Festakt "130 Jahre Arbeiter-Samariter-Bund e.V."

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 18. April 2018

Der Bundespräsident hat beim Festakt "130 Jahre Arbeiter-Samariter-Bund e.V." am 18. April eine Ansprache gehalten: "Bürgerschaftliches Engagement kann und darf die staatliche Daseinsvorsorge nicht ersetzen. Was wir brauchen, ist ein gutes Zusammenspiel zwischen gemeinnützigem Sektor und Staat. Nur gemeinsam können wir Herausforderungen wie den demografischen Wandel, die drohende Verödung ganzer Landstriche oder das Miteinander verschiedener Kulturen bewältigen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei der Jubiläumsveranstaltung zu 130 Jahre Arbeiter-Samariter-Bund Deutschland e. V. im ewerk in Berlin

Die große Arbeiter-Samariter-Familie feiert, und ich darf dabei sein. Das freut mich, ich sage aufrichtig Danke für die Einladung – und herzlichen Glückwunsch zum runden Geburtstag!

Der runde Geburtstag ist der richtige Anlass, und dieser Ort ist der richtige Ort: ein altes E-Werk, das gleichsam symbolisiert, wie eng die Entstehungsgeschichte des Arbeiter-Samariter-Bundes mit der Industrialisierung und der Lage der arbeitenden Klassen verbunden ist.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als die Industrialisierung im Deutschen Reich an Fahrt aufnahm, erlebte Berlin einen stürmischen wirtschaftlichen Aufschwung. Männer und Frauen strömten vom Land in die Stadt, auf der Suche nach Arbeit oder Unabhängigkeit. Überall wurden Fabrikanlagen, Verkehrswege, Wohnungen gebaut. Hier an der Spree wuchs ein lebendiges und lärmendes Industriezentrum heran.

Aber was damals, in dieser Phase des ungestümen Wachstums, ebenfalls dramatisch zunahm, war die Zahl schwerer und tödlicher Unfälle am Arbeitsplatz. In Betrieben und auf Baustellen fehlte es an Schutzvorkehrungen, und die überlangen Schichten, die Hast der Akkordarbeit und die Unerfahrenheit vieler Arbeiter führten immer wieder zu Unglücken. Am Unfallort gab es dann oft nicht einmal Verbandsmaterial, und kaum jemand konnte Erste Hilfe leisten. Auch das zivile Rettungswesen steckte noch in den Anfängen – die wenigen Sanitätswachen, die es in Berlin gab, waren aus Kostengründen nur nachts besetzt.

Sich zu Tode arbeiten – das war in der Frühphase des Kapitalismus, als die Arbeiterbewegung sich formierte und der Sozialstaat erst ganz allmählich entstand, nicht einfach nur eine Redensart, sondern eine ganz alltägliche Gefahr. Das Schlachtfeld der Arbeit, von dem damals die Rede war, forderte vor allem in der Eisen- und Metallindustrie, im Bauwesen und im Bergbau unzählige Opfer. Männer, Frauen und Kinder gerieten in laufende Maschinen, Leitern und Gerüste brachen zusammen, gerade errichtete Bauten stürzten ein.

Karl Marx – auch ein Jubilar in diesem Jahr 2018 – hatte schon Jahre zuvor angesichts der vielen Verletzten und Toten des industriellen Feldzugs in Großbritannien festgehalten, dass die regulären Tribute an menschlichen Gliedern, Händen, Armen, Knochen, Füßen, Köpfen und Gesichtern, welche der modernen Industrie dargebracht werden, in ihrem Umfang viele als höchst mörderisch geltende Schlachten übertreffen.

Es waren sechs Zimmerleute, die nach einem tödlichen Unfall am Flakensee bei Erkner, auf dem Gelände der Märkischen Eiswerke, nicht mehr länger zusehen, sondern hier in der Stadt selbst etwas tun wollten. Im Jahr 1888, vor 130 Jahren, riefen sie Zimmerleute, Maurer und Bauarbeiter sowie alle Arbeiter im Berliner Volksblatt dazu auf, an einem ersten Lehrkursus über die Erste Hilfe bei Unglücksfällen teilzunehmen – und legten damit den Grundstein des Arbeiter-Samariter-Bundes.

Gesundheitliche Aufklärung und Hilfe zur Selbsthilfe, das waren die Ideen der Männer und Frauen, die damals vorangingen: Arbeiter sollten ihre verunglückten Kollegen in Betrieben und Fabriken eigenständig versorgen können. Kurz darauf entstanden erste Arbeiter-Samariter-Kolonnen, die bei Festen und Kundgebungen der Arbeiterschaft Sanitätsdienste übernahmen und nach Unfällen herbeieilten, um Verletzte zu versorgen. Not machte erfinderisch: Kranke wurden schon bald mit Fahrradtragen transportiert. Nur kurz danach kam schon eine fliegende Rettungsstation mit der Kutsche zum Einsatzort.

Von Anfang an zeichneten sich die Arbeiter-Samariter auch durch ihr politisches Bewusstsein aus, durch ihren Willen zur Veränderung. Sie erhoben ihre Stimme gegen menschenunwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen, wandten sich mit Petitionen an den Reichstag, und sie organisierten sich nach demokratischen Prinzipien.

Ich erzähle das nicht nur deshalb, weil es eine beeindruckende, ich finde sogar, eine faszinierende Geschichte ist, sondern auch, weil vieles von dem, wofür die Pioniere damals standen, den Arbeiter-Samariter-Bund bis heute auszeichnet, allen Veränderungen zum Trotz.

Die frühen Samariter wollten Hilfe zur Selbsthilfe leisten, und das ist bis heute ein Leitgedanke Ihres Verbands: Er greift ein in Unglückssituationen oder dann, wenn ein Leben zu misslingen droht. Und er zieht sich zurück, sobald es wieder stabil ist. Damals wie heute ist der ASB ein Zusammenschluss von Bürgerinnen und Bürgern, die da helfen wollen, wo Hilfe gebraucht wird – hier und jetzt, nah bei den Menschen.

Vor allem aber zeichnet sich der Arbeiter-Samariter-Bund bis heute durch eine besondere Kultur aus, die ihre Wurzeln in der Arbeiterbewegung hat und seit Generationen ganz unterschiedliche Menschen in Ihrem Verband zu einer Gemeinschaft verbindet.

Zu dieser Kultur gehören eine demokratische Haltung und Solidarität über politische, ethnische, nationale und religiöse Grenzen hinweg. Dazu gehört aber vielleicht auch eine sympathische Hemdsärmeligkeit: Arbeiter-Samariter packen an, sie sind pragmatisch und leisten auch unkonventionelle Hilfe. Ob es darum geht, minderjährige Mütter in Ostdeutschland zu unterstützen oder Wohnungslose vorübergehend in Baracken unterzubringen – sie wissen zu improvisieren und finden in vielen Fällen kreative Lösungen, um Notlagen wenigstens zu überbrücken.

Ganz besonders typische Vertreter dieser Kultur sind die vielen im ASB, die im Rettungsdienst arbeiten. Wie ich gehört habe, werden sie bei Ihnen im Verband voller Respekt als Blaulichtfraktion bezeichnet – also die, die wie die Feuerwehr zum Einsatzort fahren, um Menschenleben zu retten, und bei denen Ihr sonst mit sauerländischer Nüchternheit ausgestatteter Präsident, wie ich weiß, richtig ins Schwärmen gerät.

Es ist dieser Samaritergeist, diese besondere Kultur der Solidarität und der selbstlosen Hilfe, die Ihren Verband auszeichnet und erfolgreich macht, über alle historischen Brüche hinweg und nun schon seit 130 Jahren. Sie alle, hauptamtliche und ehrenamtliche Mitarbeiter, zeigen tagtäglich, was menschliche Tatkraft bewirken kann. Ich kann Ihnen nur, im Namen aller, von Herzen danken für dieses so große Engagement. Herzlichen Dank dafür!

Wir wissen, die Nationalsozialisten zerschlugen und enteigneten den Arbeiter-Samariter-Bund. Aber auch ihnen gelang es nicht, seinen Geist zu brechen. Schon bald nach Kriegsende und Befreiung, als Deutschland noch in Trümmern lag, bemühten sich ehemalige Mitglieder in Westdeutschland, ihren Verband wieder aufzubauen – Menschen, die damals noch die Kraft und den Willen hatten, neben der eigenen Not sich die Not der Mitmenschen auf die Schultern zu laden, wie Hermann Schaub, der erste Präsident des ASB, rückblickend schrieb.

In der Bundesrepublik hat sich der neu gegründete Arbeiter-Samariter-Bund im Laufe der Jahre zu einer großen Hilfs- und Rettungsorganisation entwickelt – im Einsatz auf Straßen, an Badestränden oder in Fußballstadien, weltweit zur Stelle nach Überschwemmungen und Erdbeben, Kriegen und Terroranschlägen. Und er ist zu einem modernen Wohlfahrtsverband herangewachsen, der Angebote für hilfsbedürftige Menschen jeden Alters bietet, seit der Wiedereinigung in ganz Deutschland.

Immer wieder hat der ASB dabei auf gesellschaftliche und politische Veränderungen reagiert und sich dort, wo es nötig war, den gewandelten Bedürfnissen der Menschen angepasst. Oft ist er, wie andere Wohlfahrtsverbände auch, ein Vorreiter, wenn es darum geht, neue Herausforderungen anzupacken.

Schon früh haben Sie, hat der ASB zum Beispiel den demografischen Wandel thematisiert, Pflegedienste ausgebaut und Ideen zur Unterstützung von alten und kranken Menschen entwickelt, vom Essen auf Rädern über den Hausnotruf bis hin zum Mehrgenerationenhaus. Seit langem schon bemühen Sie sich darum, Menschen mit Behinderungen die gleichberechtigte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Dankbar bin ich Ihnen auch dafür, dass Sie Ihre langjährigen Erfahrungen in der Flüchtlingshilfe in den vergangenen Jahren eingebracht haben und – wie notwendig ist das in diesen Zeiten – das friedliche Miteinander der Kulturen verstärkt fördern. Auch dafür bin ich dankbar.

Einen kleinen Einblick in Ihr weltweites wichtiges Engagement habe ich erst im Dezember erhalten, als ich zu Besuch in Gambia war. Gemeinsam mit Ihnen, Herr Bauch, habe ich eine Klinik besucht, die der ASB dort seit 16 Jahren betreibt – in einer Region, in der es so gut wie keine medizinische Versorgung gibt und jeden Tag viele Kinder sterben. Hilfe zur Selbsthilfe ist auch dort das Motto, denn das Krankenhaus soll einmal ganz in gambische Hände gelegt werden. Mich hat, bis heute, unglaublich beeindruckt zu sehen, mit wie viel Lebensmut Hebammen und Schwestern gegen Krankheiten wie Aids und Malaria ankämpfen – im Grunde genommen in einem Krankenhaus ohne einen eigenen Arzt. Der einzige Arzt ist ein kolumbianischer Arzt, der aus einem Förderprogramm dort in Gambia hängengeblieben ist – in einem Krankenhaus mit ärmlichen technischen Apparaturen, die, und auch das hat mir Respekt abverlangt, unter anderem von einem Berliner Team gewartet werden, von drei Männern, die jedes Jahr von Berlin aus auf Motorrad-Tour gehen, die dorthin fahren in dieses Krankenhaus, um die technischen Geräte so weit wie möglich zu reparieren.

Mein Dank gilt allen Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land, die solche Projekte mit ihren Spenden unterstützen.

Wir alle wissen: Wohlfahrtsverbände können ihre vielfältigen Aufgaben nur dann erfüllen, wenn es ihnen gelingt, hochqualifizierte hauptamtliche und hochmotivierte ehrenamtliche Mitarbeiter für sich zu gewinnen.

Im Arbeiter-Samariter-Bund erbringen zehntausende hauptamtlich Beschäftigte Tag für Tag wichtige soziale Dienstleistungen – ob im Rettungsdienst oder in Kindertagesstätten, in Pflegeheimen oder Hospizen. Was sie leisten, soll und kann durch bürgerschaftliches Engagement nicht ersetzt werden.

Sein Gepräge, seinen Charakter verdankt der ASB aber vor allem den rund 20.000 Menschen, die sich freiwillig und unentgeltlich im Verband engagieren, auf allen Feldern von der Vorstands- und Gremienarbeit bis hin zur humanitären Hilfe im Ausland. Ich weiß, dass viele von ihnen heute hier im Saal sind, und ich habe mir sagen lassen, dass manche dem ASB schon seit mehr als einem halben Jahrhundert die Treue halten. Ich finde, auch das ist einen Riesen-Applaus wert!

Die freiwillig engagierten Bürgerinnen und Bürger stehen in besonderer Weise für das, was ich vorhin den Samaritergeist genannt habe: für Respekt und Toleranz, für Verantwortungsbewusstsein und Rücksichtnahme – für Tugenden also, die in unserer offenen Gesellschaft und unserer Demokratie unverzichtbar sind. Sie alle, die sich um mehr kümmern als nur um sich selbst, die sich für das Wohl anderer einsetzen, Sie sind diejenigen, die den Zusammenhalt in unserem Land stärken.

Dabei ist ganz klar: Bürgerschaftliches Engagement kann und darf die staatliche Daseinsvorsorge nicht ersetzen. Was wir brauchen, ist ein gutes Zusammenspiel zwischen gemeinnützigem Sektor und Staat. Nur gemeinsam können wir Herausforderungen wie den demografischen Wandel, die drohende Verödung ganzer Landstriche oder das Miteinander verschiedener Kulturen bewältigen.

Richtig ist aber auch, dass Politik gute Rahmenbedingungen setzen muss, um freiwilliges Engagement weiter zu fördern. Auch die Wohlfahrtsverbände sind hier gefragt: Sie müssen sich darauf einstellen, dass viele junge Menschen heute eher zeitlich begrenzt und eher projektbezogen mitgestalten wollen, aber weniger Interesse daran haben, sich dauerhaft und eng an eine Organisation zu binden.

Und ich weiß, Sie im ASB haben schon viel unternommen, um neue Angebote für freiwilliges Engagement zu schaffen, die das klassische Ehrenamt ergänzen. Ein Beispiel, das ich besonders gelungen finde, ist der Wünschewagen: Freiwillig engagierte Männer und Frauen stehen schwerstkranken Menschen in der letzten Phase ihres Lebens zur Seite und erfüllen ihnen einen besonderen Herzenswunsch. Was für ein großartiges Projekt, das Menschen zusammenbringt, das Sinn und Freude stiftet!

Nicht nur dieses Beispiel zeigt: Der Arbeiter-Samariter-Bund hat sich in seiner Geschichte immer wieder neu erfunden, ohne seinen Prinzipien untreu zu werden. Er steht heute wie vor 130 Jahren für Menschlichkeit und für ein gutes Miteinander. Gerade in einer Zeit, in der der Ton in unserer Gesellschaft rauer wird und mancherorts Risse sichtbar werden, gerade in einer solchen Zeit brauchen wir mehr von dieser Haltung. Bleiben Sie also, wie Sie waren und wie Sie sind. Behalten Sie Ihr Ohr am Puls der Zeit, bewahren Sie sich Ihre Kraft und Ihre Energie, und stecken Sie andere weiterhin an mit Ihrer Leidenschaft!

Ich wünsche dem ASB und allen, die ihn unterstützen und voranbringen, von Herzen alles Gute – auch die nächsten 130 Jahre.