Eröffnung des Ludwig Erhard Zentrums

Schwerpunktthema: Rede

Fürth, , 18. Mai 2018

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 18. Mai bei der Eröffnung des Ludwig Erhard Zentrums in Fürth eine Ansprache gehalten: "Das Versprechen der Sozialen Marktwirtschaft von Aufstieg und sozialer Sicherheit ist seit Jahrzehnten Garant für politische Stabilität. Ohne dieses Versprechen gerät in unserer Gesellschaft etwas ins Rutschen. Ludwig Erhard selbst war überzeugt, dass eine freiheitliche Gesellschaft auf Voraussetzungen ruht, die Markt und Wettbewerb allein nicht garantieren können."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält bei der Eröffnung des Ludwig Erhard Zentrums eine Ansprache

Wir alle kennen das Foto. Ein Mann, leichter Wohlstandsbauch und rosige Wangen, sitzt im dunklen Anzug auf einem Sessel. Zufriedener Blick in die Kamera. In der einen Hand hält er seine Brille, in der anderen eine dicke Zigarre und seinen Bestseller Wohlstand für Alle – Ludwig Erhard, ganz so wie er sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat.

Mit vielen Kanzlern unserer Geschichte verbinden wir eine herausragende politische Leistung: Konrad Adenauer und die Westbindung, Willy Brandt und die Ostpolitik, Helmut Kohl und die Wiedervereinigung, mit Gerhard Schröder vielleicht die Reform der Arbeitsmarktpolitik. Bei Ludwig Erhard ist es zweifellos die D-Mark, das Wirtschaftswunder und das damit verbundene Versprechen, dass alle daran Anteil haben können.

Die Soziale Marktwirtschaft, seine Synthese aus freiem Wettbewerb und einem ordnenden Staat, hat dieses Versprechen eingelöst.

Was sich aus heutiger Sicht so überzeugend und schlüssig anhört, war damals durchaus unkonventionell und erst recht nicht unumstritten. Erhards Methoden, zum Beispiel die Aufhebung der Preisbindung, stießen selten auf ungeteilte Zustimmung. Von einer Pressekonferenz des Wirtschaftsrates der Bizone, das war Ende der 1940er Jahre, schrieb Marion Gräfin Dönhoff an Ihre Redaktionskollegen der ZEIT: Wenn Deutschland nicht schon eh ruiniert wäre, dieser Mann […] würde das ganz gewiss fertig bringen. Gott schütze uns davor, dass der einmal Wirtschaftsminister in Deutschland wird. Gräfin Dönhoff hat mit ihren Zeitdiagnosen häufig recht gehabt, hier hat die große liberale Publizistin geirrt. Wir können mit dem Abstand von 70 Jahren sagen: Gut, dass es anders gekommen ist.

Am Todestag Erhards am 5. Mai waren die Zeitungen voll anlässlich des 200. Geburtstages eines anderen Ökonomen – Sie ahnen, von wem ich spreche: Karl Marx. Vom Kurator Ihrer Ausstellung hörte ich nun zu meiner Überraschung, dass man gerade in China Erhard als spannenden Gegenpol zu Marx entdeckt habe. Das Ludwig Erhard Zentrum stelle sich deshalb auf die Busse mit Touristen aus China ein, die nach Trier jetzt auch einen Halt in Fürth machen würden.

Es lohnt sich, einen Moment bei diesem Gegensatzpaar zu verharren. Im Gegensatz zu Karl Marx‘ kategorischem, antagonistischem Denken, angelegt auf Klassenkampf und permanente Revolution, ist die Soziale Marktwirtschaft eben keine starre und geschlossene Ideologie. Und das zeichnet sie aus! Sie ist aufs Ausbalancieren angelegt. Sozialpartnerschaft, der fortdauernde Wettstreit der Ideen, wie diese Balance am besten funktionieren kann, wie wirtschaftliche Vernunft und sozialer Ausgleich unter ständig sich wandelnden Bedingungen auszutarieren sind – das ist ein Wesensmerkmal unserer Gesellschaft geworden, ein Markenzeichen unseres Landes, ja sogar ein Vorbild für viele in der Welt.

Wo sind freie Marktkräfte durch Kartellbildung oder Privilegien eingeschränkt? Wo muss der Staat ausgleichend oder vorsorgend ins Marktgeschehen eingreifen? Oder auch: Wie viel Ungleichheit verträgt eine auf Leistungsgerechtigkeit und Solidarität angewiesene Gesellschaft? Naturgemäß beantworten die politischen Lager in Deutschland solche Fragen nicht identisch. Das ist gut, denn das Angebot von unterschiedlichen – und vor allem unterscheidbaren – Antworten ist lebenswichtig für unsere Demokratie. Was zählt, ist aber das grundlegende Bekenntnis zu den Prinzipien unserer freien und sozialen Wirtschaftsordnung, dem sich – über die Jahre – alle demokratischen Parteien verpflichtet haben.

Diese Leistung, die zugleich eine bleibende Aufgabe ist, dokumentiert das Ludwig Erhard Zentrum. Ich glaube, Erhard wäre stolz auf sein Museum und seine Fürther – darauf, dass Sie ihm eben keine goldene Statue, sondern einen Ort für Aufklärung und Dialog gewidmet haben. Herzlichen Dank an alle, die das möglich gemacht haben. Für Ihren Einsatz haben Sie meinen allergrößten Respekt!

Ich bin 1956 geboren, ein Kind der Nachkriegsgeneration, aufgewachsen in einer Zeit, in der wir nicht alles hatten. Meine Mutter, mit Ihrer Mutter und Schwester und deren zwei kleinen Töchtern aus Breslau geflohen, selbst ohne Schulabschluss, hatte Verlust und Armut am eigenen Leib erfahren. Aber trotz aller Entbehrungen gab es für meine Familie eine entscheidende Verheißung, die uns – wie Millionen andere Familien – antrieb, die Hoffnung machte: Es ging aufwärts!

Mit der Währungsreform fassten die Menschen wieder Vertrauen in ihre Zukunft. So ist die D-Mark ein Symbol für Stabilität und Wohlstand geworden, gepaart mit Disziplin und Fleiß der Deutschen, der Beginn dessen, was wir später als Zeit des Wirtschaftswunders eingeordnet haben. Ludwig Erhard selbst fasste es anlässlich des 10. Geburtstages der D-Mark so zusammen: Aus Schutt und Trümmern, aus Not und Elend, aus Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung ist eine neue Welt entstanden.

Wir verdanken Erhard eine auf Freiheit und Rechtssicherheit gebaute Wirtschaftsordnung. Das war für ihn eine zentrale Lehre aus den Zerrüttungen der Währungs- und Wirtschaftskrisen, der Massenarbeitslosigkeit und des Massenelends der Weimarer Zeit, und es war eine Lehre aus der Willkür der Naziherrschaft. Aber es war gleichzeitig auch sein Gegenentwurf zum Kommunismus, der unter dem Deckmantel des Kollektivs die individuelle Freiheit in Fesseln legte.

Das Versprechen politischer und wirtschaftlicher Freiheit blieb während der Jahre der Teilung auch eine Hoffnung der Bürgerinnen und Bürger der DDR. Diese Freiheit und dieser Wohlstand waren wie ein Magnet, den kein Stacheldraht, keine Mauer schwächen konnte. Im Gegenteil: Je länger die DDR dauerte, je länger Freiheit unterdrückt wurde, je länger Wohlstand fehlte, desto mehr trieb es die Menschen der DDR allmontaglich auf die Straße. Dort auf den Straßen, im friedlichen Protest von Bürgerinnen und Bürgern, wurde das Ende der DDR besiegelt und Einheit in Freiheit geboren.

Erhard selbst war ein Utopist der Freiheit und des Wettbewerbs. Der überzeugte Atlantiker verstand seinen Liberalismus als den pursuit of happiness – das Recht jedes Menschen, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Dazu gehörte für Erhard aber kein entfesselter und ungeregelter Markt. Er wollte einen Markt, eingerahmt von einer wertegebundenen Sozialordnung, inklusive institutionalisierter Sozialpartnerschaft, in der alle die Chance erhalten, sich eigenen Wohlstand zu erarbeiten.

Die Globalisierung und immer schnellere Wellen technologischer Innovation haben eine wirtschaftliche Dynamik angestoßen, die wir uns vor einigen Jahren kaum vorstellen konnten. Disruption ist das Wort der Stunde. Was machen diese Umbrüche mit der Sozialen Marktwirtschaft? Braucht die Industrie 4.0 ein Update unserer Wirtschaftsordnung, hin zur Sozialen Marktwirtschaft 4.0?

Zunächst: Die Globalisierung hat neue Märkte geöffnet. Deutschland profitiert als exportorientiertes Land davon in besonderem Maße. Gleichzeitig steigt auch der Anpassungsdruck auf unsere Volkswirtschaft, um gegenüber der Konkurrenz im globalen Wettbewerb zu bestehen.

Die Digitalisierung ist ein Beschleuniger dieser Entwicklung. Glasfaserkabel vernetzen die Welt und transportieren ihre Fracht in Sekunden über tausende Kilometer. Sie ermöglichen neue Formen der globalen Arbeitsteilung.

Das sind zunächst einmal riesige Herausforderungen für die Unternehmen in Deutschland. Wir sehen heute schon, wie sich auch die Arbeitswelt dadurch massiv verändert. Die Anforderungen an die Arbeitnehmerinnen und Arbeiternehmer werden anspruchsvoller. Das ist zunächst eine gute Nachricht, denn gute Ausbildung und hohe Qualifikation ist das Markenzeichen unseres Wirtschaftsstandortes.

Wir sollten aber auch die Prognosen ernst nehmen, die weniger das Ende der Arbeit, eher eine Polarisierung der Arbeitswelt voraussagen.

Erstens: Während die Löhne und Honorare der gut Ausgebildeten, Mobilen und Flexiblen in Zukunft steigen dürften, besteht die Gefahr, dass für die weniger Qualifizierten und Mobilen auch weniger in der Lohntüte bleibt.

Zweitens: Digitale Plattformen entwickeln sich als Gegenmodell zum klassischen Betrieb. Entbetrieblichung ist das Stichwort. Wie geht es mit der Sozialpartnerschaft weiter, wenn der Arbeitgeber verschwindet und die Plattform nur noch Arbeit vermittelt?

Drittens: Was bedeutet es für die soziale Sicherung, wenn das Normalarbeitsverhältnis nicht mehr die Regel sein sollte? Wer zahlt bei Krankheit und Urlaub? Wie bleibt das Rentensystem nachhaltig finanziert?

Fragen von morgen, die wir heute beantworten müssen! Das Versprechen der Sozialen Marktwirtschaft von Aufstieg und sozialer Sicherheit ist seit Jahrzehnten Garant für politische Stabilität. Ohne dieses Versprechen gerät in unserer Gesellschaft etwas ins Rutschen. Ludwig Erhard selbst war überzeugt, dass eine freiheitliche Gesellschaft auf Voraussetzungen ruht, die Markt und Wettbewerb allein nicht garantieren können.

Wir sollten diese Fragen deshalb nicht als Schwarzseherei abtun. In der Polarisierung unserer Gesellschaft zwischen Stadt und Land oder zwischen den Gutverdienern und denen, die Angst vor Jobverlust und sozialem Abstieg haben, steckt Sprengkraft. Nicht erst seit der Bundestagswahl wissen wir: Überall, wo der Strukturwandel besonders stark zuschlägt, überall dort haben diejenigen den stärksten Zulauf, die mit einfachen Antworten die Rückkehr zu einer angeblichen heilen Welt versprechen. Das hat sich in anderen Ländern eher und stärker gezeigt, aber augenscheinlich machen diese Entwicklungen auch vor uns nicht Halt.

Die Antworten darauf fallen unterschiedlich aus. Aktive Gestaltung der Folgen von Globalisierung und Digitalisierung oder Rückzug in die Wagenburg und Beschwörung der Vergangenheit. Ich befürchte: Die Antworten auf die wahrhaft großen Fragen der Zukunft werden in der Vergangenheit kaum zu finden sein. Und Schranken gegen internationale Kartell- und Monopolbildung werden kaum im nationalen Rahmen zu errichten sein. Im Gegenteil: Wer sich zurückzieht, anstatt gemeinsam mit anderen für Standards und Regelsetzung zu werben, der verliert an Kontrolle und Einfluss. Denn dann bestimmten andere die Regeln des Welthandels, die Standards bei der Elektromobilität oder die Grenzen der Privatsphäre.

Unsere Interessen müssen wir insbesondere im digitalen Raum verteidigen. Als Vater des Kartellamts kämpfte Erhard gegen marktbeherrschende Konglomerate. Dieser Kampf war langwierig und umstritten, in Teilen der Industrie, aber auch in Erhards eigener Partei. So dauerte es vom ersten Vorschlag für ein unabhängiges Monopolamt noch neun Jahre, bis das Kartellamt vor 60 Jahren seine Arbeit aufnahm.

Heute sehen wir, wie sich im digitalen Datenmarkt neue Riesen etablieren, Big Five genannt, die Erhard vermutlich ganz ähnliche Bauchschmerzen bereitet hätten. Denn die neuen Digitalgiganten verbuchen riesige Gewinne und zahlen dafür relativ wenig Steuern, erst recht nicht in Europa.

Dazu kommt: Die Angebote der digitalen Netzwerke scheinen kostenlos, aber wir zahlen mit der Preisgabe unserer persönlichen Daten einen Preis, den wir kaum kalkulieren. Daten sind die Währung auf diesem Markt. Das wussten wir auch schon vor dem jüngsten Skandal um Facebook. Die monopolhafte Konzentration von Daten und Macht ist etwas, was uns Sorge bereiten muss, und zwar überall auf der Welt, nicht nur da, wo Macht und Daten sich im staatlichen Rahmen konzentrieren! Klassische nationale Wettbewerbsvorschriften schaffen hier keine Abhilfe. Aber ich bin sicher: Ludwig Erhard hätte die Notwendigkeit einer internationalen Ordnungspolitik für den Datenmarkt gesehen. Und vermutlich hätte er zustimmend genickt, als ich am vergangenen Sonntag beim DGB-Bundeskongress über die Notwendigkeit einer Ethik der Digitalisierung gesprochen habe, um die Digitalisierung der Gesellschaft und unser westlich-liberales Demokratiemodell kompatibel zu halten.

Erhard konnte die technischen Umbrüche unserer Zeit nicht erahnen, aber er war nicht altmodisch. Ich freue mich deshalb, dass Sie aus diesem Museum kein Antiquitätenkabinett gemacht haben, sondern einen lebendigen Ort der Diskussion.

Der Zukunftsraum des Museums, den wir gerade besichtig haben, überträgt Erhards Denken in die heutige Zeit. Stellen Sie sich vor, Erhard würde heute seinen Bestseller herausgeben. Wie sähe das aus? Vielleicht säße er wieder mit einem Lächeln auf einem Sofa. Trotz Rauchverbots mit einer Zigarre in der einen Hand. Und wahrscheinlich mit einem Tablet anstelle eines Buchs in der anderen. Aber der Titel seines Werks und der Anspruch seines Wirkens blieben die gleichen: Wohlstand für Alle.

Nun ist Ludwig Erhard nicht mehr da – aber dieser Anspruch bleibt.

Herzlichen Dank!