Festakt "60 Jahre Aktion Sühnezeichen Friedensdienste"

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 27. Mai 2018

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 27. Mai beim Festakt "60 Jahre Aktion Sühnezeichen Friedensdienste" in der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin eine Ansprache gehalten: "Schande ziehen die auf sich, die erneut die Verbrechen des Vernichtungskrieges und des Völkermords bagatellisieren. Wir sollten uns bewusst machen: Historische Aufklärung und politische Verantwortung sind Wesenskern unserer Demokratie."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache in der Französischen Friedrichstadtkirche anlässlich des Festakts 60 Jahre Aktion Sühnezeichen Friedensdienste in der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin

Ich begrüße Sie, verehrter Herr Bacon, und die weiteren anwesenden Zeitzeugen, die Sie so unermessliches Leid während des nationalsozialistischen Terrorregimes erlitten haben, ganz herzlich. Ich bin sehr dankbar dafür, dass Sie alle heute – zu diesem Anlass – hier bei uns sind.

Ich möchte Jehuda Bacon danken, natürlich für seine Worte, tatsächlich aber für sehr viel mehr.

Als ich Ihre Geschichte zum ersten Mal hörte, lieber Herr Bacon, dachte ich, wir sollten Ihnen – noch mehr als für Ihre Worte - für Ihr Leben danken. Dafür, dass Sie es und wie Sie es leben.

Wer Ihre Geschichte kennt, weiß, dass Überleben im Moment der Entscheidung keine Frage des Instinktes war.

So lange wir leben, müssen wir uns entscheiden lautet der Titel Ihres Buchs, das Sie mit Manfred Lütz gemeinsam geschrieben haben. Es ist gleichzeitig die Schlussfolgerung, die Sie für Ihr Leben nach Auschwitz gezogen haben.

Ja, wir müssen uns immer wieder entscheiden! Doch die grausame Entscheidung, zu leben oder zu sterben, ist eine, vor die von uns hier im Saal die allerwenigsten gestellt wurden – ganz zu schweigen von den Umständen, unter denen Sie sie treffen mussten. Kaum einer vermag sich vorzustellen, was es bedeutet, der menschenverachtenden Logik eines Regimes ausgeliefert zu sein, das sich anmaßte, über Leben und Tod zu gebieten.

Weil wir aber aufgefordert sind und es immer bleiben werden, zu verhindern, dass Geschichte sich wiederholt, brauchen wir Menschen wie Sie, lieber Jehuda Bacon. Nicht nur, weil Sie bereit sind, mit uns in diesen Abgrund zu sehen, sondern weil Sie uns ein Beispiel gegeben und uns gezeigt haben, dass wir uns nicht fürchten müssen.

Wir können uns entscheiden. Ja, wir bleiben ein Leben lang aufgefordert, uns zu entscheiden. Das haben Menschen wie Sie uns gelehrt. Eben deshalb kann sich die Aktion Sühnezeichen keinen besseren Redner zu ihrem 60-jährigen Bestehen wünschen, als Sie.

Noch einmal: Großen Dank dafür, dass Sie hier sind!

Wer die Verbrechen, die in der Zeit des Nationalsozialismus begangen wurden, wer das Leid das angerichtet wurde, nicht gewollt habe, der habe nicht genug getan, es zu verhindern, heißt es im Gründungsaufruf der Aktion Sühnezeichen vor 60 Jahren.

Der Satz ist so einfach wie klar. Er galt für die Generation derer, die den Nationalsozialismus erlebt und mit ihm gelebt haben. Umstritten war es immer, von Schuld zu sprechen, wo ein Kollektiv gemeint ist. Und doch war das Schuldbekenntnis ein notwendiger Schritt, um das Verschweigen der Verbrechen aufzubrechen. Heute, mit Blick in die Zukunft, gilt für uns Nachgeborene aber ein ebenso klares Gebot der Verantwortung: Wer den Abgrund vermeiden will, muss ihn kennen, er muss wissen, wo er droht, welche Gestalt er annehmen kann und mit welcher Sprache er spricht.

Und er muss genug tun, ihn keine Macht über sich und andere gewinnen zu lassen. Deshalb werden sich auch die nachgeborenen Generationen den Blick zurück nicht ersparen können.

Die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste aber wollte noch mehr als das. Ihr Gründer, Lothar Kreyssig, und seine wenigen Weggefährten wollten Zeichen setzen. Zeichen der Anerkennung von Schuld und Verantwortung, vor allem in den Ländern, die unter der deutschen Herrschaft in Europa am meisten gelitten hatten, in Polen und Russland, aber auch in Israel, dem Staat, dessen Gründung mit den deutschen Verbrechen an den Juden Europas verknüpft bleiben wird.

Kreyssig wollte Zeichen setzen, weil er erkannt hatte, dass es ohne diese Anerkennung deutscher Verantwortung keine friedliche Zukunft geben würde in Europa. Er wollte es, weil er wusste, dass ohne dieses Bekenntnis die Deutschen auch mit sich selbst unversöhnt bleiben würden. Kreyssig, der nach dem Mauerbau zunächst in der DDR blieb, gab die Leitung der gesamtdeutschen Organisation 1962 ab. Die Aktion Sühnezeichen aber war unter seiner Führung auch in der DDR eine Brücke, über die Deutsche aus beiden Teilen des Landes verbunden blieben. Man teilte die Verantwortung für die gemeinsame Geschichte – ob man wollte oder nicht! Denn beide deutsche Staaten konnten die Vergangenheit nicht einfach abschütteln, sie konnten die Geschichte auch nicht umschreiben.

Lothar Kreyssig zog seine Lehren aus dem Leben in einem Staat, der nach massenhaftem Mord und grausamsten Menschheitsverbrechen untergegangen war: Er wollte einen anderen deutschen Staat, einen Rechtsstaat. Kreyssig, dieser ehemalige Landgerichtsrat aus Chemnitz, der sehr befähigte Richter, gleich gut in Straf- und Zivilrecht, mit einem offenen, ehrenhaften Charakter, verantwortungsbewusst und gewissenhaft, wie es in seiner Personalakte von 1935 heißt; der sich aber – erwartungsgemäß – unter dem nationalsozialistischen Regime gleichwohl nicht für höhere Aufgaben empfahl, weil er mannhaft seine Meinung gegenüber jedermann vertrat – auch die über den nationalsozialistischen Staat!

Und er hatte, schon bald nach 1933, keine gute Meinung vom nationalsozialistischen Staat. Er machte keinen Hehl aus seiner ablehnenden Haltung gegenüber dem Regime, wie an anderer Stelle vermerkt wird. Der NSDAP trat er nie bei. Seine Entlassung aus dem Justizdienst war eine Frage der Zeit.

Als er erfährt, dass aus der Heilanstalt Brandenburg-Görden entmündigte Geisteskranke geheim und ohne Wissen der Vormundschaftsrichter in die Tötungsanstalt Hartheim gebracht werden, erstattete er Strafanzeige wegen Mordes gegen den zuständigen Reichsleiter Philipp Bouhler, Hitlers Beauftragten für die Aktion T4.

Ein Führerwort schafft kein Recht bleib seine Überzeugung. Und er hielt sie nicht zurück!

Wer den Willen des Führers als Quelle der Rechtsschöpfung nicht anerkennen wollte, hatte keinen Platz im nationalsozialistischen Unrechtsstaat, erst recht nicht in der Justiz. Der bekennende Christ Kreyssig hatte seine Entscheidung getroffen: nicht mitzulaufen, sondern nach seinem Gewissen zu handeln. Er kündigte Widerstand an: Recht ist, was dem Volke nützt. Im Namen dieser furchtbaren, von allen Hütern des Rechtes in Deutschland noch immer unwidersprochenen Lehre, sind ganze Gebiete des Gemeinschaftslebens vom Rechte ausgenommen, schrieb Kreyssig am 8. Juni 1940 an den Reichsjustizminister Franz Gürtner. Er ahnte, dass die Aktion T4, die Tötung sogenannten unwerten Lebens, erst der Anfang ist, dass hier nicht nur rechtsfreie Räume geschaffen werden, sondern das Recht selbst beseitigt werden sollte. Wie hätte er, als guter Jurist, der er war, vor dieser Entwicklung die Augen verschließen können?

Und selbstverständlich weiß Lothar Kreyssig, warum er 1958, mehr als ein Jahrzehnt nach Kriegsende, unter seinen Landsleuten dumpfe Betäubung und angstvolle Selbstbehauptung beobachtet, wie er im Gründungsaufruf der ASF schreibt – eine kaum verbrämte Umschreibung für den Unwillen der Deutschen, sich ihrer Vergangenheit zu stellen.

Was in der Bundesrepublik lange mit dem Begriff Vergangenheitsbewältigung umschrieben wurde, die Übernahme von Verantwortung für das Unrecht, das in deutschem Namen in Europa verübt worden war, hielt Kreyssig für die Voraussetzung einer Rückkehr in die Weltgemeinschaft und der Integration Deutschlands in Europa. Die Sühnezeichen und Friedensdienste – zuerst in den westeuropäischen, später auch in den osteuropäischen Nachbarländern – sollten die Spaltung Europas überwinden helfen und, nach dem Verständnis Kreyssigs, zu einem neuen, vertieften Verstehen von Nachbarschaftlichkeit der Völker führen.

Was es bedeutet, diese Idee umzusetzen, habe ich aus vielen Gesprächen mit Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen erfahren können. Es waren schöne, besonders lebendige Begegnungen, bei denen immer spürbar war, welch ungeheuren Erfahrungsschatz diese jungen Menschen in den Monaten ihres freiwilligen Dienstes schon angesammelt hatten, wieviel sie daraus schöpfen und wie gut sie andere daran teilhaben lassen konnten. Eine Begegnung in Jerusalem ist mir besonders deutlich in Erinnerung.

Meine Frau und ich saßen dort einer Gruppe von jungen Leuten gegenüber, für die dieses Jahr sehr viel mehr war als ein Jahr zwischen Schule und Ausbildung oder Studium. Es war eine Zeit der Orientierung. Alle hatten intensiv über die israelisch-deutschen Beziehungen und ihre Rolle darin nachgedacht und diskutiert. Einer von ihnen – das hat mich besonders gefreut – hatte sich entschieden, in die Politik zu gehen.

Aus Gesprächen mit Christoph Heubner, dem ich bei unserem Engagement für Osteuropa und Polen immer wieder begegnet bin, habe ich lernen dürfen, was der Friedensdienst der Aktion Sühnezeichen für viele Freiwillige und Hauptamtliche bedeutet. Lieber Stefan Reimers, Sie alle, die Sie heute in der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste Verantwortung tragen, stehen für ihre Ziele und Werte in einer Zeit, in der Zeitzeugen der NS-Jahre kaum noch zur Verfügung stehen, und vieles droht, verdrängt und vergessen zu werden.

Umso dringender ist, dass wir denen, die heute in Berlin demonstrieren, sagen: Verantwortung vor der Geschichte kennt keinen Schlussstrich!

Was ist geworden aus Kreyssigs Aufruf zu einem neuen Verständnis von Nachbarschaftlichkeit unter den Völkern? Was ist seine Aktualität? 180 Freiwillige in 13 Ländern begleiten alte Menschen, Überlebende der Shoah, Hilfsbedürftige, Menschen mit physischen und psychischen Beeinträchtigungen. Im vergangenen Jahr organisierte die Aktion Sühnezeichen 26 Sommerlager in 17 Ländern Europas, sie engagiert sich in politischen und historischen Bildungsprojekten. Sie sensibilisiert für die Folgen von Nationalsozialismus, Antisemitismus und Rassismus in der Vergangenheit und in der Gegenwart. Ein Schwerpunkt des vergangenen Jahres 2017 war das Projekt Unterdrückung und Widerstand. Chancen von Zivilgesellschaft in Geschichte und Gegenwart Europas, das von der EU gefördert wird. Vier Sommerlager in Litauen, Italien, Griechenland und Ungarn haben sich mit den Kernbotschaften der Aktion Sühnezeichen befasst: Speak out for Peace, Remember (your) history, Welcome refugees und Resist populists. Die Aktion Sühnezeichen ist mit politischen Bildungsprogrammen wie diesen eine unverzichtbare Rückversicherung gegen Rechtspopulismus, Geschichtsrevisionismus, Fremden- und Europafeindlichkeit.

Aber es geht in der Erinnerungsarbeit auch um Momente des Innehaltens, wie sie Charlotte Kaiser, Jahrgang 1999, beschreibt, die als Freiwillige in den USA am Illinois Holocaust Museum and Education Center arbeitete. Das Erinnern an die Gräueltaten der Nationalsozialisten ist für sie eine Geste der Demut gegenüber den Opfern.

Aus der Nachbarschaftlichkeit unter den Völkern, die Lothar Kreyssig wollte, ist mit Hilfe der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste das geworden, was wir heute lebendige Zivilgesellschaft nennen.

Das 60-jährige Bestehen der Aktion Sühnezeichen ist eine gute und schöne Gelegenheit, neben dem Wirken des ASF auch der Gründungsgeschichte und dem Gründer nachzugehen. Ja, ich denke, wir hätten in der Vergangenheit häufiger und empathischer auf Vorbilder wie Lothar Kreyssig oder Fritz Bauer verweisen müssen, deren Beispiele zu lange zu wenige kannten. Dass Fritz Bauer, den ich in wenigen Wochen in der Frankfurter Paulskirche ehren darf, ein großer Befürworter und Förderer der Aktion Sühnezeichen war – er vermachte einen Großteil seines Vermögens der ASF –, wusste ich bis vor kurzem nicht.

Die Verantwortung für die eigene Geschichte anzunehmen, war ein langer, mitunter mühevoller Prozess. Er war keine oktroyierte Umerziehung und keine Demütigung, sondern eine langsame aber nachhaltige Selbsterkenntnis und letztlich eine Selbstbefreiung. Zu ihr gibt es für uns Deutsche auch heute keine Alternative. Das sage ich mit Blick auf manche neue geschichtsrevisionistische Manöver. Schande ziehen die auf sich, die erneut die Verbrechen des Vernichtungskrieges und des Völkermords bagatellisieren. Wir sollten uns bewusst machen: Historische Aufklärung und politische Verantwortung sind Wesenskern unserer Demokratie.

Ohne sie ist unsere Demokratie, ist unser Land nicht dasselbe!

Dieser Weg hat Deutschland nicht nur in die europäische Staatenfamilie zurückgeführt, er war die Voraussetzung dafür, dass aus der Bundesrepublik Deutschland überhaupt der Staat werden konnte, der wir heute sind: ein respektierter und vertrauenswürdiger Nachbar in Europa.

Für diese Anleitung zur Selbsterkenntnis ist unser Land Lothar Kreyssig und den vielen Freiwilligen der ASF, die seinem Aufruf und Beispiel folgten, zu großem Dank verpflichtet.

Und: 60 Jahre, das kann ich Ihnen aus eigener Erfahrung sagen, sind ein Anlass, sich ganz besonders viel vorzunehmen. Dafür wünsche ich Ihnen von Herzen Erfolg!