Besuch der University of Delhi

Schwerpunktthema: Rede

New Delhi/Indien, , 23. März 2018

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat beim Besuch der University of Delhi am 23. März anlässlich des Staatsbesuchs in Indien eine Ansprache gehalten: "Unseren beiden Ländern ist bewusst, dass in einer zunehmend multipolaren Welt kein Land globale und regionale Herausforderungen im Alleingang bewältigen kann. Und gerade in einem neuen, raueren Klima des internationalen Wettbewerbs ist es wichtig, uns auf das zu konzentrieren, was uns eint – statt unsere Meinungsunterschiede in den Mittelpunkt zu stellen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält vor Studierenden eine Ansprache an der University of Delhi anlässlich des Staatsbesuchs in Indien

Was für ein wundervoller, was für ein beeindruckender Ort! Ich kann verstehen, warum manche dieses Gebäude als die Krone der Universität Delhi bezeichnen – dieser renommierten Hochschule mit ihren heute 200.000 Studenten. Einer Hochschule, die vor fast einem Jahrhundert gegründet wurde und als eine der angesehensten Universitäten Indiens gilt. Eine Hochschule mit Verbindungen in die ganze Welt, nicht zuletzt auch – und ich hoffe, dass einige von Ihnen aus eigener Erfahrung davon berichten können – zu Universitäten bei uns in Deutschland, in Potsdam, Würzburg und Heidelberg. Was für eine Freude, heute hier zu sein!

Das hier ist sicherlich einer der Höhepunkte meines ersten Indien-Besuchs als Bundespräsident. Ich möchte mich beim Vizekanzler und allen heute hier Anwesenden ganz herzlich bedanken. Es ist mir eine große Ehre, zu Ihnen sprechen zu können. Vielen Dank, dass ich hier sein darf!

Seit meiner Ankunft in Indien habe ich bereits Varanasi und den Ganges, Sarnath und die Freitagsmoschee hier in Delhi besichtigt. Der Anblick dieser so symbolträchtigen Orte hat mir erneut die enorme historische und kulturelle Vielfalt dieses Landes vor Augen geführt. Indien ist wahrlich eine Schatzkiste voll mit Eindrücken und Inspirationen. Für mich als Deutschen war bisher jeder Besuch in Ihrem Land ein außergewöhnliches Erlebnis.

Nehmen wir zum Beispiel diesen Kolonialbau, die Viceregal Lodge. Viele von Ihnen wissen wahrscheinlich, dass sich im Keller dieses Gebäudes, nur wenige Meter von hier entfernt, einst eine Gefängniszelle befand, in der ein Sikh namens Bhagat Singh inhaftiert war. 1931, im Alter von nur 23 Jahren, wurde Bhagat Singh als Verbrecher hingerichtet, weil er sich gewaltsam gegen die britische Herrschaft aufgelehnt hatte. Heute steht eine Statue von ihm im Sansad Bhawan, dem Sitz des indischen Parlaments hier in Delhi. Wie bemerkenswert: ein Mann – einst als Verbrecher gebrandmarkt – heute ein Nationalheld. Ein früheres Verlies – heute das Zentrum eines Ortes, an dem produktiv debattiert und geforscht wird. Was ich sagen will: Meine Besuche in Indien haben mich gelehrt, immer auch einen zweiten Blick zu wagen.

Ich habe auch gelernt, meinen eigenen Blickwinkel zu erweitern, meine eigenen Annahmen zu hinterfragen und den Dingen mit Respekt zu begegnen. In vielerlei Hinsicht bin ich jedes Mal tief beeindruckt, wenn ich nach Indien komme. Beeindruckt vom kulturellen Erbe Ihres Landes und der unglaublichen Vielfalt im Alltag, aber auch von seiner vielschichtigen, lebendigen und belastbaren Demokratie. Ich habe höchsten Respekt vor Indiens einzigartigem Weg.

Ich weiß, dass dieser Weg nicht immer einfach war, dass es entlang der Strecke immer wieder Konflikte und Auseinandersetzungen gegeben hat. Wer könnte besser von den Anstrengungen des Pluralismus berichten, als die so überaus vielfältige Bevölkerung Indiens? Wer könnte besser von der schmerzhaften Unvollkommenheit eines demokratischen Staatswesens erzählen, als die Bürgerinnen und Bürger der größten Demokratie der Welt? Ich bin mir sehr wohl all des Leids bewusst, das vergangene und aktuelle Konflikte nach wie vor verursachen – und weiß, dass die indische Gesellschaft bis heute tief gezeichnet ist von zahlreichen Rissen, Wunden und Spaltungen. Und ich weiß, dass die indische Demokratie sich auf vielerlei Arten von unserer Demokratie in Deutschland unterscheidet.

Doch Indiens Entscheidungen sind von Bedeutung in der heutigen Welt. Und sie werden in Zukunft noch mehr Gewicht haben. Wenn es unseren beiden Ländern gelingt, unsere Stärken zu bündeln und unser gemeinsames Potenzial freizusetzen, werden wir viel voneinander lernen können und uns gegenseitig viel geben können. Darum bin ich nach Indien gekommen. Ich will uns alle – Inder und Deutsche gleichermaßen – herausfordern und dazu ermutigen, einen zweiten, einen neuen Blick aufeinander zu wagen. Und ich hoffe, dass unsere Diskussion heute eine von vielen Gelegenheiten dafür bietet.

Vor einigen Wochen habe ich in einer Zeitschrift eine Karikatur gesehen. Stellen Sie sich den Eingangsbereich eines großen Gebäudes vor, vielleicht eines Bürohauses. Darin befinden sich drei Aufzüge, direkt nebeneinander. Normalerweise sehen Aufzugtüren ja alle gleich aus, doch hier war jede Tür mit einem anderen Schild versehen. Auf der ersten Tür stand: Für Menschen, die Musik mögen. Auf der zweiten Tür stand: Für Menschen, die Stille bevorzugen. Und auf der dritten Tür schließlich stand: Für Menschen, die miteinander reden wollen. Doch leider stand vor dieser Tür nur eine einzige Person. Es gab also niemanden, mit dem sich dieser Mensch hätte unterhalten können.

Ich befürchte, dass es auf der Welt immer mehr von denen gibt, die nicht besonders gern reden, sondern lieber im eigenen kleinen Privataufzug fahren wollen. Von Berlin und Delhi aus betrachtet, lässt sich in letzter Zeit immer häufiger feststellen, wie Staaten genau diese Verhaltensweise an den Tag legen und sich aus der multilateralen Zusammenarbeit verabschieden. Wir erleben, wie Staaten zunehmend den Wert von Regeln und Übereinkünften infrage stellen. Wir sehen mit Sorge, dass die Suche nach Stärke und Wohlstand immer häufiger auf den Weg der Abschottung und der Konfrontation führt.

Da gibt es zum einen jene, die behaupten, dass es im Alleingang einfach besser funktioniert. Dass das multilaterale System nichts zustande bringt. Etwa wenn das Land, das Deutschland nach 1945 den Weg zurück in die freie Welt gewiesen hat, zurück zu Offenheit und zu Demokratie, sich jetzt aus bewährten internationalen Einrichtungen zurückzieht und neue Einfuhrzölle auf Stahl und Aluminium erheben will. Oder etwa wenn die Europäische Union – das erfolgreichste Friedens- und Wohlstandsprojekt, das es auf meinem Kontinent je gegeben hat – einen ihrer größten Mitgliedstaaten verliert.

Und dann gibt auch jene, die ernten, ohne zu säen, Jene, die zerstören, ohne aufzubauen und jene, die andere rücksichtslos einschüchtern und bedrängen. Wir erleben Mächte, die das Recht ihrer Nachbarn auf territoriale Unversehrtheit verletzen. Wir sehen im Nahen und Mittleren Osten – oder in Westasien, wie die Region hier bezeichnet wird – einen Krisenbogen, mit einem schrecklichen Bürgerkrieg im Zentrum, der schon hunderttausende Menschenleben gekostet hat – mit einer festgefahrenen internationalen Gemeinschaft, die nicht dazu in der Lage ist, das Leiden zu beenden.

Das sind in der Tat große Herausforderungen. Es wäre einfach, Barrieren zu errichten und nur auf unser eigenes Wohlergehen zu schauen. Doch was glauben Sie, würde passieren, wenn jedes Land, wenn auch Indien und Deutschland anfangen würden, sich so zu verhalten? Was würde passieren, wenn wir uns alle in unsere kleinen Privataufzüge zurückziehen, ganz ohne Gesprächspartner? Was wären die Folgen für die Wirtschaft, den Handel, für Innovationen, für die Kultur, für die globale Stabilität und für unsere Sicherheit, wenn jeder nur noch für sich selbst kämpft? Wären wir weiterhin erfolgreich? Würden wir weiterhin in Frieden leben und unsere Potenziale auf die gleiche Weise entfalten? Die Zukunft der Menschheit auf die gleiche Weise gestalten, wie wir es in den vergangenen, bemerkenswerten Jahrzehnten getan haben? Ich glaube nicht. Ich glaube, wir alle stünden zweifellos erheblich schlechter da als vorher.

Auf dem europäischen Kontinent haben wir Jahrhunderte voller Konflikte und Blutvergießen durchlebt. Wir wissen, was passiert, wenn jeder gegen jeden kämpft, wenn reine Machtpolitik das Handeln bestimmt. In den vergangenen 70 Jahren jedoch haben wir Europäer es geschafft, mit unserer Vielfalt zu leben – in einer nie da gewesenen Epoche von Frieden und Wohlstand. Gemeinsam stärker als allein, und in Frieden nur auf der Grundlage verbindlicher Regeln – das haben wir Europäer auf die harte Tour lernen müssen.

Die europäische Einigung hat Deutschland die besten und überzeugendsten Antworten auf die Herausforderungen unserer Geschichte und unserer geografischen Lage geliefert. Deshalb sind wir angewiesen auf die harte Arbeit und die aufrichtige Hingabe immer neuer Generationen von jungen Europäern. In dieser Hinsicht bin ich optimistisch – nicht zuletzt, weil die neue deutsche Bundesregierung der europäischen Integration einen herausragenden Platz in ihrem politischen Programm zugewiesen hat. Deutschland wird alles in seiner Macht Stehende tun, damit Europa auch weiterhin erfolgreich ist und damit die europäische Stimme auch die Welt des 21. Jahrhunderts mitgestaltet – als Teil einer regelbasierten internationalen Ordnung und gemeinsam mit Indien als einem unserer starken und engen Partner.

Indiens Umfeld ist sicherlich nicht die einfachste Gegend für gelingende internationale Zusammenarbeit. In den letzten Jahren gab es viele – vielleicht zu viele – Rückschläge für diejenigen, die an eine offene und auf Kooperation ausgerichtete Weltordnung glauben. Zusammenarbeit erfordert Engagement und Beharrlichkeit. Gemeinsame Lösungen kommen selten in Form einfacher Antworten daher. Das ist aber kein Grund, nicht mehr zusammenzuarbeiten – ganz im Gegenteil!

Nehmen Sie zum Beispiel ein Thema, das für Indien und Deutschland gleichermaßen wichtig ist – die Freiheit der Schifffahrt im Indischen Ozean. Mit dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen und dem Internationalen Seegerichtshof mit Sitz in Hamburg haben wir eine verlässliche Grundlage für den Schutz der internationalen Gewässer geschaffen. Aber wir könnten diese rechtlichen Rahmenbedingungen gemeinsam noch weiter stärken – und es ist ermutigend zu sehen, wie die Idee der freien Seefahrt in jüngster Zeit zusätzlichen Auftrieb gerade in dieser Region erfahren hat. Der Vorschlag für einen Verhaltenskodex für den Indischen Ozean, basierend auf der Grundlage des Seerechtsübereinkommens, ist ein ermutigendes Zeichen und sollte weiter erörtert werden. Deutschland bietet hierfür seine rechtlichen Fachkenntnisse und seine politische Unterstützung an – nicht zuletzt, weil die Stabilität dieser Region auch für unseren eigenen Wohlstand von Bedeutung ist.

Ich glaube, wir sollten solche Beispiele gerade in Zeiten von Rückschlägen immer wieder hervorheben und nicht nachlassen, unsere Botschaft der Zusammenarbeit und Offenheit zu verbreiten. Sowohl Indien als auch Deutschland sind Verfechter von internationaler Zusammenarbeit und von gemeinsamen Lösungen für gemeinsame Probleme. Insbesondere Indien kann auf eine lange und stolze Tradition des Multilateralismus zurückblicken. Unseren beiden Ländern ist bewusst, dass in einer zunehmend multipolaren Welt kein Land globale und regionale Herausforderungen im Alleingang bewältigen kann. Und gerade in einem neuen, raueren Klima des internationalen Wettbewerbs ist es wichtig, uns auf das zu konzentrieren, was uns eint – statt unsere Meinungsunterschiede in den Mittelpunkt zu stellen.

Auf dieser Grundlage beruht die strategische Partnerschaft, die Indien und Deutschland vor 18 Jahren ins Leben gerufen haben. Sie bildet die Agenda für unser gemeinsames Handeln. Doch wir müssen noch enger zusammenwachsen. Wir sollten ein besseres Verständnis dafür entwickeln, was wir aufgrund unserer gemeinsamen Ziele auch gemeinsam erreichen können. Von Investitionen und Technologietransfer über den Handel mit Waren und Dienstleistungen bis hin zu Infrastruktur und Berufsbildung hat Deutschland einiges zu bieten, das für Indiens Entwicklung von Bedeutung sein kann.

Darüber hinaus sind wir auch im Kulturaustausch sehr aktiv, mit einer dynamischen Gemeinschaft von sechs Niederlassungen des Goethe-Instituts, die hier Max Mueller Bhavans genannt werden und damit an die Tradition dieses großen deutschen Erforschers alter indischer Schriften anknüpfen. Und schließlich ist Deutschland bereits jetzt der wichtigste Handelspartner Indiens in der Europäischen Union – und gemeinsam mit unseren französischen Freunden können wir Indiens neuer strategischer Anker auf dem europäischen Kontinent und im europäischen Binnenmarkt werden.

Gleichzeitig möchte Deutschland auf die wachsende Bedeutung und Verantwortung Indiens bauen – sowohl als gleichgesinnter Partner für eine konstruktive und multilaterale Zusammenarbeit als auch als Vorkämpfer für die Stabilität im indo-pazifischen Raum. Wir sollten es uns zur Aufgabe machen, gemeinsame Antworten auf die neuen Herausforderungen der Globalisierung zu finden – Herausforderungen, vor denen unsere beiden Länder stehen.

Zum Beispiel sind Indien und Deutschland beide vom Welthandel und vom internationalen Investitionsverkehr abhängig. Freier und fairer Handel kann Frieden und Wohlstand zwar nicht garantieren, doch er kann die Menschen über Grenzen hinweg zusammenbringen, die wirtschaftliche Entwicklung ankurbeln und uns gleichzeitig vor Augen führen, wie sehr wir einander brauchen. Seit dem Jahr 2000 haben deutsche Unternehmen fast 10 Milliarden US-Dollar in Indien investiert und zur Schaffung von rund 400.000 Arbeitsplätzen beigetragen. Derzeit sind über 1.800 deutsche Unternehmen in Ihrem Land aktiv – und auch die indischen Investitionen in Deutschland wachsen stetig. Wir sollten den Abbau von Handelshemmnissen fortsetzen, um auf diese Weise den bilateralen Handel und bilaterale Investitionen zu fördern.

Die Europäische Union und Indien sollten zudem zügig und mit Nachdruck daran arbeiten, ihre Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zum Abschluss zu bringen. Ich bin sicher, dass ein solches Abkommen den bilateralen Wirtschaftsbeziehungen eine neue Dynamik verleihen kann. Natürlich verursacht Handel oftmals auch Umbrüche – er treibt Veränderungen voran und erzeugt Anpassungsdruck. Wir alle wissen, wie sehr es dabei auf eine sehr feine Balance ankommt, sodass wir für die Handelsabkommen der Zukunft vielleicht tatsächlich innovative Antworten finden müssen. Doch letztlich steht eines fest: Unsere beiden Länder wollen mehr Handel miteinander treiben, nicht weniger. Daher sollten wir zusammen daran arbeiten, eine Aushöhlung der bestehenden globalen Handelsordnung – mit der Welthandelsorganisation in ihrem Zentrum – zu verhindern. Denn eine solche Erosion hätte negative Folgen für uns alle.

Eine zweite Herausforderung, vor der Indien und Deutschland gleichermaßen stehen, ist der Umgang mit Innovation und technischem Fortschritt. Unsere beiden Länder sind darauf angewiesen, bei Forschung und Entwicklung, in Wissenschaft und Technik vorne mitzuspielen. Für Sie, die junge Generation, werden Industrie 4.0, künstliche Intelligenz und Robotik zum Alltag gehören. Dabei wird Indien in Zukunft gleichzeitig ein ländlich geprägtes Land und eine datengestützte Ökonomie des 21. Jahrhunderts sein. Ihr Indien wird sich enorm von dem Land unterscheiden, das Ihre Eltern einst geerbt haben. Und zugleich wird der internationale Wettbewerb die Innovationsagenda vieler Länder immer weiter befeuern.

Zunächst ist dies eine sehr pragmatische Herausforderung. Wir müssen zum Beispiel in die Forschung investieren und die Rahmenbedingungen für zukunftsweisende Innovationen schaffen. Die deutsch-indische Wissenschafts- und Forschungspartnerschaft besteht seit nunmehr 60 Jahren – und sie ist äußerst lebendig. Sie reicht von der Grundlagenforschung über den Bereich wissenschaftliche Infrastrukturen bis hin zur Zusammenarbeit unserer Forschungseinrichtungen und Universitäten – mit bisher mehr als 430 bilateralen Vereinbarungen. Das Deutsche Wissenschafts- und Innovationshaus in New Delhi ist die zentrale Anlaufstelle für viele dieser Partnerschaften.

Doch über solche pragmatischen Antworten hinaus werfen Innovation und technischer Fortschritt auch grundsätzlichere Zukunftsfragen auf. Dabei geht es nicht allein um Technologie an sich, sondern gerade auch um ihre Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft.

Welche Folgen wird es beispielsweise für unsere Arbeitsplätze und Arbeitsmärkte haben, wenn sich Produktion und Konsum durch Technologie radikal verändern? Werden klassische Berufe in Landwirtschaft und Industrie in 20, 30, 40 oder 50 Jahren noch existieren? Und wird es unserer Wirtschaft gelingen, Arbeitsplätze für zukünftige Generationen zu sichern?

Wir fragen uns vielleicht auch, ob unsere Bildungssysteme in der Lage sind, um mit der technologischen Entwicklung Schritt zu halten. Und was geschieht mit dem Gesundheitswesen, dem Steuersystem oder dem Verbraucherschutz? Mit anderen Worten: Was bedeutet das alles für ein System, das für eine ganz andere Art des Wirtschaftens konzipiert wurde?

Und lassen Sie mich eine letzte Frage hinzufügen. Was ist mit der wirtschaftlichen Entwicklung? Sind unsere traditionellen Ansätze im digitalen Zeitalter überhaupt noch gültig? Mir erscheint es plausibel, dass wir neue Antworten und neue Strategien brauchen. Vielleicht können weniger entwickelte Regionen heute die traditionelle Industrialisierung überspringen und sich direkt ins digitale Zeitalter katapultieren, wie es uns manche Regionen in Afrika zeigen.

Das alles sind schwierige Fragen. Doch wir müssen überzeugende Antworten finden, wenn unsere Gesellschaften weiter gedeihen sollen, wenn wir ein glückliches und harmonisches Leben für die Menschen erreichen wollen, wie es Premierminister Modi in seiner Rede in Davos kürzlich formulierte. Ich bin zuversichtlich, dass die starken Demokratien Indiens und Deutschlands dieser Aufgabe gewachsen sind – denn sie sind darauf ausgelegt, sich an veränderte Bedingungen anzupassen. Die größte Stärke der Demokratie ist meiner Ansicht nach ihre Fähigkeit, ihre eigenen Schwächen zu erkennen und zu korrigieren. Die Demokratie verfügt über die einzigartige Fähigkeit zur Selbstkorrektur und zum Umgang mit neuen Herausforderungen.

Ich glaube, es lohnt sich, hart daran zu arbeiten, diese Fähigkeit der Demokratie zur Selbstkorrektur zu bewahren, diese Freiheit und Offenheit aufrechtzuerhalten. Wir brauchen all das, um die Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen.

Wir sollten zum Beispiel unsere Universitäten stärken, die Freiheit der Forschung verteidigen und sicherstellen, dass die Wissenschaft sich auch in Zukunft frei entfalten kann – anstatt den Raum für Debatten einzuschränken und einer Politisierung dieser Einrichtungen zum eigenen kurzfristigen Vorteil das Wort zu reden. Wenn die Wissenschaftsfreiheit durch Ideologie eingeschränkt wird, wenn Studenten und Wissenschaftler aufgrund ihrer politischen Ansichten bedroht und schikaniert werden, dann wird die Demokratie bald eingehen.

Wir sollten auch weiterhin eine freie und kritische Presse und die Meinungsfreiheit verteidigen – anstatt unangenehme Wahrheiten als Fake News zu verunglimpfen und die Grenzen zwischen Fakten und Meinung zu verwischen. Wenn Journalisten in vielen Ländern dieser Welt aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen von Berichterstattung absehen, wenn das öffentliche Diskutieren in Misskredit gerät und die Äußerung von Kritik zur Gefahr wird, dann ist es an der Zeit, unsere Stimme zu erheben.

Zudem sollten wir weiterhin in gern auch harten, vor allen Dingen aber respektvollen Debatten mit unserem politischen Gegner ringen, am besten im Rahmen von politischen Parteien. Wir sollten die Selbstbestimmtheit von Frauen und die Rechte von Minderheiten verteidigen. Wir sollten für religiöse Toleranz eintreten – anstatt die Menschen auszuschließen, die uns fremd erscheinen. Uns allen steht das Recht auf eine eigene Meinung und auf eigene religiöse Überzeugungen zu. Deshalb verdienen Religionsgemeinschaften einen besonderen Schutz.

Ich kenne diese Themen auch aus Debatten zu Hause in Deutschland, wo der öffentliche Diskurs rauer geworden ist und alte Gewissheiten zunehmend in Frage gestellt werden. Ich habe es mir als Bundespräsident zum Ziel gesetzt, all jene zu unterstützen, die für die Sache der Demokratie eintreten. Darum bin ich heute hier. Ich möchte gern Ihre Meinungen hören und Sie dazu ermutigen, über die Zukunft nachzudenken.

Denn letztlich, liebe Freunde, ist die Zukunft ja nicht in Stein gemeißelt – wir alle müssen sie mitgestalten. Als Studenten und Wissenschaftler verfügen Sie über das große Privileg, die Dinge mit Weitblick betrachten zu können. Trauen Sie sich, mit offenem Geist und mit offenem Herzen weit vorauszuschauen. Wir brauchen Sie in den politischen Debatten unserer Zeit – als starke Stimme für eine offene und friedliche Welt und für die Zukunft unserer Demokratien!

Ich persönlich wünsche mir für die Zukunft vor allen Dingen eines: Lassen Sie uns weiterhin im selben Aufzug fahren, lassen Sie uns auch künftig miteinander reden – und lassen Sie uns alle gemeinsam oben ankommen.

Das war’s von meiner Seite, liebe Freunde. Jetzt sind Sie an der Reihe. Ich freue mich auf Ihre Beiträge.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.