Abendessen für die Mitglieder des Ordens Pour le mérite

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 3. Juni 2018

Der Bundespräsident hat am 3. Juni bei einem Abendessen mit den Mitgliedern des Ordens Pour le mérite eine Ansprache gehalten: "Zukunft ist kein Schicksal! Wir können, im Großen wie im Kleinen, Ohnmacht und – um bei Marx zu bleiben – Entfremdung überwinden, wenn wir nicht nur nach Verantwortung anderer schauen, sondern auch die eigene erkennen. Wir haben unser Schicksal in der Hand – es liegt an uns, was wir daraus machen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede am Abendessen anlässlich der Jahrestagung des Ordens Pour le mérite für Wissenschaften und Künste im Großen Saal von Schloss Bellevue

Ihnen allen ein herzliches Willkommen – und in guter Tradition darf ich hinzufügen: auch dieses Jahr im Schloss Bellevue!

Die Verfassungsjuristen unter Ihnen wissen: Mein Amt bringt eine Reihe wiederkehrender Aufgaben mit sich. Gesetze ausfertigen, Botschafter akkreditieren, und – wenn es dann soweit ist – die Bundesregierung ernennen. Und nicht zuletzt – auch wenn sie nicht im Grundgesetz stehen – die öffentliche Sitzung des Ordens Pour le mérite und das gemeinsame Abendessen.

Der Austausch mit Ihnen gehört zu den wirklichen Privilegien meines Amtes. Für mich ist der heutige Tag und Abend nicht nur Gelegenheit zu vielen anregenden Gesprächen, sondern auch – wenn Sie so wollen – so etwas wie eine berufsbegleitende Fortbildung.

Bei Ihren Vorträgen darf ich, abseits des politischen Alltags, eintauchen in Tiefenschichten aktueller Wissenschaft und Forschung – ich danke Ihnen für diesen jährlichen Genuss. Und wie Sie heute gesehen haben, geht das nicht nur mir so, sondern auch den 800 Gasthörerinnen und Gasthörern im Konzerthaus Berlin, das sich für einen Nachmittag in einen Hörsaal verwandelt hatte. Damit zeigen Sie alle, die Mitglieder dieses stolzen Ordens, dass Sie eben nicht nur führende Größen innerhalb Ihrer Fachdisziplinen sind, sondern dass Sie das Licht der Erkenntnis, den Geist der Aufklärung, in die Gesellschaft hineintragen und uns anregen wollen zum Weiter- und zum Tieferdenken. Wir brauchen das, gerade heute: Menschen, die den Wert, den Anspruch, die stetige Herausforderung der Vernunft als Währung des gesellschaftlichen Diskurses hochhalten – das genau tun Sie, und dafür will ich Ihnen allen sehr herzlich danken!

In seinem Festvortrag heute Nachmittag fragte Svante Pääbo, wie viel Neandertaler in uns steckt und wie er in uns weiterlebt.

In Sachen Weiterdenken möchte ich heute Abend eine Frage anschließen, die Sie nicht für zwingend halten, Herr Pääbo: Mit Blick auf den rasenden technologischen Fortschritt etwa bei der künstlichen Intelligenz oder der Vernetzung von Digitalisierung, Nanotechnik und Genforschung könnte man versucht sein, zu fragen: Wie viel Homo sapiens wird eigentlich noch in den Menschen der Zukunft stecken?

Meine auf den ersten Blick simple und auf den zweiten Blick jedenfalls nicht ganz selbstverständliche Antwort lautet: Das liegt ganz an uns! Ich bin in Sachen des technologischen Fortschritts weder für Zukunftsdystopien noch für naive Zukunftsutopien zu begeistern. Mit Blick auf die Umwälzungen unserer Zeit, auf die schwindenden Gewissheiten, die Erosion internationaler Ordnungen, würde ich zuallererst nur das festhalten: Die Zukunft ist ungewiss. Sie ist offener denn je. Und daher plädiere ich dafür, dass wir uns mit den technologischen Möglichkeiten der Zukunft so auseinandersetzen, wie Johannes Rau es einmal so klug formuliert hat: Ohne Angst und ohne Träumerei, sondern mit Mut und in der Gewissheit, dass es in unserer Hand liegt, wie wir diese offene Zukunft gestalten.

Gewiss ist: Die Wellen der technologischen Entwicklung erreichen uns in immer kürzerer Folge und mit immer weitreichenderen Folgen. Die gleiche Rechenleistung des Computers, der vor 20 Jahren den Schachweltmeister Garry Kasparow bezwang, steckt heute ganz selbstverständlich im Smartphone in unserer Gesäßtasche.

Von Menschenhand geschaffene Maschinen übertreffen uns mittlerweile weit in bestimmten Fähigkeiten, die uns seit tausenden Jahren auszeichnen und unser Alleinstellungsmerkmal waren: die Rechenleistung unseres Gehirns, die Analyse von Daten und Zusammenhängen.

Was ist die menschliche Denkleistung also noch wert? Was zeichnet den Menschen gegenüber der immer perfekteren Maschine noch aus? Oder, um es ganz auf den Wesenskern dieses Ordens zu beziehen: Was werden seine Meriten in Zukunft sein? Wie werden wir in 30 oder 40 oder 50 Jahren die menschlichen Höchstleistungen definieren, die für die Aufnahme in die illustren Reihen des Ordens Pour le mérite qualifizieren?

In diesem Sinne glaube ich, dass die Diskussion über Technologie und ihre Folgen doch längst nicht mehr die Möglichkeiten und Grenzen von Technologie selbst betrifft. Sondern sie lenkt den Blick zurück auf uns selbst: auf das, was uns ausmacht, auf das, was unverrückbar bleiben soll, auf geistige, soziale, ethische Grundpfeiler, auf die Grundrechte des Individuums. Auch deswegen sage ich immer wieder: Wir brauchen die Debatte über eine Ethik der Digitalisierung. Denn es geht bei dieser Debatte nicht nur um die Zukunft der Digitalisierung – es geht um unsere eigene.

Es gibt solche, die das Rennen zwischen Mensch und Maschine schon verloren glauben. Die glauben, uns Zauberlehrlingen sei die Macht unseres Besens schon lange entwischt. Seit Jahrzehnten, seit Pionieren wie Alan Turing und anderen, wird über die Ankunft einer Artificial General Intelligence spekuliert – einer künstlichen Intelligenz, die unsere eigene vollends übertrifft. Mittlerweile, so habe ich gelesen, haben einige ganz besonders zukunftsorientierte Ingenieure im Silicon Valley – quasi als Vorabversicherung – eine Kirche gegründet, in der nicht etwa Gott, sondern die kommende Großintelligenz angebetet wird. Mit diesem Kniff – so die Idee – mache die Menschheit bei ihrem künftigen Herrscher zumindest schon mal einen guten Eindruck. Auch wenn das nicht ganz ernst gemeint ist, spiegeln sich doch darin schon die Vorboten von wahrscheinlich gewaltigen, innergesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen, die uns möglicherweise bevorstehen.

Vor genau einem Monat hätte Karl Marx seinen 200. Geburtstag gefeiert. Viel wurde in diesen Tagen über ihn und sein Denken geschrieben: über den Ökonomen, Soziologen, Historiker, über den gescheiterten Revolutionär, den beißenden Kapitalismuskritiker. Mich hat bei der erneuten Lektüre von Marx vor allem eines beeindruckt: die bestechende Aktualität seiner Überlegungen zur technologischen Entwicklung und ihrer gesellschaftlichen Folgen. Ich denke etwa an den berühmten, weil so provokanten Satz aus der Deutschen Ideologie: Die Ausgeburten ihres Kopfes sind ihnen über den Kopf gewachsen. Vor ihren Geschöpfen haben sie, die Schöpfer, sich gebeugt.

Ich teile diesen Zukunftspessimismus nicht! Zukunft ist kein Schicksal! Wir können, im Großen wie im Kleinen, Ohnmacht und – um bei Marx zu bleiben – Entfremdung überwinden, wenn wir nicht nur nach Verantwortung anderer schauen, sondern auch die eigene erkennen. Wir haben unser Schicksal in der Hand – es liegt an uns, was wir daraus machen.

Ich finde, das Zeitalter von Robotern, Algorithmen und künstlichen Intelligenzen, das sollte für uns alle, und gerade für Sie – für Wissenschaftler und Künstler, für Natur- wie Geisteswissenschaftler –, ein willkommener Anlass sein, um Marx das Gegenteil zu beweisen! Nicht wegen Marx, sondern um unser selbst willen.

Ich danke Ihnen – und wünsche uns allen guten Appetit und anregende Gespräche!