Antrittsbesuch Rheinland-Pfalz: Festakt 225 Jahre Mainzer Republik

Schwerpunktthema: Rede

Mainz, , 19. März 2018

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat bei der Festveranstaltung 225 Jahre Mainzer Republik am 19. März eine Ansprache gehalten: Die Geschichte erinnert uns daran, dass eine Demokratie aufhört, Demokratie zu sein, wenn sie sich über ihre liberalen Grundlagen hinwegsetzt. Demokratie bleibt nicht Demokratie ohne Menschen- und Bürgerrechte, ohne die Herrschaft des Rechts und den Schutz von Minderheiten – auch wenn manche heute, sogar in Europa, das Gegenteil behaupten.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält bei der Festveranstaltung "225 Jahre Mainzer Republik" im Landtag eine Rede anlässlich des Antrittsbesuchs in Rheinland-Pfalz

In den vergangenen zwölf Monaten habe ich viele Orte in ganz Deutschland besucht, an denen mutige Männer und Frauen zu unterschiedlichen Zeiten für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte gestritten haben. Ich war in Herrenchiemsee, in Rastatt und gerade in Hambach, in der Dresdner Frauenkirche und an der Berliner Mauer, aber auch an weniger bekannten Plätzen und Stätten in allen Bundesländern, an denen Menschen es gewagt haben, frei zu denken und als Bürger selbstbewusst zu handeln.

Hier in Mainz geht diese besondere Deutschlandreise heute zu Ende, und es ist kein Zufall, dass ich bei Ihnen nun ganz am Anfang unserer wechselvollen Freiheits- und Demokratiegeschichte angekommen bin. Die Mainzer Republik, die vor 225 Jahren vom Balkon des Deutschhauses ausgerufen wurde, sie markiert den Beginn des schwierigen deutschen Wegs zur parlamentarischen Demokratie. Es war, wie wir wissen, ein krummer und steiniger Weg, und das frühe demokratische Experiment in dieser Stadt steht in einzigartiger Weise für seine Widersprüche, Brüche und Rückschläge.

Ich bin überzeugt, nur ein differenziertes und kritisches Gedenken kann dazu beitragen, die demokratische Tradition unseres Gemeinwesens zu stärken. Wenn wir heute an die Mainzer Republik erinnern, dann erinnern wir uns an beides: an die erste freiheitliche und demokratische Bewegung, die es auf deutschem Boden gab, aber auch an die Schattenseiten des Regimes, das die Mainzer Demokraten dann mit Hilfe der französischen Besatzungskräfte ins Leben riefen.

Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie sich in Mainz und in Rheinland-Pfalz seit einigen Jahren verstärkt dafür einsetzen, die Erinnerung an diesen spannenden, aber auch ambivalenten Prolog der deutschen Demokratiegeschichte wachzuhalten. Ich wünsche mir, dass Sie auf diesem Weg weitergehen und auch neue Ideen für ein lebendiges Gedenken ausprobieren. Und ich freue mich sehr, heute Abend bei Ihnen zu sein.

Im Herbst des Jahres 1792, kurz nachdem französische Revolutionstruppen Mainz besetzt hatten, versuchten einige Bürger dieser Stadt, die Menschen in der Region zwischen Landau und Bingen für die Demokratie zu begeistern. Einer dieser Bürger war Georg Wedekind, der ehemalige Leibarzt des Kurfürsten, der nun als Präsident der Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit auftrat. Immer wieder wandte er sich in jenen Monaten an seine Mitbürger, um sie für die Annahme einer demokratischen Verfassung nach dem Vorbild der französischen Republik zu gewinnen.

Liebe Mainzer, […], schrieb Wedekind Ende November 1792, wenn ihr überzeugt seid, dass eure vorige Verfassung euer Menschenglück […] nicht erhöhte […], o so tut doch alles, um bald wieder unter Gesetzen, die ihr euch selbst gebt, unter Magistraten, die ihr selbst wählt, glücklich und glücklicher zu sein, als ihr nie wart. […] Zieht doch die edle Tätigkeit eines freien Bürgers einer […] durch sklavische Furcht erkauften Sicherheit vor.

Wie schön ist sie hier formuliert, die Sehnsucht nach Demokratie – von einem, der sie noch nie erlebt hat! Wedekind und seine Mitstreiter, allesamt begeisterte Anhänger der Aufklärung, sahen damals die historische Chance gekommen, unter dem Waffenschutz der französischen Truppen die Ideen von 1789 auch auf deutschem Boden zu verwirklichen. Sie wollten die Ketten der ständischen Ordnung sprengen und von Untertanen zu Bürgern werden.

Und um dieses Ziel zu erreichen, starteten sie eine wirklich bemerkenswerte politische Kampagne: Sie diskutierten im Jakobinerklub öffentlich über Grundfragen von Staat und Gesellschaft, verteilten Flugschriften in Stadt und Land, publizierten Artikel in nicht weniger als sieben revolutionären Zeitungen, errichteten Freiheitsbäume und feierten Freiheitsfeste.

In keiner anderen Stadt des Heiligen Römischen Reiches gab es damals eine so breite Politisierung der Bürgerschaft wie in Mainz. Vieles von dem, was hier gedacht und geäußert wurde, hatte intellektuelles Gewicht, wies in die Zukunft und wurde von hier aus weitergetragen.

Georg Wedekind warb zum Beispiel für eine demokratische Republik, die auf unantastbaren Rechten des Menschen und des Bürgers beruhen sollte. Er wollte eine institutionelle Ordnung, die es möglich macht, Launen und Leidenschaften in vernünftige Bahnen zu lenken. In seinen Reden im Jakobinerklub entwarf er Wesenselemente einer modernen repräsentativen Demokratie – und hatte auch gleich einen ganz praktischen Rat an seine Mitbürger: Sie sollten doch bitte aufpassen, keine Tyrannen ins Parlament zu wählen, aber auch keine Schlafhauben.

All das blieb nicht ohne Wirkung. Ideen und Aktionen der Mainzer Jakobiner stießen über die besetzten Gebiete hinaus bei demokratisch gesinnten Kräften auf Gehör, und sie beeinflussten auch die liberale Bewegung des Vormärz. Vor allem der Mainzer Klubist Adam von Itzstein verkörpert die Kontinuität von der Mainzer Republik über das Hambacher Fest bis in die Frankfurter Paulskirche, wo 1848 die verfassunggebende Nationalversammlung der Deutschen Revolution zusammentrat.

Zur historischen Wahrheit gehört aber auch, dass es den Mainzer Jakobinern damals nicht gelang, das Volk in den besetzten Gebieten Rheinhessens und der Pfalz für die Volksherrschaft zu gewinnen, aller Leidenschaft und allen aufklärerischen Anstrengungen zum Trotz. Ihre liberale Idee, mit Argumenten und Überzeugungskraft zu einer demokratischen Republik zu gelangen, ging nicht auf. Die Mehrheit wollte diese Revolution nicht, aus ganz unterschiedlichen Gründen.

Was dann geschah, hat der Mainzer Historiker Franz Dumont als Despotismus der Freiheit bezeichnet. Die französischen Besatzer gingen dazu über, die Republik mit Zwang ins Werk zu setzen. Zeitgenössische Quellen berichten: Neben dem Freiheitsbaum wurden Galgen aufgestellt, und wer an den Wahlen zum Konvent teilnehmen wollte, der musste vorher einen Eid auf Freiheit und Gleichheit schwören.

Der Rheinisch-Deutsche Freistaat, der am 18. März 1793 ausgerufen wurde, war vor diesem Hintergrund noch keine mustergültige Demokratie. Aber sein Konvent, in dem sich erstmals gewählte Repräsentanten aus einigen Gemeinden der Region versammelten, war unbestreitbar Vorläufer eines modernen Parlaments und hat sich tief eingeschrieben in die deutsche Demokratiegeschichte.

Zur Geschichte der Mainzer Republik gehört auch ihr gewaltsames Ende. Nachdem preußisch-österreichische Truppen die Stadt zurückerobert hatten und die Franzosen abgezogen waren, nahmen viele der Geflohenen und Vertriebenen Rache an den Mainzer Jakobinern und an allen, die nur im Verdacht standen, mit den Besatzern zusammengearbeitet zu haben. Goethe, der die Belagerung von Mainz als Schlachtenbummler beobachtet hatte, sprach angesichts der Gewaltexzesse in der Stadt von einem bürgerlichen Krieg – heute würden wir wohl sagen: Bürgerkrieg.

Natürlich wäre es falsch, das politische Experiment, das die Mainzer Jakobiner damals in Gang setzten, einfach nach heutigen Maßstäben zu beurteilen. Aber es gilt doch festzuhalten, dass sie beim Versuch, ihre demokratischen und aufklärerischen Ideale zu verwirklichen, auch in Widerspruch zu eben diesen Idealen geraten sind. Als sendungsbewusste Minderheit fühlten sie sich im Recht, der Mehrheit im Namen der ewigen Vernunftgesetze ihre Wahrheit aufzuzwingen, und ihr Demokratieversuch trug Züge dessen, was man später eine Tugenddiktatur genannt hat.

Die Geschichte der Mainzer Republik und ihrer Protagonisten macht uns bewusst: Die Demokratie ist eine faszinierende, aber auch eine anspruchsvolle und voraussetzungsreiche Staatsform. Und sie ist eine Staatsform, die das Risiko der Selbstzerstörung in sich trägt, wenn Bürger aufhören, sich für die Demokratie zu engagieren, wenn sie aufhören, Verantwortung in den demokratischen Institutionen zu übernehmen oder antidemokratische Akteure einfach gewähren lassen.

Die Geschichte erinnert uns daran, dass eine Demokratie aufhört, Demokratie zu sein, wenn sie sich über ihre liberalen Grundlagen hinwegsetzt. Demokratie bleibt nicht Demokratie ohne Menschen- und Bürgerrechte, ohne die Herrschaft des Rechts und den Schutz von Minderheiten – auch wenn manche heute, sogar in Europa, das Gegenteil behaupten. Sie führt uns vor Augen, dass Vorsicht angebracht ist, wann immer politische Kräfte Glücks- oder Heilsversprechen abgeben – oder wenn sie von sich behaupten, im Namen des eigentlichen, des wahren Volkswillens zu handeln, wie wir das heute, unter ganz anderen Vorzeichen, auch in Deutschland und Europa wieder erleben müssen.

Nicht zuletzt lehrt sie uns, wie wichtig demokratische Institutionen sind, in denen der allgemeine Wille in repräsentativen Verfahren, durch Diskussion und Kompromiss, durch den friedlichen Ausgleich unterschiedlicher Interessen gebildet wird. Sie lehrt uns, dass demokratische Entscheidungen immer nur vorläufig endgültig sein dürfen, dass sie unter dem Vorbehalt stehen, zu einem späteren Zeitpunkt überprüft und gegebenenfalls korrigiert zu werden, und zwar ohne Blutvergießen.

Heute leben wir in Deutschland unter der besten Verfassung, die wir jemals hatten. Das haben wir auch denen zu verdanken, die sich in unserer Geschichte für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte, für die Ideen von 1789 eingesetzt haben, oft unter Einsatz ihres eigenen Lebens. Die Mainzer Jakobiner gingen ihnen voran – daran ändern auch ihre Widersprüche in Theorie und Praxis nichts.

Heute vor einem Jahr, als ich das Amt des Bundespräsidenten angetreten habe, da habe ich gesagt: Wir müssen wieder lernen, für die Demokratie zu streiten! Der Blick in unsere Geschichte zeigt auf einzigartige Weise, dass Einigkeit und Recht und Freiheit alles andere als selbstverständlich sind. Es ist an uns, diese historischen Errungenschaften mit Leben zu füllen und zu verteidigen, jeden Tag aufs Neue.

Auf meiner Deutschlandreise bin ich unzähligen Menschen begegnet, die unser demokratisches Gemeinwesen stärken und beleben, weil sie sich um mehr kümmern als nur um sich selbst, weil sie Verantwortung übernehmen in Kreisräten und Betriebsräten, in Stiftungen und Verbänden, Kindergärten und Hospizen, Sportvereinen und Kulturensembles, bei der Feuerwehr und in Hilfsorganisationen.

Ich bin Menschen begegnet, die sich für die Ausbildung von Flüchtlingen einsetzen oder Projekte gegen Fremdenfeindlichkeit organisieren, die Unterschriften sammeln, Spendenaufrufe im Internet starten oder sich in große gesellschaftliche Debatten wie #MeToo einmischen. Sie alle sorgen mit Klugheit, mit kreativen Ideen und viel Leidenschaft dafür, dass das Miteinander in unserer vielfältigen, offenen Gesellschaft gelingt oder dass sich die Verhältnisse zum Besseren wenden.

Ich finde, es ist ein großes Glück, in einem Land zu leben, das solche Bürgerinnen und Bürger hat! All die vielen, die sich einbringen und mit anpacken, die sich für das Gemeinwohl einsetzen, sie stimmen mich zuversichtlich. Denn sie sind es, die unsere Gesellschaft zusammenhalten.

Bei aller Freude über dieses vielfältige Engagement dürfen wir aber eins nicht vergessen: Unsere parlamentarische Demokratie ist auch auf Bürgerinnen und Bürger angewiesen, die sich zur Wahl stellen, die sich um Ämter und Mandate bewerben und die Politik zum Beruf – oder mindestens zum Nebenberuf – machen. Sie kann nur dann bestehen, wenn es Menschen gibt, die in Parteien, Parlamente und Regierungen gehen, um an der politischen Willensbildung mitzuwirken und die Dinge zu regeln, die uns alle angehen – von der Eurokrise bis zur Umgehungsstraße. Für die Demokratie zu streiten, das heißt für mich auch, für ihre politischen Formen und ihre repräsentativen Verfahren zu werben. Deshalb freue ich mich, dass meine Deutschlandreise hier bei Ihnen im Landtag endet.

Wir leben in einer Zeit, in der das Interesse für das Allgemeine, für das eigentlich Politische in manchen Teilen unserer Gesellschaft schwächer wird. Politische Parteien und andere Großorganisationen verlieren an Bindungskraft, und wir erleben eine Fragmentierung der Öffentlichkeit, nicht zuletzt durch die rasante Ausbreitung der neuen Medien. Wenn aber immer weniger Menschen über dasselbe sprechen, wenn sich immer weniger abends um das Lagerfeuer der Tagesschau versammeln, wenn insbesondere junge Menschen keine Tageszeitung mehr lesen, sondern sich in den Echokammern des Internets bewegen, wenn die Fähigkeit zum Kompromiss als Schwäche abgetan wird und diejenigen, die Verantwortung übernehmen, als Establishment verschrien werden, dann hat das Folgen für unsere repräsentative Demokratie.

Es gibt jedenfalls heute einige, die Parlamente wie diesen Landtag oder andere demokratische Institutionen gar nicht mehr als Orte für politische Lösungen ansehen wollen. Manche haben sich sogar angewöhnt, an eine Welt ohne Politik zu glauben, wie der Rechtsphilosoph Christoph Möllers geschrieben hat – oder zumindest an eine Welt, in der Politik ihnen weder etwas nehmen noch geben kann.

Aber eine Welt ohne Politik ist keine bessere Welt. Sie ist eine gefährliche Illusion. Wie sollen wir die vielfältigen Interessen in unserer pluralen Gesellschaft friedlich zum Ausgleich bringen, wenn es nicht auch in Zukunft Menschen gibt, die sich den Mühen des repräsentativen Prozesses aussetzen, die das zähe Ringen am Verhandlungstisch nicht scheuen und den Mut haben, Kompromisse einzugehen? Wie sollen wir gute Lösungen für die großen Probleme unserer Zeit finden, wenn wir nicht auch junge Frauen und Männer unterschiedlicher Herkunft dafür gewinnen können, ein Mandat zu übernehmen, sich der öffentlichen Kritik auszusetzen und politischen Wahlen zu stellen? Wo sonst, wenn nicht in demokratischen Institutionen, soll der Ort einer allgemeinen Öffentlichkeit sein, an dem Angehörige aller Schichten, Kulturen, Regionen und Altersgruppen zusammenkommen, um für das bessere Argument zu streiten?

Denken wir an das Thema, das unser Land in den vergangenen Jahren wie kein anderes bewegt hat: die Aufnahme von Flüchtlingen.

Natürlich bin ich jedem Bürger, jeder Bürgerin dankbar, die mit angepackt haben, um diese große Herausforderung zu bewältigen – den Ehrenamtlichen in Notunterkünften, Sportvereinen oder den Tafeln ebenso wie den Hauptamtlichen, den Polizistinnen und Polizisten, Lehrerinnen und Lehrern und vielen anderen.

Aber es sind eben auch die gewählten Politikerinnen und Politiker, auf die es ankommt. Und damit meine ich nicht nur die Bundesregierung, sondern jede Ministerpräsidentin und jeden Landesinnenminister, all die Abgeordneten, die sich daheim im Wahlkreis den teils heftigen Debatten stellen, jeden Bürgermeister und jede Landrätin. Sie alle stehen in der Verantwortung, müssen unzählige kleine und große Entscheidungen treffen, Verteilungsfragen beantworten, teils scharfe Interessenkonflikte lösen. Sie alle können und dürfen sich nicht wegducken, sondern sie stehen mitten im Wind.

Ich will an die Verleumdungen und an die Angriffe auf Bürgermeisterinnen und Bürgermeister erinnern, die wir erlebt haben. Es hat Hasskampagnen und körperliche Gewalt gegeben, weil die Entscheidung zur Aufnahme von Flüchtlingen auf Abwehr gestoßen ist. Erst vor wenigen Tagen bin ich in Nordrhein-Westfalen dem Bürgermeister von Altena begegnet, der mit einem Messer attackiert und verletzt worden ist. Es gibt in einigen Fällen aber auch Einschüchterung und Gewalt durch Flüchtlinge. Es gibt Konflikte und Reibungen, von der kleinen Rücksichtslosigkeit bis zur Prügelei. Ich finde, wer die alltäglichen Probleme der Integration auf Schulhöfen oder im Wohnviertel benennt und die Durchsetzung von Ordnung fordert, der muss nicht öffentlich kritisiert werden.

Die Integration der Flüchtlinge bleibt eine gewaltige Aufgabe, die unsere Gesellschaft aufwühlt. Weder Polarisierung noch Moralisierung lösen die praktischen Probleme, sondern Vernunft und Augenmaß, Kompromissfähigkeit und Entschlossenheit. Gewählte Politikerinnen und Politiker müssen entsprechend handeln. Und sie verdienen dafür mehr als nur mitleidiges Verständnis. Sie verdienen Respekt – und tatkräftigen Schutz, wenn sie bedroht werden.

Es ist nicht an mir zu beurteilen, ob jede einzelne politische Entscheidung in der Flüchtlingskrise richtig ist. Aber es ist mir wichtig zu sagen: Ohne den Einsatz der Gewählten, ohne ihr Verantwortungsbewusstsein könnten wir diese historische Herausforderung nicht meistern und übrigens auch Zuwanderung in der Zukunft nicht gestalten.

Deshalb, glaube ich, sollten wir uns wieder bewusst machen, was Politik eigentlich ist. Dazu gehört auch, keine falschen Erwartungen zu wecken. Demokratie ist eine anstrengende Staatsform. Politisches Engagement ist nicht immer cool und attraktiv, sondern oft unglamourös und kleinteilig. Politische Inhalte und vernünftige Argumente sind meistens komplexer als ein Hashtag. Sie alle hier im Landtag wissen es aus eigener Erfahrung: Demokratische Politik kostet viel Zeit, Geduld und Nerven.

Das soll nicht heißen, dass wir uns nicht auch Gedanken darüber machen müssen, wie Politik attraktiver werden kann, wie wir neue Instrumente der Beteiligung schaffen und neue Wege in die Politik ebnen können, gerade für junge Menschen. Ich freue mich, dass Sie hier gleich über diese Frage diskutieren wollen.

Aber es gibt keine Erlösung von der Politik. Es reicht nicht aus, mit Häme oder Ironie auf das manchmal schwerfällige demokratische Ringen zu blicken, und es spielt den Antidemokraten in die Karten, wenn Politiker und ihre Arbeit verächtlich gemacht oder der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Freie Kritik und Satire sind in der Demokratie unverzichtbar, aber die Banalisierung und Klamaukisierung von Politik, vor allem der Einzug von Hass und Verachtung in den politischen Diskurs machen mir Sorgen, und ich halte sie für genauso gefährlich wie die Flucht aus der Politik. Natürlich, die Inhalte der Politik sind komplex, vielleicht komplexer denn je, aber das darf kein Grund sein, Politik und politische Berichterstattung auf Parteitaktik, Egotrips und markige Auftritte, auf Daumen hoch oder Daumen runter zu reduzieren.

Wir leben in einer stabilen und lebendigen Demokratie, die sogar eine außergewöhnlich schwierige Regierungsbildung verkraftet hat. Das verdanken wir nicht zuletzt den engagierten Bürgerinnen und Bürgern, die bereit sind, sich in politischen Parteien und Parlamenten einzubringen und Verantwortung zu übernehmen. Und ich will heute auch noch einmal ganz klar sagen: Wir brauchen auch Politikerinnen und Politiker, die regieren wollen und bereit sind, die dafür unvermeidlichen Kompromisse einzugehen, und wir brauchen sie in allen demokratischen Parteien.

Die Mainzer Jakobiner, sie stehen für mich vor allem für eines: für den Willen zur Demokratie. Und diesen Willen, den brauchen wir auch heute und in Zukunft – hier in Mainz und in Rheinland-Pfalz, in Deutschland und in unserem vereinten Europa.