4. Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie: "Gesellschaft ohne Politik? Liberale Demokratien in der Bewährungsprobe"

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 23. Mai 2018

Der Bundespräsident hat am 23. Mai beim vierten Forum Bellevue "Gesellschaft ohne Politik? Liberale Demokratien in der Bewährungsprobe" in Schloss Bellevue eine Ansprache gehalten: "Heute, am Tag des Grundgesetzes, wird uns in besonderer Weise bewusst, wie zerbrechlich und vor allen Dingen wie wenig selbstverständlich die Demokratie ist. Und der Rückblick auf die vergangenen 69 Jahre macht uns auch noch einmal klar: Demokratie ist nicht, Demokratie wird ständig."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede beim vierten Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie: 'Gesellschaft ohne Politik? Liberale Demokratien in der Bewährungsprobe' im Großen Saal von Schloss Bellevue

Heute ist ein besonderer Tag: Vor genau 69 Jahren, am 23. Mai 1949, wurde das Grundgesetz feierlich unterzeichnet. Es war die Geburtsstunde unserer repräsentativ-parlamentarischen Ordnung und es ist natürlich kein Zufall, dass wir unsere Gesprächsreihe zur Zukunft der Demokratie gerade an diesem Jahrestag fortsetzen.

Die Väter und Mütter des Grundgesetzes standen unter dem Eindruck des Scheiterns der Weimarer Republik. Sie wussten, dass eine Demokratie auf Voraussetzungen beruht, die eine Verfassung allein nicht garantieren kann. Demokratie braucht Demokratinnen und Demokraten, die bereit sind, sich zu engagieren und mitzuarbeiten. Sie braucht Bürgerinnen und Bürger, die den anderen als Gleichen respektieren und das eigene Interesse nicht absolut setzen, die den Mut zum offenen, aber fairen Meinungsstreit und den gleichen Mut – nicht weniger wichtig – zum Kompromiss haben. Das setzt ein Interesse am Gemeinwesen voraus – jedenfalls mehr als nur Indifferenz und Gleichgültigkeit.

Einer der Architekten des Grundgesetzes, der spätere Bundespräsident Theodor Heuss, hat das sehr schön auf eine einfache Formel gebracht: Das ohne mich, sagte er einmal, ist die Zerstörung aller demokratischen Gesinnung, die im Wesenhaften auf dem ‚mit mir‘, ‚mit dir‘ beruht.

Wir wissen, diese demokratische Gesinnung musste sich in der Bundesrepublik erst allmählich entwickeln. Und in Ostdeutschland haben die Menschen die demokratische Praxis erst mit und nach der Friedlichen Revolution einüben können. Das ging alles nicht von heute auf morgen und auch nicht ohne Rückschläge und Enttäuschungen. Aber es ist schwer zu bestreiten, dass – jenseits der Veränderungen –Deutschland zu einer lebendigen Demokratie mit stabilen Institutionen geworden ist. Im Vergleich zu vielen anderen Ländern leben wir heute in einer weltoffenen Gesellschaft mit gut informierten und engagierten Bürgern, mit vielfältigen und unabhängigen Medien, und ich füge hinzu: durchaus mit verantwortungsbewussten Politikerinnen und Politikern.

Ich sage das deshalb, weil es in letzter Zeit ein wenig in Mode gekommen ist, die Apokalypse auszurufen und das Ende der liberalen Demokratie zu prophezeien. Ich will nicht einstimmen in diesen Chor der Untergangspropheten. Und ich glaube sogar, dass es gefährlich ist, wenn Demokraten sich in die Depression hineinreden, statt mit Leidenschaft für ihre Institutionen und Überzeugungen zu werben und zu streiten.

Gerade weil wir in einer stabilen Ordnung leben, sollten wir uns selbstbewusst den Herausforderungen stellen, denen die Demokratie heute ausgesetzt ist und die sie auf die Bewährungsprobe stellen, in Deutschland, in Europa und in vielen Teilen der Welt. Und das wollen wir heute gemeinsam tun.

Der positive Befund ändert nichts daran, dass Veränderungen stattfinden. Wir alle spüren, dass etwas ins Rutschen geraten ist in den liberalen Demokratien. Auch in unserer Gesellschaft sind Risse entstanden, Hass und Verachtung haben Einzug gehalten in den politischen Diskurs. Die demokratische Haltung des mit mir und mit dir, die Theodor Heuss beschrieben hat, ist in manchen Teilen der Gesellschaft einem ohne mich oder sogar einem gegen die gewichen, das wahlweise durch ein gegen die da oben verstärkt wird.

Wir erleben zum Beispiel, dass viele Bürgerinnen und Bürger sich zwar mit großer Leidenschaft in der Zivilgesellschaft engagieren, aber kein Interesse daran haben, sich in politischen Parteien und demokratischen Institutionen einzubringen. Es macht mir Sorgen, wenn ich sehe, wie extrem schwer es den Parteien vor wenigen Wochen in Thüringen gefallen ist, Kandidaten für die Stadt- und Gemeinderäte zu finden.

Ganz offenbar ist das Vertrauen gerade auch jüngerer Bürgerinnen und Bürger in die demokratischen Institutionen gesunken. Mindestens sehen sie Parlamente gar nicht mehr als Orte an, an denen Lösungen gefunden werden, die ihr Leben verbessern. Ihr ohne mich speist sich oft auch aus einer ironischen bis zynischen Distanz gegenüber dem politischen Betrieb, manchmal sogar aus der Verachtung von Politikern und Institutionen. Distanz zur Politik ist für viele schick geworden, mindestens erspart sie Rechtfertigung, warum man sich dort engagiert.

Wir erleben aber auch, dass neue politische Kräfte aufkommen, die massiv Stimmung machen gegen das sogenannte Establishment, gegen ein angebliches Machtkartell der Eliten in Politik, Medien und Wirtschaft. Sie beanspruchen, alleinige Vertreter des wahren Volkswillens zu sein, tun den Kompromiss als Schwäche ab, versprechen einfache Lösungen – und richten sich oft gegen gesellschaftliche Minderheiten. Wir gegen sie, das ist hier die vorherrschende Haltung.

Manche Bewegung plädiert für direktdemokratische Verfahren oder will eine digitale Klick-Demokratie einführen, um dem Volkswillen zum Durchbruch zu verhelfen. Wir müssen uns fragen, ob nicht auch hier eine Sehnsucht nach Erlösung von der Politik zum Ausdruck kommt, der Wunsch, dem zähen Ringen am Verhandlungstisch, dem mühsamen Ausgleich unterschiedlicher Interessen zu entkommen. Deshalb finde ich es gar nicht so erstaunlich, wenn der französische Publizist Jacques de Saint Victor mit Blick auf manche Strömung dieser Tage von den Antipolitischen spricht. Eine umstrittene These, über die zu reden sein wird.

Aber natürlich ist es wenig erhellend, wenn wir nur mit groben Etiketten hantieren. Auch die Bezeichnung von Bewegungen und Parteien als populistisch hilft selten weiter. Für die einen ist sie Rechtfertigung, bei fundamentaler Kritik nicht mehr genau hinzuhören, und die anderen fühlen sich ganz wohl mit dem Vorwurf, nur die Stimme des eigentlichen Volkes, des wahren Volkes zu sein. In dieser Rollenverteilung gehen sich beide Seiten aus dem Wege. Auseinandersetzung tut not, Demokratie lebt davon! Die Frage ist nur: Wo verlaufen die Grenzen für diese Auseinandersetzung?

Wie schwierig Grenzziehungen sind, zeigt einer unserer heutigen Podiumsteilnehmer, wenn er schreibt: Vor absurden Politikvorschlägen und scharfen Tönen braucht sich niemand zu fürchten. Der Populismus mag so anti-Establishment sein, wie er will, solange er nur nicht antiparlamentarisch und antidemokratisch ist.

Schön gesagt! Aber ist nicht genau das das Problem? Haben wir es nicht genau damit – mit diesem antiparlamentarischen Reflex – in vielen westlichen Demokratien zu tun? Und haben wir nicht in der ersten Demokratie auf deutschem Boden die Erfahrung gemacht, dass radikaler Populismus gerade auf die Verächtlichmachung der politischen Institutionen und ihrer Repräsentanten setzt?

Bonn ist nicht Weimar, und Berlin ist es erst recht nicht. Aber ich bin, wie viele in meiner Generation, geprägt von zum Beispiel Kurt Sontheimers Analyse, der zufolge maßlose und medial massenhaft verbreitete System- und vor allem Parlamentarismuskritik das Scheitern der Demokratie von Weimar vorbereitet haben. Hat sich der Befund eigentlich historisch erledigt? Oder ist er wieder aktuell in Zeiten, in denen das Scheitern des Rechtsstaats oder das Scheitern der Demokratie gleich mehrfach im Jahr ausgerufen wird?

Gleichgültigkeit gegenüber dem Politischen, Abkehr von den demokratischen Institutionen, Ressentiments gegen das Establishment – darüber wollen wir heute diskutieren, hier beim vierten Forum Bellevue.

Wir wollen nach den gesellschaftlichen Ursachen dieser Entwicklungen fragen, aber auch nach Mängeln unserer repräsentativen Verfahren. Und wir wollen fragen, was wir tun können, damit unsere Demokratie lebendig bleibt, damit politisches Engagement für möglichst viele Bürger attraktiv bleibt oder wird. Besonders wichtig sind mir dabei auch neue Formen der Beteiligung, die etablierte Institutionen ergänzen und die Debatte bereichern können. Denn es ist doch gerade eine Stärke unserer demokratischen Ordnung, dass sie nicht institutionell erstarrt ist, sondern offen bleibt für Veränderung.

Ich freue mich, dass ich heute Nachmittag drei streitbare public intellectuals hier begrüßen kann, die aus ganz unterschiedlichen Perspektiven auf das Thema schauen und auch sehr unterschiedliche Vorschläge gemacht haben, wie die Demokratie belebt werden könnte.

Christoph Möllers ist Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität hier in Berlin.

Vor einigen Monaten hat er in der Zeitschrift Merkur eine bürgerliche Mittelschicht beschrieben, die es sich angewöhnt habe, ich zitiere, an eine Welt ohne Politik zu glauben oder zumindest an eine, in der Politik ihnen weder etwas nehmen noch etwas geben kann.

Es geht ihm um Bürger, die sich selbst gar nicht als unpolitisch verstehen, weil sie zur Wahl gehen, sich in Vereinen und Projekten engagieren, Protest twittern – oder eben schlaue Analysen über den Verfall der politischen Kultur lesen oder schreiben. Aber um die politischen Institutionen im engeren Sinne kümmern sie sich seiner Beobachtung nach nicht.

Wer die Ordnung so, wie sie ist, für schützenswert hält, schreibt er, wird sich ihren politischen Formen anvertrauen müssen. Sein Appell, sich einzumischen, in politische Parteien einzutreten und einen relevanten Teil seiner Zeit für politisches Engagement bereitzustellen, ist mir natürlich sympathisch, das wird Sie nicht überraschen.

Aber woran liegt es eigentlich, dass sich Teile der Gesellschaft von der Politik abgewandt haben? Wie können wir die Kluft, die sich da offenbar aufgetan hat, überwinden? Inwiefern müssen sich auch die Parteien verändern? Über all das will ich gleich mit ihm sprechen. Herzlich willkommen, Christoph Möllers!

Ich freue mich, eine Wissenschaftlerin begrüßen zu können, die sich mit verschiedenen Formen der Politisierung beschäftigt, die wir ja in Europa seit einigen Jahren in unterschiedlicher Weise ebenfalls beobachten können. Donatella della Porta ist Professorin für Politikwissenschaft an der Scuola Normale Superiore in Florenz, und sie erforscht soziale Bewegungen und politischen Protest und kann uns – aus aktuellem Anlass – ganz viel sagen über ein Land, das die Sorgenfalten auf der Stirn der Europäer zur Zeit noch tiefer werden lässt. Vielleicht sagt sie uns, dass wir uns zu viel Sorgen machen. Denn in ihrer Unterscheidung von regressiven und progressiven Kräften ordnet sie die Cinque Stelle, die in Italien kurz vor dem Eintritt in die Regierung stehen, in die Kategorie der Progressiven – der positiven politischen Kräfte – ein. Ich würde gleich gern von ihr erfahren, was an dieser Bewegung ihrer Meinung nach fortschrittlich ist – und ob sie sicher ist, dass linker Populismus die Demokratie stärkt und nur der rechte schadet. Warum – das muss sie uns gleich verraten.

Jedenfalls ist politischer Protest laut Donatella della Porta ein Indikator für Unzulänglichkeiten der repräsentativen Demokratie: Die Parteien seien nicht mehr in der Lage, die drängenden Fragen in das politische System einzuspeisen, die die Bürger bewegen. Sie fordert deshalb mehr Beteiligungschancen, mehr deliberative Demokratie.

Aber was genau haben wir uns darunter vorzustellen? Inwiefern verändern die neuen Bewegungen bestehende Parteiensysteme? Stärken oder schwächen sie die repräsentative Demokratie? Darüber will ich gleich mit ihr diskutieren.

Schön, dass Sie heute bei uns sind – Benvenuta, Signora della Porta!

Mein dritter Gast ist David Van Reybrouck. Er kommt aus Belgien, ist Historiker und Archäologe, Schriftsteller und Dramatiker, und seine Essays Für einen anderen Populismus und Gegen Wahlen haben auch in Deutschland für großes Aufsehen gesorgt.

David van Reybrouck sieht die repräsentative Demokratie in einer dramatischen Krise. Die Ursache dafür, meint er, sei eine wachsende Kluft zwischen bildungsfernen Schichten und hochqualifizierten Eliten. Populismus sei der Hilferuf der geringqualifizierten und in Vergessenheit geratenen Wähler, die sich in ihren Abgeordneten nicht mehr wiedererkennen könnten.

Statt diese Wähler von oben herab zu betrachten und auszugrenzen, will Van Reybrouck sie in den politischen Prozess einbinden – und Orte schaffen, an denen sich Menschen unterschiedlicher Schichten begegnen und austauschen könnten. Nicht ganz neu, wird der eine oder andere im Saal sagen, aber David van Reybrouck fordert mit seiner Bürgerplattform G1000 nicht nur mehr Mitsprache in Europa; richtig revolutionär klingt seine weitere Idee: Er plädiert auch dafür, das gewählte Parlament um eine zweite Kammer zu ergänzen, deren Mitglieder nach dem Losverfahren bestimmt werden. Das ist eine Auffassung, die nicht per se antiparlamentarisch ist, aber Wahlen hält David van Reybrouck für ein primitiv-aristokratisches Element, und Demokratie, die nur auf Wahlen beruht, hält er für insuffizient – und deshalb sein Votum für eine so genannte aleatorische Demokratie, die sich auch auf Zufallselemente stützt.

Solche Vorschläge klingen überraschend, sogar fremd, und ich habe, gerade mit Blick auf Deutschland, dazu viele Fragen. Zum Beispiel würde ich gern wissen, inwiefern der Populismus eine Bereicherung für die Demokratie sein kann: Welche neuen Probleme setzt er auf die Tagesordnung, welche blinden Flecken deckt er auf?

Er wird es uns gleich selbst erklären: Auch Ihnen ein herzliches Willkommen, David Van Reybrouck!

Heute, am Tag des Grundgesetzes, wird uns in besonderer Weise bewusst, wie zerbrechlich und vor allen Dingen wie wenig selbstverständlich die Demokratie ist. Und der Rückblick auf die vergangenen 69 Jahre macht uns auch noch einmal klar: Demokratie ist nicht, Demokratie wird ständig. Wir können sie nicht, wie der Politologe Klaus von Beyme einmal gesagt hat, als getrocknete Spezies der Regierungsformenlehre in der geistigen Botanisiertrommel aufbewahren.

Deshalb freue ich mich, dass wir jetzt über die Demokratie der Zukunft diskutieren können, hier auf dem Podium und dann im ganzen Saal.

Ich freue mich jedenfalls, dass Sie gekommen sind zu dieser Veranstaltung. Ihnen allen ein herzliches Willkommen im Schloss Bellevue!