Abendessen mit dem Ministerpräsidenten des Königreichs der Niederlande

Schwerpunktthema: Rede

Den Haag/Niederlande, , 15. Mai 2018

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 15. Mai beim Abendessen mit dem Ministerpräsidenten der Niederlande, Mark Rutte, in Den Haag eine Ansprache gehalten: "Wir sind, glaube ich, auch all denjenigen verpflichtet, die in einer viel schwierigeren Situation dieses Europa auf die Beine gestellt haben. Es ist Aufgabe unserer Generation, es zu erhalten und fortzuentwickeln und unseren Kindern verständlich zu machen, dass weder Demokratie noch Europa aus sich heraus leben, sondern immer wieder Engagement von den jeweiligen Bevölkerungen verlangen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede beim Abendessen, gegeben von Ministerpräsident Mark Rutte, in der Residenz Catshuis in Den Haag anlässlich des offiziellen Besuchs im Königreich‎ der Niederlande

Zunächst darf ich Ihnen im Namen der gesamten deutschen Delegation einen ganz herzlichen Dank sagen für die Einladung zu diesem wunderbaren Abendessen. Zweitens haben Sie recht: Ich habe viele und langjährige Erfahrungen mit den Niederlanden. Dem König habe ich schon heute Mittag gesagt, dass ich Ihr Land kennengelernt habe bei meinen Fahrradurlauben vor rund 40 Jahren, als ich gerade anfing zu studieren. Was ich damals kennenlernte, waren nicht nur fast alle Regionen der Niederlande, sondern auch, dass eigentlich immer, wenn Wind ist, man den Eindruck hat, es ist Gegenwind. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir mal einen Tag lang wirklich Rückenwind hatten. Also, es war immer etwas anstrengend, aber ich liebe das Land, ich komme gerne wieder. Ich war als Privatmensch häufig hier und in meinen offiziellen Funktionen natürlich auch.

Und wenn ich von den offiziellen Funktionen spreche, dann meine ich natürlich auch die acht Jahre als Außenminister. Und heute hat sich für mich ein Kreis geschlossen. Das ist ja durchaus selten in der Politik, dass man am Beginn eines Projektes daran denkt oder darauf hoffen kann, dass man auch noch dessen Ende miterlebt. Und das Schöne ist: Als wir heute Abend die Ratifikationsurkunden zum Ems-Dollart-Vertrag ausgetauscht haben, konnte ich mich noch sehr gut daran erinnern, wie ich mit dem damaligen Außenminister Bert Koenders mitten auf der Ems den Vertrag unterzeichnet habe. Das ist ein kleiner Meilenstein; gar nicht nur im deutsch-niederländischen Verhältnis, sondern: Ich glaube, es ist auch ein Beispiel dafür, wie man mit Grenzkonflikten umgehen kann.

Und deshalb erinnere ich mich nicht nur gerne an die Unterzeichnungszeremonie, sondern auch an Gespräche, die ich zum Beispiel mit Slowenien und Kroatien geführt habe, wo ich gesagt habe: Ich verstehe, dass ihr unterschiedliche rechtliche Auffassungen über den Grenzverlauf habt. Aber es gibt Beispiele dafür, wie man trotz unterschiedlicher Rechtsauffassungen vielleicht praktikable Umgangsweisen zwischen zwei Ländern finden kann, die nicht in Streit ausarten müssen. Bisher jedenfalls haben diese Hinweise aber nicht den notwendigen Erfolg gebracht.

Die Frage ist ja: Wenn so etwas zwischen Deutschland und den Niederlanden funktioniert, warum nicht anderswo? Und ich glaube, vieles hängt damit zusammen, dass wir – obwohl wir natürlich durch Geschichte und Geographie immer auch unterschiedlich geprägt sind – doch eine ähnliche Herangehensweise an politische Probleme haben und dass Kategorien von Vernunft und Verantwortung für jeden von uns immer noch Gültigkeit haben, selbst wenn wir mal von unterschiedlichen Ausgangspositionen kommen. Und die Orientierung auf vernünftige Lösungen, die Orientierung auf Verantwortung, die wir gemeinsam, unabhängig von den nationalen Interessen tragen, die machen, glaube ich, solche Lösungen möglich.

Gerade draußen haben wir schon eine Weile gesprochen über Entwicklungen und Tendenzen, die sich nicht nur in unseren beiden Ländern zeigen, sondern darüber hinaus auch in fast allen westlichen liberalen Demokratien. Ich habe es schon vielfach gesagt: Wir müssen feststellen, dass die liberale Demokratie nicht mehr unangefochten ist. Und das, was in den Niederlanden geschehen ist, haben wir nun auch in Deutschland erlebt, bei den Bundestagswahlen, bei vielen Landtagswahlen: Die wachsende Polarisierung in der Gesellschaft schlägt sich nieder in den Wahlergebnissen. Und das macht die Bildung von Regierungen schwieriger, das haben Sie hier in den Niederlanden erlebt, und wir haben es zur teilweisen Überraschung der deutschen Bevölkerung auch in Deutschland erlebt.

Wir haben noch in ziemlich guter Erinnerung, wie groß bei uns die Ungeduld nach einigen Wochen, nach einigen Monaten der Verhandlungen zwischen den Parteien wird. Deshalb bin ich froh, dass die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung am Ende bestand, dass wir jetzt eine Regierung haben, die frisch ins Amt gekommen ist und die Antworten auf die Fragen geben muss, die die Bevölkerung hat. Und diese Fragen unterscheiden sich nicht so sehr von denen, die auch hier bestehen.

Wenn ich auf die Niederlande zu sprechen komme, dann will ich nicht nur sagen, dass ich häufig hier gewesen bin, sondern auch, dass es immer auch meiner politischen Überzeugung entsprochen hat, dass Europa zwar eine gute deutsch-französische Zusammenarbeit braucht, diese am Ende aber nicht ausreichen wird. Was wir brauchen, ist vielmehr die Beteiligung – früher hätte ich gesagt: aller 28, jetzt muss ich leider sagen: – aller 27 EU-Mitgliedstaaten.

Und wenn ich sage: leider, dann weiß ich auch, dass wir beide – und ich glaube, der überwiegende Teil unserer jeweiligen Bevölkerung –, es bedauern, dass die Briten sich so entschieden haben. Vielleicht sind nicht allen, die für den Brexit gestimmt haben, die Konsequenzen jetzt schon restlos klar. Aber ich finde, dass wir realistischerweise davon ausgehen sollten, dass Umkehr kurzfristig nicht möglich ist, und deshalb ist es notwendig, dass die Verhandlungen zum Ende kommen. Deshalb sollten wir auch nicht froh darüber sein, wenn es in Großbritannien Schwierigkeiten im eigenen Land gibt. Das wird den Prozess noch weiter hinauszögern, und es wird vor allen Dingen die Konzentration in Brüssel zu sehr auf die Brexit-Verhandlungen legen und vielleicht zu viel Kraft rauben für das, was eigentlich notwendig ist: die entscheidenden Schritte zu gehen, zur Überwindung der europäischen Krise und der Stabilisierung der Euro-Zone.

Wem das alles in der Vergangenheit noch nicht klar war, dem müsste eigentlich in den vergangenen Monaten klar geworden sein, warum wir ein neues Selbstbewusstsein in Europa brauchen. Es ist eine neue Faszination des Autoritären, die sich rund um den Erdball breit macht. Russland und China sind Beispiele dafür. Aber wir erleben eben auch mehr als Irritationen im transatlantischen Verhältnis, und nach den Ankündigungen der zurückliegenden Woche zur Aufkündigung des Iran-Abkommens, aber auch mit Blick darauf, dass uns wahrscheinlich noch größere Schwierigkeiten in der internationalen Handelspolitik bevorstehen, ist das doch jetzt der Zeitpunkt, an dem – bei allen Schwierigkeiten und Defiziten, die dieses Europa haben mag – sich doch jeder noch einmal bewusst machen muss, dass es unser gemeinsames Interesse ist, dieses Europa handlungsfähig zu machen.

Ich hoffe, dass die Bereitschaft dazu bei allen europäischen Mitgliedstaaten besteht, und ich hoffe, dass Sie in wenigen Tagen in Sofia die entsprechende Erfahrung machen. Wir brauchen dieses Europa, und wir brauchen Kompromissfähigkeit für dieses Europa – jenseits der verständlichen eigenen nationalen Interessen. Wir sind, glaube ich, auch all denjenigen verpflichtet, die in einer viel schwierigeren Situation dieses Europa auf die Beine gestellt haben. Es ist Aufgabe unserer Generation, es zu erhalten und fortzuentwickeln und unseren Kindern verständlich zu machen, dass weder Demokratie noch Europa aus sich heraus leben, sondern immer wieder Engagement von den jeweiligen Bevölkerungen verlangen.

Ich bin mir sicher: Wir beide, die Niederlande und Deutschland, wir werden dieses Engagement zeigen, und deshalb darf ich den Toast gerne erwidern: Auf die deutsch-niederländische Freundschaft! Auf unsere Zusammenarbeit und eine gemeinsame Zukunft in Europa! Herzlichen Dank!