende in den letzten Stunden ihres Lebens begleiten. Menschen, ich wiederhole es gern, die an mehr denken, als nur an sich selbst.

Selten habe ich das so intensiv gespürt wie jetzt bei diesen Antrittsreisen. Unsere Demokratie ist weit mehr als eine Rechtsordnung. Sie ist für viele ein jeden Tag erfahrbares Lebensprinzip. Und das verbindet uns in Deutschland. Trotzdem kann ich schon jetzt sagen: Der Besuch in Nordrhein-Westfalen ist und bleibt für uns, meine Frau und mich, etwas ganz Besonderes. Nicht nur, weil wir beide in Nordrhein-Westfalen geboren und aufgewachsen sind. Nicht nur, weil der Bundespräsident in Nordrhein-Westfalen – genauer gesagt in Bonn – seinen zweiten Amtssitz hat, sondern – wenn ich es verkürzt sagen darf – es ist der Charakter dieses Landes, der den Unterschied macht.

Es sind ja nicht nur Rheinländer, Westfalen und Lipper, die vor über 70 Jahren zusammen finden mussten – und sich darum täglich bemühen. Es sind nicht nur romantisches Rheintal und herber Ruhrpott, nicht nur Münsterland und Sauerland, nicht nur Borussia Dortmund und Schalke 04, nicht nur Katholiken und Protestanten, die miteinander klar kommen müssen. Sondern auch Einwanderer aus Polen, Portugal, Griechenland, vor allem aus der Türkei, darunter sehr viele Muslime. All die prägen inzwischen seit Jahrzehnten dieses Land.

Ländliche Räume mit Bevölkerungsschwund und Ballungsräume – das liegt hier in Nordrhein-Westfalen alles nicht weit auseinander. Und in den grenznahen Räumen wie hier ist Europa ein großes, ein ständiges Thema. Und Köln ist sowieso eine Sache für sich. Der liebe Gott hat dieses Land reich beschenkt. Eigentlich gibt es nichts, was es hier nicht gibt.

Aber dann gibt es mit Nordrhein-Westfalen so etwas wie ein Brennglas der ganzen Republik. Ob es der tiefgreifende Strukturwandel in der Industrie ist oder ob es die großen Herausforderungen rund um das Thema Integration sind. Hier im bevölkerungsreichsten Bundesland sind Veränderungsprozesse ganz besonders gründlich sichtbar. Und das gilt in jeder Hinsicht.

Der Ministerpräsident und ich waren heute Nachmittag an der RWTH Aachen. Diese Technische Universität mit ihren heute mehr als 44.000 Studierenden ist nicht nur – noch vor München – die größte technische Ausbildungs- und Forschungsstätte Deutschlands. Sie hat eine lange, große und größer werdende Tradition. Gegründet 1870, zwei Jahre nach der TU München, ist auch sie, wenn man so will, ein Kind der industriellen Revolution und hat den Aufstieg Deutschlands zu einem weltweit führenden Industrieland mit vorgeprägt und mit begleitet.

Absolventen dieser Hochschule habe ich auf meinen Reisen an vielen Orten der Welt getroffen. Oft sind es solche Leute, die nicht nur in Deutschland, sondern eben inzwischen auch in ihren Heimatländern Fortschritt und Strukturwandel gestalten. Und diejenigen, die von hier kommen, sie sind im besten Sinne Botschafter für unser Land auf nahezu allen Kontinenten der Welt. Ob in der Elektrotechnik oder Informationstechnik, ob in der Wirtschaftswissenschaft oder der Naturwissenschaft, überall spielen Forscher der RWTH in der Weltliga. Ihr Ruf, das darf man so sagen, auch nach dem heutigen Nachmittag, ist mittlerweile legendär! Wir haben auf dem Campus heute sehen können, mit welcher Dynamik gerade im Bereich der Elektromobilität im Augenblick hier in Aachen geforscht, entwickelt und gebaut wird. E-Mobilität Made in Aachen – das ist schon jetzt eine Erfolgsgeschichte.

Heute Nachmittag haben wir die beginnende Serienproduktion des E-Scooters gesehen, eines batteriebetriebenen Lieferfahrzeugs, von dem wir gehört haben, das schon etwa drei- bis viertausend in der täglichen Nutzung sind. Das zeigt eben, dass dieser Standort überzeugend an neuen, zukunftsfähigen Mobilitätslösungen arbeitet. Die Umstellung von Liefer- und Busverkehren in den Innenstädten auf emissionsarme Flotten hilft uns, die im Augenblick viel diskutierte Luftbelastung mindestens zu vermindern. Zumal in einer Zeit des expandierenden Internetversandhandels. Logistikunternehmer, Entwickler und Kommunen können hier in Aachen schon in nächster Zeit wirklich Zeichen setzen.

Gelungener Strukturwandel – dafür gibt es viele, ganz viele Beispiele in Nordrhein-Westfalen. Es wachsen Unternehmen – auch darüber haben wir heute Morgen im Kabinett gesprochen –, die die Digitalisierung in der Industrie einführen, die in der Logistik, im Prozessmanagement und der Produktionssteuerung Mensch-Maschine-Interaktionen revolutionieren.

Strukturwandel – wen wundert es – steht nicht still. Er verändert uns, er verändert Nordrhein-Westfalen. Es gibt viele gelungene Beispiele, aber es gibt eben auch Orte, an denen noch viel zu tun ist. Ich werde später im Jahr wieder hier im Lande sein, um bei der Schließung der letzten aktiven Steinkohlezeche Prosper-Haniel in Bottrop dabei zu sein. Um die Geschichte des Kohlebergbaus, seinen Beitrag zum wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes und natürlich auch die Phase des Übergangs zu würdigen. Und ich sage betont: zu würdigen. Nicht feiern. Denn mit Ende dieser Ära geht mit Blick auf Arbeit, Auskommen und soziale Bindungen, die der Bergbau für Jahrzehnte in die Region gebracht hat, für viele Menschen auch etwas von den alten Gewissheiten, mit denen man gerne gelebt hat, zu Ende.

Und deshalb – wem sage ich das, hier weiß man das – müssen wir uns überall in Deutschland sehr anstrengen, damit Innovationen, neue Wertschöpfung, neue Arbeit und damit immer wieder Perspektiven für die nachwachsenden Generationen entstehen können.

Bevor wir übrigens vorhin zu Ihnen hier in den Krönungssaal gekommen sind, durften wir noch eine Führung des Domprobstes durch den Aachener Dom, inklusive Schatzkammer, genießen. Und morgen in Duisburg-Marxloh werden wir die sogenannte Taskforce Schrottimmobilien treffen. Hier die Schatzkammer, dort die Taskforce Schrottimmobilien – was für ein Kontrast.

Aber dieser Kontrast, diese unterschiedlichen Seiten, das, was glänzt, und das, wo noch viel zu tun ist, all das gehört eben hinein in unser Blickfeld. Natürlich ist die Wirtschaftslage in Deutschland seit Jahren ausgesprochen gut. Da gibt’s im zwölften Jahr hintereinander solides Wachstum, wie das in keinem anderen europäischen Staat notiert werden kann. Doch sollten wir sensibel bleiben für die sozialen Gegensätze, die immer noch eine beachtliche Zahl von Menschen beunruhigen. Die Menschen verstehen nicht, wenn bei besten Wirtschaftszahlen, von denen ich eben sprach, gelegentlich dann doch die Toiletten in den Schulen marode sind. Und sie verstehen nicht, wenn trotz sinkender Arbeitslosigkeit und steigender Löhne in manchen Regionen sogar die Kinderarmut wächst.

Das ist nicht Frage nur einzelner Parteien, sondern ich glaube, demokratische Politik muss Antworten geben und muss zeigen, dass sie unter sich immer wieder verändernden Bedingungen das bewahren kann, was ich soziale Balance nenne. Ich bin froh, dass das inzwischen als gemeinsame Aufgabe verstanden wird. Und ich bin auch froh, dass Nordrhein-Westfalen sich dieser Aufgabe angenommen hat.

Ich bin Ihnen, Herr Ministerpräsident, ausdrücklich dankbar, dass Sie auf meinen Wunsch hin Orte in unserem Besuchsprogramm berücksichtigt haben, die vielleicht nicht typischerweise überall in einem Antrittsbesuch gezeigt werden. Wir – und damit meine ich alle Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft – wir müssen noch genauer dahin schauen, wo es ganz offenbar nicht rund läuft. Einladungen zu Vorzeigeprojekten erhalten wir vermutlich alle, und zwar reichlich. Die sind auch wichtig, wir müssen uns vergewissern, wir müssen auch zeigen, was uns in Deutschland gelingt.

Doch genauso wichtig ist eben auch Wahrnehmung der Aufgaben, die wir miteinander noch nicht bewältigt haben, um Aufmerksamkeit für die Menschen zu zeigen, die sich vor Ort persönlich engagieren, dort wo Engagement auf die größten Schwierigkeiten trifft und dort, wo es am meisten gebraucht wird. Ich meine die Menschen, die eben nicht als Schaulustige am Spielfeldrand stehen, sondern diejenigen, die selbst auf den Platz kommen und etwas bewegen. Sie tun es dort, wo alte Industrien verschwinden, neue Arbeitsplätze aber noch rar sind, wo Stadtbad und Theater gefährdet sind, wo Kommunen angespannte Finanzen haben und wo doch große Integrationsleistungen gerade jetzt erbracht werden müssen. Gerade dieses Engagement von Menschen, die es nicht tun müssen, das ist so großartig und verdient unseren Respekt!

Und diesen Respekt verdienen auch gerade die, die mit großer Zuverlässigkeit jeden Tag an den über 3.000 Tafeln Lebensmittel ausgeben. Ich kann und will auch gar nicht per Ferndiagnose den viel diskutierten Essener Fall diskutieren. Ich bitte nur alle die, die sich ihr Urteil sehr schnell gemacht haben, darüber nachzudenken, zu berücksichtigen, dass die Helfer der Tafel überall in Deutschland eben nicht professionelle Sozialmanager sind, sondern das sind 60.000 Menschen, die die Not anderer berührt, und die schlicht und einfach da sind, wo sie gebraucht werden. Wo es zu einer Konkurrenz von Bedürftigen kommt, brauchen die Tafeln aus meiner Sicht Orientierung und Unterstützung, und das heißt: eher Beratung als Empörung.

Nordrhein-Westfalen ist ein großes, ein vielfältiges, ein schönes Land. Es steht für Veränderung, Mut und immer wieder Neuanfang. Was hier gelingt, gibt Beispiel anderswo. Deshalb, nicht nur im Interesse der Menschen hier in Nordrhein-Westfalen, Ihrer Landsleute, meiner Landsleute, sondern im Interesse ganz Deutschlands wünsche ich Ihnen allen, die Verantwortung tragen, gutes Gelingen, eine glückliche Hand und einen schönen Abend! Herzlich willkommen!