Festakt zu 125 Jahre Madsack Mediengruppe

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 15. Juni 2018

Der Bundespräsident hat am 15. Juni beim Festakt zu 125 Jahren Madsack Mediengruppe eine Ansprache gehalten: "Wenn Redaktionen größer werden, wenn mehr Zeitungen von einer zentralen Redaktion beliefert werden, dann steigt damit auch die Verantwortung für die Berichterstattung noch einmal beträchtlich. Ob für einen Leser oder eine Million Leser – Journalisten müssen immer mit höchster Sorgfalt an ihren Artikeln arbeiten."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei dem Festakt zu 125 Jahren Madsack Mediengruppe im Opernhaus Hannover

Meine erste Begegnung mit Madsack liegt zwar noch keine 125 Jahre zurück, aber eine ganze Weile ist das auch schon her. Manche Hannoveraner hier im Saal wissen das, ich bin im vergangenen Jahrhundert – wie sich das anhört! –, nach Hannover gekommen, habe hier vor fast 30 Jahren meine Zelte aufgeschlagen. Angeheuert hatte ich damals bei einem noch jungen Ministerpräsidenten, der gerade ins Amt gekommen war, den ich aber zu jener Zeit nur selten zu Gesicht bekam. Denn ich kam nicht in Funktion, sondern hauste im Dach-Juchhe der Planckstraße als Hilfsreferent für Presse- und Rundfunkrecht. Und da gehörten natürlich die HAZ und die Neue Presse zu meiner Tageslektüre.

Es gibt einen Zeitungsmoment aus dieser Zeit, an den ich mich gern erinnere und den ich Ihnen nicht vorenthalten will. Meine Tochter wurde damals geboren, hier in Hannover. Ich habe regelmäßig sonntags morgens den Kinderwagen in die Eilenriede geschoben, Richtung Zoo, und regelmäßig schlief die Tochter auf dem Weg dorthin ein. Das entsprach auch dem Plan. Denn das war die Ouvertüre für die zwei Stunden Ruhe mit Cappuccino und Zeitung im Café vor dem Elefantengehege. Ab und zu ein Blick auf die sanften Bewegungen der Dickhäuter. All das trug bei zu einer wunderbar gelassenen Sonntagmorgenstimmung, die ich genossen habe und die nur gelegentlich von einer völlig ungerechtfertigten Kommentierung der HAZ zur Landespolitik verdorben wurde. Aber das trübt bei mir den Blick zurück in keiner Weise.

Ich freue mich jedenfalls, auch wegen solcher Erinnerungen, heute Vormittag bei Ihnen zu sein. Und ich will, nach altem journalistischem Brauch, das Wichtigste gleich zuerst sagen: Ich gratuliere der Madsack-Mediengruppe zum 125. Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch!

Als der Buchdrucker und Verleger August Madsack im Jahr 1891 nach Hannover kommt, befindet sich die Stadt mitten in einer Phase des Umbruchs: Die Industrialisierung schreitet voran, die Zahl der Einwohner wächst, Arbeiter werden zur größten Bevölkerungsgruppe. In jenen Jahren geht das erste Elektrizitätswerk ans Netz, ein erstes Auto fährt durch die Stadt, Firmen wie Pelikan, Bahlsen oder die Deutsche Grammophon entstehen oder expandieren.

Es ist der Aufbruch in die Moderne, und es sind gute Zeiten für das Zeitungsgeschäft. Auch August Madsack will mit neuer Rotationsmaschine und einer Mischung aus Nachrichten und Unterhaltung ein Massenpublikum erreichen. Was ihm vorschwebt, ist ein billiges, jedermann zugängliches, parteiloses Blatt, ein unabhängiges Organ für Jedermann.

Sein Hannoverscher Anzeiger, der 1893 erstmals erscheint, will die Leser über alles Wissenswerte aus Reich und Welt unterrichten, und zwar schnell und prompt. Und das Geschäftsmodell geht auf: Die Auflage steigt, die Unternehmen schalten fleißig Anzeigen.

Aber die Pressebranche ist keine Branche wie jede andere. Erich Madsack, der Sohn des Gründers, fasst die gesellschaftliche Aufgabe der Zeitung später in der Weimarer Republik so zusammen: Eine Zeitung, schreibt er, muss der öffentlichen Meinung in voller Breite mit Unabhängigkeit dienen, und sie muss so beschaffen sein, dass sich der Lebensrhythmus und das kulturelle und wirtschaftliche Dasein ungetrübt in ihr spiegeln kann.

Damit war und ist ein hoher Anspruch formuliert: Eine Zeitung soll ihre Zeit in Worte fassen, Vielfalt abbilden, auch ein Stück Heimat sein. Sie soll das Gespräch der Gesellschaft mit sich selbst ermöglichen. Von diesem hohen Anspruch zeugt bis heute das Anzeiger-Hochhaus, ein backsteinernes Symbol der Pressefreiheit, ein Wahrzeichen dieser Stadt.

Wir wissen: In der Geschichte ist der Hannoversche Anzeiger diesem Ideal nicht immer gerecht geworden. Statt die neugeschaffenen Institutionen der Demokratie in der Weimarer Republik gegen Verächtlichmachung in Schutz zu nehmen, fanden sich im Anzeiger in jener Zeit mehr und mehr antipluralistische, antidemokratische und nationalistische Töne. Dass mit der Verteufelung des demokratischen Streits und des Wettkampfs zwischen Parteien am Ende auch das Herzstück der Demokratie – die freie, unabhängige Presse – unter die Räder kommt, könnte uns heute eine Lehre sein.

Während des Nationalsozialismus geriet der Anzeiger dann, wie viele andere Zeitungen auch, unter Druck und berichtete regimekonform, 1936 übernahm die NSDAP die Mehrheit des Verlags, sieben Jahre später stellten die Nazis das Blatt ein. Ich weiß, Sie haben schon vor vielen Jahren damit begonnen, dieses dunkle Kapitel aufzuarbeiten und, wie ich jüngst gehört habe, auch das Schicksal der jüdischen Investoren, die am Verlag beteiligt waren, nicht nur recherchiert, sondern Erben auch abgefunden. Ich bin mir sicher: Dieser Weg ist richtig. Er passt zu einem Unternehmen, das vom Informieren und Aufklären lebt.

Nach dem Ende des Krieges, als Hannover in Trümmern lag, wurde das fast unbeschädigte Anzeiger-Hochhaus zu einem Schauplatz der westdeutschen Demokratiegeschichte. Hier druckte Erich Madsack die ersten Lizenzzeitungen der neugegründeten Parteien, hier gründete Rudolf Augstein den Spiegel, hier hob Henri Nannen den Stern aus der Taufe. Und 1949 konnte dann erstmals die Hannoversche Allgemeine erscheinen, als „zeitgemäße Neuprägung“ des alten Anzeigers.

Und damit war die Zeit der Umbrüche natürlich nicht vorbei. In den vergangenen Jahren ist aus dem kleinen Zeitungsverlag ein großes, deutschlandweit agierendes Medienunternehmen geworden.

Heute geben Sie 15 Regionalzeitungen in sieben Bundesländern heraus, berichten online und auf vielen digitalen Kanälen. Aus Redaktionsstuben sind Newsrooms mit Hot Desks geworden. Sie haben eine zentrale überregionale Redaktion geschaffen, mit einem Berliner Büro und, auch das ist natürlich notwendig, Korrespondenten in Europa und der Welt. Und wir haben es alle gelesen: Die ohnehin schon große Reichweite des Redaktionsnetzwerks Deutschland könnte künftig sogar noch einmal kräftig steigen.

Ich bin sicher, das sind für keinen von Ihnen leichte Entscheidungen. Und ich bin ebenso sicher: Es wird überzeugende wirtschaftliche Gründe geben. Aber klar ist auch: Wenn Redaktionen größer werden, wenn mehr Zeitungen von einer zentralen Redaktion beliefert werden, dann steigt damit auch die Verantwortung für die Berichterstattung noch einmal beträchtlich. Ob für einen Leser oder eine Million Leser – Journalisten müssen immer mit höchster Sorgfalt an ihren Artikeln arbeiten. Aber wenn man mit seinen überregionalen Berichten und Kommentaren täglich bis zu 6,8 Millionen Leser von mehr als 50 Tageszeitungen erreicht, dann muss sich jeder einzelne Journalist bei Madsack immer bewusst sein, wie viele Menschen er am nächsten Tag mit seiner Bewertung von politischen Vorgängen erreicht. Und das betrifft natürlich vor allem die Korrespondentinnen und Korrespondenten in den zentralen Büros – sei es in Hannover, in Berlin oder im Ausland.

Dass wir uns in einem gewaltigen Umbruch der Medienbranche befinden, ist nicht zu leugnen. Ebenso wenig, dass sich Leser- und Nutzerverhalten signifikant ändern. Dennoch: Mit der Konzentration bei den Printmedien wächst auch die publizistische Verantwortung gerade der großen Medienhäuser. Sie – und ich meine gerade die großen Medienhäuser – müssen dafür Sorge tragen, dass ihre Zeitungen und Online-Portale unabhängig und verlässlich berichten können – und dass sie Meinungsvielfalt abbilden. Ich bin sicher, Madsack wird sich auch in Zukunft an diesen Maßstäben messen lassen!

Die aktuellen Umbrüche in Ihrer Branche sind eine Reaktion auf das, was jahrelang als Zeitungskrise Schlagzeilen gemacht hat – auf leise bröckelnde Auflagen und Einbrüche im Anzeigengeschäft, auf das geänderte Leseverhalten und die schnell wachsende digitale Konkurrenz. Es geht nach wie vor um die entscheidende Frage, wie guter Journalismus heute finanziert werden kann.

Ich finde es beeindruckend und habe großen Respekt davor, wie auch kleine Verlage sich heute mit Leidenschaft und neuen Ideen gegen die Wirtschafts- und Glaubwürdigkeitskrise stemmen. Wie sie versuchen, gerade da, wo die Abonnentenzahlen am meisten bröckeln, bei jungen Lesern, anzuknüpfen. Auch wenn es noch immer kein Patentrezept gibt: Es ist gut, wenn Medienunternehmen neue Wege ausprobieren, um ihren Kern zu bewahren: die journalistische Arbeit.

Denn unsere Demokratie, das ist die Existenzfrage, braucht freie und unabhängige Medien in möglichst großer Vielfalt – nicht in zu großer Konzentration auf wenige Unternehmen, nicht nur in Ballungszentren und Großstädten, sondern auch als Lokal- und Regionalzeitungen überall auf dem Land. Und sie braucht gut ausgebildete, engagierte Journalistinnen und Journalisten, ausgestattet mit Zeit und Mitteln für Recherche und vor allen Dingen mit einem hohen Anspruch an die Qualität ihrer Arbeit.

Wir erleben ja alle, wie sich unsere Öffentlichkeit im Zuge der digitalen Revolution verändert. Längst sind es nicht mehr nur Journalisten, die Nachrichten machen. Jeder, der heute ein Video online stellt oder in den sozialen Medien kommentiert, ist zum Sender geworden. Informationen aller Art, relevante und absurde, auch Lügen und Verschwörungstheorien, werden in Windeseile verbreitet und millionenfach geteilt.

Alles Kritikwürdige wird zum Skandal befördert. Und oft bekommen schräge Events oder irgendwelche Newsfetzen mehr Aufmerksamkeit als seriöse Informationen. Und auch der Ton der Debatte verändert sich rasant. Neue Medien haben die Hemmschwelle für jede Form von hate speech gesenkt. Im Schutz der Anonymität wächst die Hemmungslosigkeit, die Grenzen zwischen dem Sagbaren und dem Unsäglichen verschwimmt.

Im Zeitalter der Schnell-schnell-Nachrichten und des kommentierenden Sofortismus, da hat der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen recht, ist ein Zustand der Dauerirritation entstanden, eine rauschhafte Nervosität und Verunsicherung, eine Dynamik und Dramatik der Enthüllungen. An vielen Orten unseres Landes ist, wie Pörksen in Anlehnung an Thomas Manns Zauberberg schreibt, nichts als eine große Gereiztheit zu spüren.

Sorgen macht mir auch die Zersplitterung von Öffentlichkeit, das Auseinanderdriften der Gesellschaft. Manche kapseln sich heute in Echokammern ab und bestätigen sich gegenseitig in ihren gefühlten Wahrheiten. Wenn solche geschlossenen Weltbilder dann unvermittelt aufeinanderprallen, sind Kompromisse oft nicht mehr möglich. Und wenn politische Kontrahenten sich nicht mehr als Gegner, sondern als Feinde begegnen, dann geht etwas verloren, was für die Demokratie überlebenswichtig ist, nämlich die Bereitschaft zur Vernunft. Das missachten all die, die im Streit gegen eine Political Correctness, die angeblich in den vergangenen Jahrzehnten notwendige Debatten verhindert haben soll, neuerdings jedem Irrationalismus Tür und Tor öffnen.

Medienverächter haben uns eine Neuauflage des Begriffs der Lügenpresse beschert, und ich weiß, dass auch Sie in den Redaktionen jede Menge Hassmails und wütende Leserbriefe erhalten. Das alles beiseite zu legen, nicht zu lesen, ist vielleicht gesünder, aber keine Lösung!

Denn: Wenn Zeitungen und Zeitschriften heute pauschal als Mainstream-Medien oder die öffentlich-rechtlichen Sender als Staatsfunk verunglimpft und der Manipulation verdächtigt werden, ihre Journalisten verächtlich gemacht werden, dann kann das keinen Demokraten gleichgültig lassen.

Ich will hier unbedingt festhalten: Das öffentliche Gespräch, der demokratische Diskurs gelingt in Deutschland immer noch besser als in vielen anderen Ländern. Und das haben wir nicht zuletzt den vielen Journalistinnen und Journalisten zu verdanken, die jeden Tag dafür arbeiten, verlässliche Informationen zu liefern, Missstände aufzudecken und eine wahrhaft kompliziert gewordene Welt zu erklären; die sich darum bemühen, im Strom der Nachrichten für Halt und Orientierung zu sorgen; die sich für Aufklärung und Vernunft einsetzen – hoffentlich auch immer im Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit und der Möglichkeit der Täuschung.

Sie alle, die diese Tugenden des Journalismus in die Tat umsetzen, sind unverzichtbar für unsere Demokratie. Ob Sie nun als Redakteure, Volontäre oder Freie arbeiten, ob für Print oder Online, Hörfunk oder Fernsehen: Ich will diese Gelegenheit nutzen, um mich ausdrücklich für Ihre Arbeit zu bedanken!

Manche sagen: Niemand bei Verstand kann gutheißen, dass auch heute noch allabendlich für viele Millionen Euro Texte auf Hunderte von kilometerlangen Papierbahnen gedruckt, landesweit ausgeliefert und nachts zu Fuß zugestellt werden. Und auch in der Sonderausgabe zum Madsack-Jubiläum heißt es: Die Zukunft ist digital. Aber es geht nicht ums Papier, sondern um das Prinzip Tageszeitung. Und ich glaube, in diesen Zeiten, in denen immer weniger Menschen über dasselbe reden, kann die Zeitung, gerade auch die Lokal- und Regionalzeitung, eine besondere Bedeutung für den Zusammenhalt unserer offenen Gesellschaft spielen – ganz egal, ob sie nun gedruckt auf Papier erscheint oder digital als E-Paper oder im Internet.

Gerade eine Lokal- oder Regionalzeitung bildet, jedenfalls im Idealfall, die ganze Gesellschaft ihrer Stadt oder Gemeinde ab, lässt verschiedene Menschen zu Wort kommen, vermittelt unterschiedliche Sichtweisen und Standpunkte. Sie wirkt der Vereinzelung von Wahrnehmungen entgegen, weil sie ihren Lesern eine umfassende Perspektive bietet, nicht nur auf die Nachbarschaft, sondern auch auf Deutschland, Europa und die Welt.

Lebendige Zeitungen schaffen so einen gemeinsamen Hintergrund, sie können Verständnis fördern für die Notwendigkeit des Streits, und sie können auch Verständnis fördern für die Notwendigkeit des Kompromisses. Ich glaube sogar, dass sie dazu beitragen können, den Ton der öffentlichen Debatte zu mäßigen, Wut und Erregung zu dämpfen. Denn sie sind bedachtsame Medien, wie der Publizist Frank A. Meyer geschrieben hat: Sie zähmen die Zeit, weil sie die Verbreitung und Verarbeitung von Informationen verlangsamen und die Prüfung von Fakten erlauben. Ich wünsche mir jedenfalls, dass sie ein Medium des Nachdenkens in unserer Demokratie bleiben.

Journalisten tun im besten Fall das, was viele Bürger sich auch von ihren Politikern wünschen: Sie sind nah dran an den Menschen, hören ihnen zu, greifen auf, was sie bewegt oder besorgt. Oft spüren sie gesellschaftliche Probleme auf, lange bevor sie in Berlin oder Brüssel ankommen. Auf meiner Deutschlandreise habe ich viele Regionalzeitungen besucht und mit Redakteuren gesprochen. Mir ist da noch einmal mehr klar geworden, wie sehr es sich von Ort zu Ort unterscheidet, was die Menschen gerade umtreibt: Hier ist es Gewalt von Rechtsradikalen, da gibt es Probleme im Zusammenleben mit Flüchtlingen. Hier geht es um steigende Mieten oder Feinstaub, dort um den weiten Weg zum Arzt oder die Verödung ganzer Landstriche.

Ich glaube, nicht nur Politiker, sondern auch Journalisten können viel vom Lokalen lernen. Dean Baquet, der Chefredakteur der New York Times hat einmal gesagt: Wir, die Reporter, müssen raus aus unserer New Yorker Blase. Und es wäre auch nicht gut, wenn Journalisten sich nur in einer Berliner oder einer Hannoverschen Blase tummeln würden! Selbst der härteste Fragensteller Berlins, das wird mir Dieter Wonka jetzt hoffentlich durchgehen lassen, kann in Oschatz oder Obercarsdorf, in Wustrow oder Wendeburg seinen Horizont erweitern.

Guter Journalismus sollte sich in erster Linie an gesellschaftlichen und politischen Problemen orientieren, an unterschiedlichen Lösungen und Herangehensweisen, nicht ausschließlich an Prominenz.

Denn wenn Medien sich entscheiden, dass die Berichterstattung über Politik zu nüchtern oder zu langweilig ist, wenn sie stattdessen immer mehr auf Unterhaltung und Personalisierung setzen, dann darf man sich auch nicht wundern, dass Politiker, die auf öffentliche Wahrnehmung angewiesen sind, darauf reagieren und sich anpassen. Das ist dann nicht Schuld der Medien, aber Journalisten sollten ihre Rolle bei der Gestaltung von Öffentlichkeit jedenfalls auch nicht unterschätzen.

Lokal- und Regionalzeitungen haben noch eine andere Stärke. Oft benennen sie Missstände nicht einfach nur, sondern laden ihre Leser auch ein, gemeinsam zu diskutieren oder selbst mit anzupacken – ob es nun um die Gründung eines Jugendzentrums geht, um Lärmschutz oder Sprachkurse für Flüchtlinge.

Ich finde es gut und wichtig, wenn Journalisten eine solche Rolle als Aktivierer einnehmen. Aktivisten dürfen Journalisten nicht sein, wenn sie sich eine neutrale, unparteiische Haltung bewahren wollen – aber als Aktivierer einer lebendigen, engagierten, sachlich-aufgeklärten demokratischen Öffentlichkeit – so dürfen, so sollten Sie sich durchaus verstehen. Und mein Eindruck ist: Diese gesellschaftliche Verantwortung wird in einer Regionalredaktion manchmal klarer erkannt als im großen Hauptstadtrummel.

Ich weiß, oft sind es schwierige Fragen, die Sie im Alltag abzuwägen haben: Wie kann man nach einem Terroranschlag schnell berichten, ohne fahrlässig zu sein? Hat es einen Nutzen für die Allgemeinheit, Herkunft oder Religion eines Tatverdächtigen zu nennen – oder leistet es Diskriminierung Vorschub? Und wann schlägt berechtigte Kritik eigentlich um in Verächtlichmachung von Politik und Institutionen?

Hören Sie bitte nicht auf, solche Debatten zu führen und auch eigene Fehler und Grenzüberschreitungen offenzulegen. Selbstkritik untergräbt nicht das Vertrauen in die Autorität der Medien, ganz im Gegenteil: Sie hilft, Misstrauen abzubauen und Akzeptanz zu bewahren.

In einer Zeit, in der wir alle zu Sendern geworden sind, gehen diese Fragen nicht nur Journalisten, sondern jeden Einzelnen von uns an. Als mündige Bürger müssen wir lernen, klug und besonnen mit Informationen umzugehen. Und wem unsere auf Diskussion, Kompromiss und den Ausgleich von Interessen angelegte Demokratie etwas wert ist, dem muss auch professioneller und vielfältiger Journalismus etwas wert sein. Wir brauchen möglichst viele Bürger, die bereit sind, sich journalistische Angebote etwas kosten zu lassen – ganz gleich, ob online oder am Kiosk.

Vieles hat sich gewandelt, seit August Madsack die erste Ausgabe seines Anzeigers herausbrachte. Was aber geblieben ist, ist der hohe Anspruch, den Sie hier in Hannover an Ihre Zeitungen stellen. Ich wünsche mir, dass Sie auch in Zukunft keine Abstriche machen, wenn es um journalistische Qualität geht. Informieren Sie unabhängig und verlässlich, behalten Sie ihr Ohr am Puls der Region, bringen Sie unterschiedliche Menschen ins Gespräch.

Als Thomas Mann dem Madsack-Verlag vor 90 Jahren zur Eröffnung des Anzeiger-Hochhauses gratulierte, da schrieb er: Wer in so neuem und kühnen Stile hauset, […] wird mehr als je sich entschlossen zeigen, ein ‚Anzeiger‘ zu sein der Zeit und der Zukunft. Ich wünsche Ihnen, dass Sie sich diese Entschlossenheit bewahren. Und ich möchte heute hinzufügen: Bleiben Sie ein Anzeiger der Demokratie.

Herzlichen Dank!