Veranstaltung "Polen und Deutschland in Europa: Konferenz anlässlich des 100. Jahrestages der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Polens"

Schwerpunktthema: Rede

Warschau/Polen, , 5. Juni 2018

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 5. Juni auf der Veranstaltung "Polen und Deutschland in Europa: Konferenz anlässlich des 100. Jahrestages der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Polens" eine Ansprache gehalten: "Wir haben viel zu verlieren. Zerbricht der Zusammenhalt der Europäischen Union, gewinnt dadurch niemand von uns an nationaler Durchsetzungsfähigkeit. Im Gegenteil: Wir werden sie verlieren."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei der Veranstaltung "Polen und Deutschland in Europa: Konferenz anlässlich des 100. Jahrestages der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Polens" im Königsschloss in Warschau

Ich freue mich, einige Gedanken zur Eröffnung dieser Konferenz beitragen zu können.

Dass wir in diesem Jahr und zu diesem Anlass, als Vertreter unserer Länder, die Rolle Polens und Deutschlands in einem geeinten Europa diskutieren, dass wir das nicht nur als Nachbarn tun, sondern als Teil dieser Europäischen Union, das ist deutlich mehr, als viele unserer Vorgänger sich hätten vorstellen können.

Ja, dass es jemals ein Wir geben würde, war so lange unvorstellbar, dass viele gern von einem Wunder sprechen. So verständlich das sein mag, wenn manche von einem Wunder sprechen, so verkennt es den Umstand, dass dieses Wunder sehr weltliche Voraussetzungen hatte. Es wäre undenkbar gewesen ohne die aktive Bereitschaft Polens zur Versöhnung.

Denn so weit wir zurückblicken auf die deutsch-polnische Geschichte – es gab wenig Veranlassung für Polen, Vertrauen zu den deutschen Nachbarn zu fassen. Preußen hatte erheblichen Anteil am jahrhundertelangen Verschwinden des polnischen Staates. Und, Herr Präsident, Sie haben es erwähnt, das nationalsozialistische Regime zielte schließlich auf die Zerstörung Polens, seiner Staatlichkeit und seiner Gesellschaft. Wir werden das Menschheitsverbrechen an den europäischen Juden, das in der Zeit der deutschen Besetzung Polens verübt wurde, nicht vergessen. Und wir werden das Leid nicht vergessen, das Deutsche über ganz Polen gebracht haben.

Deshalb, verehrter Herr Staatspräsident, lieber Andrzej Duda, das sage ich als deutsches Staatsoberhaupt, Deutschland ist und bleibt dankbar dafür, dass wir einander heute vertrauensvoll begegnen, dass diese Partnerschaft, die wir leben, überhaupt möglich geworden ist. Und wir sind dankbar, auch dafür, dass Polen und Deutsche heute in der Lage sind, über die politische Ausgestaltung der Europäischen Union zu debattieren und auch zu streiten. Aber erst recht im Streit müssen wir wissen: Diese Partnerschaft, sie ist auch heute nicht selbstverständlich, sie ist nur möglich im fortdauernden Bewusstsein und in Verantwortung für die Geschichte, die uns verbindet.

Als Polen vor einhundert Jahren seine staatliche Unabhängigkeit wiedererlangte, zu dieser Zeit war ein polnisch-deutsches Wir bestenfalls im Privaten, in persönlichen Freundschaften vorstellbar, nicht im Politischen. Doch auch Freundschaften haben Spuren hinterlassen, wie die des deutschen Schriftstellers, Kunstsammlers und Gelegenheitsdiplomaten Harry Graf Kessler mit Marschall Józef Piłsudski.

Beide hatten sich zu Kriegszeiten 1915 an der Ostfront bei Czartorysk kennengelernt, wo Kessler als Verbindungsoffizier zu den Österreichern diente. Die Verbindung zwischen beiden ist ein Teil der deutsch-polnischen und ebenso der europäischen Geschichte. Genauer müsste ich wohl sagen: Die Verbindung dieser beiden hat selbst Geschichte geschrieben.

Nachzulesen ist sie in Kesslers Tagebuch aus der Zeit unmittelbar nach dem Ende des 1. Weltkrieges. Sie erzählt von drei Tagen im November 1918, drei Tage, die über den Fortgang der Geschichte Polens und das Entstehen der Zweiten Republik ebenso bestimmen werden wie sie entscheidend sind für den Untergang des Kaiserreichs und die Ausrufung der Republik in Deutschland.

Es ist Harry Graf Kessler, der Piłsudski und seinen engen Vertrauten, General Sosnkowski, am 8. November aus deutscher Festungshaft in Magdeburg befreien und nach Warschau bringen soll. Und so sitzen, nachdem dieser Coup geglückt ist, schließlich vier Männer, Piłsudski, Sosnkowski, Kessler und der Kommandant der preußischen Kraftfahrtruppe, Rittmeister von Gülpen, in einem Automobil und fahren von Magdeburg nach Berlin, durch eine wenig spektakuläre Landschaft, in der gleichwohl jeder der vier etwas Vertrautes entdeckt.

Es war ein frühlingswarmer, himmelblauer Tag, erzählt Kessler, […] so daß draußen zwischen Wald und Acker der Gedanke an Feindschaft, Krieg, Revolution bei uns allen vieren in die Ferne schwand. Pilsudski […] stieß mich einmal an und sagte, so sei die Gegend bei ihm zu Hause, ganz heimatlich, dieser arme Boden, die Kiefern und Waldstückchen, nur hügeliger sei es, wo er aufgewachsen sei.

Schließlich kommen während der Fahrt alle miteinander ins Gespräch. Das bemerkenswerte daran scheint mir, dass dieser Moment des Friedens, die Abwesenheit von Krieg und Revolution, dass dieser Moment alle vier nahezu unmittelbar das Vertraute im Fremden entdecken lässt. Sie sind weit entfernt von einem Wir, ganz und gar Männer ihrer Zeit, Militärs, die auf verschiedenen Seiten stehen. Aber sie erkennen einander, sie bemerken, dass sie etwas gemeinsam haben und dass es möglicherweise sogar mehr ist, als sie bis dahin geahnt haben.

In den folgenden ereignisreichen Tagen dankt der deutsche Kaiser ab, der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann ruft die Republik aus, und Józef Piłsudski steigt in den Zug nach Warschau. Er wird Polen in die Unabhängigkeit und in die Zweite Republik führen. Es ist das vorläufige Ende der Teilung Polens und der Aufbruch in eine neue Zeit.

Józef Płisudski und Harry Graf Kessler werden sich danach noch einige Male begegnen. Kessler folgt ihm kurze Zeit später als erster Gesandter der neuen deutschen Republik nach Warschau. Die beiden treffen sich weiterhin, respektieren einander. Sie schätzen die Offenheit des anderen und teilen die Absicht, ihre Völker aus alter Feindschaft in eine neue Freundschaft zu führen, wie Piłsudski erklärt, als Kessler ihm sein Beglaubigungsschreiben überreicht.

1918 war ein Epochenjahr nicht nur für Polen und Deutschland – es war eine Zeit des Umbruchs und des Neuanfangs. Am Ende dieses Großen Krieges waren Monarchien gestürzt, Imperien untergegangen, Nationalstaaten waren neu entstanden oder, wie Polen 1918, wieder erstanden. Für Polen wie für Deutschland verbindet sich mit diesem Epochenwechsel der Versuch eines demokratischen Neubeginns. Auch in dieser Zeit des politischen Umbruchs spielen beide, Piłsudski und Kessler, eine aktive Rolle, auch wenn letzterer kaum je in einer herausgehobenen Position war und keiner von beiden, wenn man genauer hinschaut, ein geborener Demokrat.

Wir wissen heute, dass die Versuche eines demokratischen Neubeginns auch daran scheiterten, dass es zu wenige Demokraten gab, die ihnen aus Überzeugung Erfolg gewünscht hätten. Und wir wissen, dass der Neubeginn in Polen zu dieser Zeit noch ungleich schwerer war, wo es galt, unterschiedliche Verwaltungs-, Rechts- und Wirtschaftssysteme zusammenzuführen. Aus alter Feindschaft wurde auch in der Zwischenkriegszeit noch nicht die neue Freundschaft, wie Piłsudski sie gewünscht hatte.

Was er, Piłsudski, damals Kessler in die Feder diktierte: die Notwendigkeit, alte Feindschaften hinter sich zu lassen und wie endlich zur Vernunft gekommene Nachbarn freundschaftlich zusammenzuarbeiten, das hat, wir wissen es heute, sehr lange gebraucht, um sich tatsächlich durchzusetzen.

Umso wichtiger ist es, dass wir heute bewahren, was erreicht worden ist. Wenn Polen und Deutschland einander heute enger verbunden sind, als sie es jemals zuvor in der gemeinsamen Geschichte waren, dann liegt es daran, dass wir die Mahnung, zur Vernunft zu kommen und zusammenzuarbeiten, dass wir diese Mahnung heute angenommen haben.

Polen und Deutschland sind starke und unabhängige Nationen in Europa, wirtschaftliche und politische Partner innerhalb der Europäischen Union. Niemand bedroht die Souveränität des anderen, und keiner folgt dem Diktat eines anderen.

Wir sind frei, weil wir uns aus freiem Willen in der Europäischen Union zusammengefunden haben – und dies nicht aus nur ökonomischen Gründen. Nein, weil wir wussten, dass wir in der Antwort auf neue globale Herausforderungen als einzelne Nationalstaaten überfordert sind. Die Mitgliedsstaaten der EU, das war die Einsicht, haben einen Teil ihrer Souveränität abgegeben, um zusätzliche gemeinsame – europäische – Souveränität zu gewinnen. So verstanden, so verstandene europäische Souveränität widerspricht eben nicht der nationalen Souveränität – sie ergänzt sie, ja, sie vergrößert sie sogar.

Ein Europa, ein gemeinsames Europa, das sich seiner wirklich gewiss ist, mit einer Stimme spricht, das ist die Voraussetzung dafür, dass jede einzelne unserer Nationen in dieser Welt überhaupt noch Einfluss nehmen kann. Getrennt voneinander würden wir nicht nur an wirtschaftlicher Stärke verlieren, sondern, da bin ich ganz sicher, auch an politischer Handlungsfähigkeit – und das erst recht in einer Welt, in der wir uns, wo wir mit Blick nach Osten neuen und gefährlichen Spannungen ausgesetzt sind. Ja, ich bin einverstanden mit europäischer Investition in das transatlantische Verhältnis, aber ich kann mich auch nicht wegducken vor den Irritationen, die wir in jüngster Zeit erlebt haben, in der wir uns der politischen Richtung der Führungsmacht des Westens nicht so ganz sicher sind, jedenfalls nicht in der internationalen Handelspolitik. Das ist die Welt, in der wir heute Politik machen.

Aber auch das darf nicht vergessen werden: Souveränität nach Außen hat Voraussetzungen im Innern: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Souverän sind wir Europäer ja nicht, weil wir uns, wo es uns gerade passt, willkürlich irgendwie zusammenraufen, sondern weil wir nach Werten und Regeln handeln, die wir uns selbst gegeben haben. Innerhalb dieser Grundregeln gestaltet jede Nation ihre Demokratie und ihren Rechtsstaat selbst – aber wo Grundregeln in Frage stehen, sind alle anderen auch betroffen. Und das macht keinen von uns stärker – besonders nicht in den Augen derer, die uns Europäer ohnehin lieber gespalten als geschlossen sehen.

Mit einem Wort: Wir haben viel zu verlieren. Zerbricht der Zusammenhalt der Europäischen Union, gewinnt dadurch niemand von uns an nationaler Durchsetzungsfähigkeit. Im Gegenteil: Wir alle werden verlieren.

Lassen Sie uns also den Weg weitergehen, den andere uns vorausgegangen sind: den Weg in ein Europa, in dem wir für unsere Sicherheit, unseren Wohlstand, unsere Freiheit und – ja: auch unsere nationalen Eigenheiten – gemeinsam einstehen.