Besuch der Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie

Schwerpunktthema: Rede

Kiew/Ukraine, , 29. Mai 2018

Bundespräsident Frank Walter Steinmeier hat am 29. Mai beim Besuch an der Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie eine Ansprache gehalten: "Wir wollen, dass die Ukraine eine Zukunft in Europa hat. Doch wo immer das allgemeine Interesse zugunsten eines persönlichen Vorteils verletzt wird, wo immer eine Nation sich über eine andere erhebt, ist diese Zukunft gefährdet."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede bei der Veranstaltung 'Ukraine, Deutschland, Europa – Partnerschaft und Perspektiven' an der Nationalen Universität der Kiew-Mohyla-Akademie in Kiew bei seinem offiziellen Besuch in der Ukraine

Ich freue mich, wieder hier, in Ihrer Universität, zu sein nach einem ersten Besuch 2006. Zwölf Jahre ist das her, und das ist eine doch vergleichsweise kurze Zeitspanne in der langen Geschichte Ihrer Universität – der ältesten Universität in der Ukraine, wie ich schon bei meinem ersten Besuch gelernt und gehört habe. Ein Ort also, an dem Wissen und Erfahrung in vorzüglicher Weise zusammentreffen, und schon deshalb ein guter Ort, um miteinander ins Gespräch zu kommen.

Eben das will ich versuchen. Ich will über die deutsch-ukrainische Partnerschaft sprechen und dabei einen Blick, meinen Blick, auf die Zukunft der Ukraine richten.

Als Außenminister, der ich acht Jahre lang war, habe ich – ich glaube, das darf ich sagen – die wahrscheinlich dramatischsten Momente meiner Amtszeit nur wenige hundert Meter von hier entfernt erlebt. Schon deshalb wird mich das Schicksal Ihres Landes, der Ukraine, für den Rest meines Lebens begleiten.

Die Ukrainer haben viel riskiert in jenen Tagen. Sie haben Courage bewiesen und Standhaftigkeit. Und ihr Mut hat mir, hat uns Deutschen imponiert. Als der Protest drohte, ein gewaltsames Ende zu nehmen, da waren meine Kollegen aus Polen und Frankreich, Radek Sikorski, Laurent Fabius und ich uns einig, dass wir als Freunde und als Menschen nicht abseits stehen konnten.

Ich will jetzt nicht von diesem Podium aus nacherzählen, was Sie alle selbst erlebt haben. Ich werde diesen 20. Februar 2014 nicht vergessen, nicht die Rauchschwaden der brennenden Barrikaden, nicht die Schüsse, die zu hören waren, als wir die Bankowa erreichten, vor allem aber nicht die mehr als hundert Toten, die es bis dahin, bis zu unserer Ankunft, schon gegeben hatte. Dieser Toten habe ich vor wenigen Stunden erst, bei meiner Ankunft hier in Kiew, gedacht.

Damals, nach mehr als dreißig Stunden Verhandlungen, immer im Wechsel zwischen Majdan-Rat auf der einen Seite und Präsidialamt auf der anderen Seite, war dann endlich eine Übergangsvereinbarung unterzeichnet, die für uns, die verhandelt haben, versprach, dass nach den Tagen und Wochen der Unruhe, der Auseinandersetzungen, der Schüsse und Toten wieder Ruhe einkehrt. Aber diese Vereinbarung, wie Sie alle wissen, hielt nicht lange. Schon wenig später lag der Stein, den wir gerade erst den Berg hinaufgerollt hatten, wieder vor unseren Füßen.

Es ist deshalb umso wichtiger, nicht scheitern zu lassen, was auf dem Majdan entstanden ist. Ich will versuchen zu erklären, was ich damit meine.

Eine gewisse Renitenz, die Bereitschaft, sich Unzumutbarem zu widersetzen, der Wille zu Veränderung – das sind Eigenschaften, die wahrscheinlich den meisten Menschen als Tugenden gelten. Politikern sollten sie nicht fremd sein.

Nach allem, was ich gesehen, gehört und gelesen habe, hatten die Proteste auf dem Kiewer Majdan 2004 und 2013/2014 aber noch eine andere Qualität: Gemeinsinn ist vielleicht die beste Umschreibung dafür – der unbedingte Wille, beieinander zu bleiben, gemeinsam für ein Ziel einzustehen, dafür, die Zukunft wirklich in die eigenen Hände nehmen zu können. Vor unser aller Augen entstand damals ein politischer Raum, ein Majdan, wenn ich diesen Begriff so interpretieren darf.

Ohne diesen politisch garantierten öffentlichen Raum hat Freiheit in der Welt keinen Ort, hat Hannah Arendt geschrieben. Wir erleben Freiheit nur im Umgang mit anderen, nur in Bezug aufeinander, also nur im Bereich des Politischen. In der Realität fallen Politik und Freiheit zusammen, so Hannah Arendt. Sie verhalten sich zueinander wie die beiden Seiten derselben Sache.

Sie hier in der Ukraine haben uns in der Nachbarschaft zur Ukraine zu Zeugen dessen gemacht, was Hannah Arendt beschreibt. Und das kann mich und das kann alle Menschen meines Landes nicht gleichgültig lassen. Es ist ein Kapitel europäischer Geschichte. Und als Europäer bleiben wir an diesem Geschehen und dieser Geschichte beteiligt.

Die Verantwortung Europas für die Ukraine besteht nach meinem Verständnis darin, zu verhindern, dass der Raum, der damals entstanden ist, sich nicht wieder verengt und politisches Handeln erschwert wird. Die Verantwortung besteht darin, zu helfen, dass dieser Raum wachsen kann, dass er übersetzt wird in starke, unabhängige und vertrauenswürdige Institutionen und in eine konstruktive politische Kultur.

Dieser politische Raum und die politische Handlungsfähigkeit der Ukraine dürfen nicht wieder verloren gehen – nicht durch Druck von außen, aber auch nicht im Inneren durch eine eigentlich lobenswerte Ungeduld, die möglicherweise in Enttäuschung, Zynismus und Populismus umschlägt. Das sind – aus meiner Sicht, – der Auftrag des Majdan und sein Vermächtnis.

Deshalb machen die Europäische Union und der Internationale Währungsfonds Korruptionsbekämpfung zur Bedingung für finanzielle Hilfen und Zusammenarbeit. Deshalb treten wir entschieden für die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine ein. Und deshalb treten wir auch einem aggressiven, ausgrenzenden Nationalismus – wo immer er in Europa auftritt – entgegen.

Auf beides treffen wir zu häufig in Europa. Viel zu häufig! Aber mit beiden Phänomenen hat natürlich auch die Ukraine zu kämpfen, und beide, Korruption und Nationalismus, können auf unterschiedliche Weise gefährden, was auf dem Majdan unter großen Opfern erkämpft worden ist.

Wo wir helfen können, die politische Handlungsfähigkeit der Ukraine zu stärken, ihren wirtschaftlichen Handlungsspielraum zu erweitern, wollen wir das tun – als Deutsche, aber auch, wo immer es geht, mit unseren europäischen Partnern, die bereit sind mitzutun. Wir tun es in der Überzeugung, damit nicht nur der Ukraine zu helfen, sondern auch der Europäischen Union, die – auf starke und verlässliche Partner in ihrer Nachbarschaft angewiesen ist. Wir tun es im eigenen Interesse. Wir tun es aber eben auch und vor allem im ukrainischen Interesse, und wir hoffen, dass sich niemand in der Ukraine, auch keine politische Partei, einen Vorteil davon verspricht, notwendige Reformen zu verhindern.

Unsere bilaterale Zusammenarbeit, die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Ukraine, ist seit 2014 sehr viel intensiver und umfangreicher geworden. Wir konnten auf bestehende Strukturen wie die deutsche Beratergruppe bei der ukrainischen Regierung zurückgreifen. Und wir haben das deutsche Engagement damals in einem Aktionsplan Ukraine sehr schnell gebündelt – einem Aktionsplan, in dem Direkthilfen auf der einen Seite, aber auch Zusagen für die Entwicklungszusammenarbeit auf der anderen Seite in einer Größenordnung von 500 Millionen Euro zusammengefasst sind.

Jeder Euro, der in den Aufbau funktionierender und starker Institutionen fließt – und das gilt auf der gesamtstaatlichen Ebene genauso wie auf der regionalen Ebene –, ist aus unserer Sicht gut investiertes Geld. Seit 2016 gibt es – nach langer Vorbereitung – endlich die Deutsch-Ukrainische Industrie- und Handelskammer in Kiew. Auch das trägt dazu bei, dass mittlerweile mehr als tausend deutsche Unternehmen, in der Ukraine vertreten sind. Ein Zeugnis für dieses wachsende Interesse ist das dritte Deutsch-Ukrainische Wirtschaftsforum, das im kommenden Herbst in Berlin stattfinden wird. Und noch einen großen Schritt haben wir inzwischen gemeinsam getan – auch das nach langen, schwierigen Verhandlungen: Sie können visa-frei zu uns reisen, wir können einander kennenlernen, die Sprache des anderen erlernen und feiern zum Beispiel aktuell das deutsch-ukrainische Sprachenjahr.

Ich glaube, man kann mit einigem Recht sagen: Das deutsche und das europäische Interesse an der Ukraine ist unverändert da, es wächst sogar, und wirtschaftlich gesprochen, es wächst auch die Bereitschaft zu investieren. Es gibt erhebliche Mittel dafür. Wenn ich dennoch etwas Wasser in den Wein gießen muss, so liegt das an Meldungen, die ich lese und die es eben auch gibt: dass die Ukraine in der zurückliegenden Periode die zur Verfügung stehenden Finanzmittel der Europäischen Union nicht ausgeschöpft hat. Wir wissen, dass es nicht leicht ist, den Bedingungen, die die EU für die Abrufung von Geldern stellt, in jedem Fall gerecht zu werden. Aber ich glaube, es gibt auch Anlass, die Hilfestellung und die Expertise, die es dazu sowohl auf Seiten der EU gibt wie im eigenen Land, in der Ukraine, nach Kräften zu nutzen.

Wir unterschätzen nicht – weder in Berlin noch in Brüssel noch in vielen anderen europäischen Hauptstädten –, wie groß die Reformagenda ist, die Ihr Land noch vor sich hat. Wir wissen, dass Transparenz und Effizienz nicht einfach nur Zutaten zum politischen Tagesgeschäft sind. Sie sind am Ende, das haben wir alle erfahren in Europa, so etwas wie ein Schlüssel zur Transformation der Gesellschaft, und das wird für die Ukraine genauso gelten.

Und wir wissen auch, dass der Krieg in der Ost-Ukraine diese gewaltige Reformaufgabe erschwert, sogar immens erschwert.

Wer über die Ukraine spricht, der kann von der Annexion der Krim und vom Krieg im Osten des Landes nicht schweigen. In der Ukraine wird ununterbrochen über den Krieg gesprochen, lese ich bei Serhij Zhadan. Es sei bitter, schreibt er, zu sehen, wie die Helden einander ablösen, wie die Gefallenen des Donbass auf die Helden des Majdan folgen.

Und deshalb, ja: Der Krieg – ganz gleich, wo er stattfindet – ist bitter. Er trennt Familien, Freunde, er zerstört Biographien. Und er verfestigt hier vor allen Dingen ein Bild in den Köpfen vieler: das Bild der Ukraine als einem zerrissenen Land, in dem Russen und Ukrainer seit jeher danach streben, einander die Vorherrschaft streitig zu machen.

Tatsächlich bedroht dieser Konflikt einen ganz alten Kulturraum, in dem – so lange wir seine Geschichte zurückverfolgen können – immer mehr als nur zwei Ethnien zu Hause waren. Ein Raum, dessen Geschichte deshalb so reich ist, weil in ihm so viele Kulturen vereint waren, die einander inspiriert und gefördert haben. Kaum ein europäisches Land hat mehr Einflüsse in sich aufgenommen als die Ukraine: Griechen, Skythen, Chasaren, Türken, Wikinger, Mongolen, Krimtataren haben ihre Spuren hinterlassen, Russen, Weißrussen, Ungarn, Bulgaren, Armenier haben dieses Land bereichert. Und nicht zuletzt jüdische Kultur hat es geprägt. Man muss die Geschichte nicht glätten, um gerade in der ethnischen Vielfalt der Ukraine ihren Reichtum zu sehen. Und wer diesen Reichtum einmal erkannt hat, der sollte ihn pflegen.

Wechselwirkungen zwischen Geschichte und Politik sind nicht nur in der Ukraine schwer zu definieren, weil die Geschichte selbst widersprüchlich ist und auch bei genauerer Betrachtung immer komplex bleibt. Sie stiftet Identität, auch nationale Identität, aber sie liefert kein Argument, das einen Staat zur Schutzmacht über eine Bevölkerungsgruppe in einem anderen Land bestellt. Noch weniger liefert sie Begründungen oder gar Rechtfertigungen für Eroberungszüge. Das sage ich aus der bitteren Erfahrung der deutschen Geschichte, die gerade hier in der Ukraine so verheerende Spuren und so viel Leid hinterlassen hat.

Und lassen Sie mich aus dieser deutschen Erfahrung heraus auch sagen: Wenn wir verstehen wollen, wer wir sind, woher wir kommen, wer uns vorausging, dann sind wir angewiesen auf gemeinsames Erinnern – Ukrainer, Russen, Weißrussen, Polen, Balten und Deutsche. Wir brauchen diese gemeinsame Erinnerung – wenn wir uns dauerhaft gegeneinander definieren, bleibt es schwierig, eine gemeinsame, friedliche Zukunft zu schaffen und zu garantieren. Meine Hoffnung ist, dass eines Tages ein gemeinsamer Blick zurück möglich wird.

Die Tragödie zu überwinden, die der Krieg im Osten der Ukraine bedeutet, das wird viel Kraft kosten. Doch Serhij Zhadan hat recht, wenn er sagt: als Gesellschaft einen Weg aus dieser Situation finden zu wollen, wird nur gemeinsam gelingen.

Noch einmal so viel Kraft wird es verlangen, diesen Konflikt nicht dauerhaft die Geschicke des Landes bestimmen zu lassen. Es darf weder das Land noch die Politik in Geiselhaft nehmen, wenn die Ukraine eine gute, eine europäische Zukunft haben soll. Reformen, das habe ich gesagt, sind weiter notwendig, und sich diesen notwendigen Reformen in den Weg zu stellen, sollte nicht als politische Heldentat verstanden werden.

Wir wollen, dass die Ukraine eine Zukunft in Europa hat. Doch wo immer das allgemeine Interesse zugunsten eines persönlichen Vorteils verletzt wird, wo immer sich eine Nation über die andere erhebt, ist eine solche Zukunft gefährdet, das gilt für jeden. Recht und Rechtstaatlichkeit dürfen nicht nur ein Versprechen bleiben, sie müssen realisiert werden, wenn die staatliche Einheit der Ukraine gestärkt und Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in ihren Staat und seine Institutionen wachsen soll. Und schließlich brauchen wir auch für die Wunden, die heilen sollen, diesen geschützten und von allen respektierten Raum, von dem Hannah Arendt sprach.

Über die Zukunft der Ukraine wird vor allem und zuerst in der Ukraine entschieden. Nur die politische und wirtschaftliche Transformation und Festigung nach innen wird am Ende auch ihre Widerstandfähigkeit nach außen gewährleisten. Und ich verspreche Ihnen: Was immer Deutschland dazu hilfreich beitragen kann, das wollen wir als echte Freunde tun – das gilt heute, und das gilt auch in Zukunft.