Konferenz "The Struggle for Democracy" anlässlich der Eröffnung des Thomas-Mann-Hauses

Schwerpunktthema: Rede

Los Angeles/USA, , 19. Juni 2018

Der Bundespräsident hat am 19. Juni bei der Konferenz "The Struggle for Democracy" in Los Angeles eine Ansprache gehalten: "Wo wir in den letzten Jahren allzu selbstsicher geglaubt haben, dass wir in unseren eigenen Gesellschaften die liberale Demokratie ein für alle Mal errungen hätten und ihr nun im Rest der Welt Geltung verschaffen würden, stellen wir heute fest: Diese liberale Demokratie ist bei uns selbst nicht unangefochten."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei der Konferenz 'The Struggle for Democracy' im Getty Research Institut anlässlich der Eröffnung des Thomas-Mann-Hauses in Los Angeles anlässlich seiner Reise in die USA

Ich möchte heute über Demokratie sprechen. Denn: Es ist Zeit! Es ist Zeit – auch bei einer solchen Gelegenheit wie heute –, neu und grundsätzlich danach zu fragen, was uns auch heute diesseits und jenseits des Atlantiks im Inneren verbindet.

Auf dieser Suche möchte ich über einen großen Deutschen sprechen, der in besonderer und durchaus ambivalenter Weise für unsere demokratische Verbindung steht.

Thomas Mann war einer der größten Autoren deutscher Sprache. Aber: Thomas Mann war kein geborener Demokrat. Er hat zu Lebzeiten mehr als eine politische Wandlung durchlaufen – er hat Gewissheiten gesucht, gefunden und verloren. Noch 1958, drei Jahre nach Manns Tod, schreibt Kurt Sontheimer über den politischen Schriftsteller Thomas Mann: Kaum ein deutscher Autor stand so stark im Zwielicht.

Thomas Manns verschlungener und widersprüchlicher Weg zur Demokratie steht in mancher Hinsicht symbolhaft für unseren, für Deutschlands Weg zur Demokratie. Wo ich bin, ist Deutschland. Ohne uns Manns trotzig-selbstbewussten Satz aus dem Exil zu eigen zu machen, könnten wir immerhin sagen: Wohin er sich aufgemacht hat, dort ist Deutschland schließlich angekommen.

Wo beginnt dieser verschlungene Weg? In der späten Kaiserzeit begegnet uns Thomas Mann als aufgeklärter Monarchist mit linksliberalen Tendenzen. Er feiert die Freiheit des Wortes, er wettert gegen die Zensur, gegen Aufführungsverbote von Wedekinds Dramen, er verteidigt den Anarchisten Erich Mühsam; veröffentlicht in Eduard Bernsteins sozialdemokratischen Sammelbänden; und im oft übersehenen zweiten Roman Königliche Hoheit entwirft er eine erste, noch monarchisch, romantisch, märchenhaft getönte Sozialstaatsvision.

1914 – die europäische Zäsur ist auch eine Zäsur in Manns politischem Denken. Der Krieg bricht aus – und aus Thomas Mann brechen nationalistische und autoritäre, völkische und offen rassistische Töne. Fort mit dem landfremden und abstoßenden Schlagwort demokratisch! Nie wird der mechanisch-demokratische Staat des Westens Heimatrecht bei uns erlangen. Sätze, an denen der spätere Thomas Mann über sich selbst erschrecken, mit denen er öffentlich hadern wird.

In der jungen Weimarer Republik erwacht Thomas Mann aus dem völkischen Rausch. Im Zauberberg lässt er das Aufgeklärt-Rationale des Settembrini und das Völkisch-Irrationale des Naphta zum imaginären Wettstreit um die deutsche Seele Hans Castorps antreten. Doch in der Realität der verwundbaren Republik erkennt er mehr und mehr die Bedeutung der politischen Vernunft gegenüber der totalitären Verführbarkeit der Deutschen, die das Irrationale boshaft vergöttern. Und bereits in dieser Phase führt Manns politischer Weg über Amerika. Er erforscht die Gründerväter, er liest Geistesgrößen von Emerson bis Whitman und erkennt in Amerika eine Nation neuen Typs, in der nicht Volksgemeinschaft über Zugehörigkeit entscheidet, sondern das Bekenntnis zur gemeinsamen Verfassung.

Seine Rede Von deutscher Republik im Jahr 1922 ist schon im Titel ein Affront gegen seine ehemaligen Gefolgsleute. Die nationalkonservative Zeitschrift "Das Gewissen" titelt resignierend: Mann über Bord – die deutsche Rechte hat ihren Wortführer verloren. Thomas Mann wird zum Bewunderer des Sattlermeisters und Reichspräsidenten Friedrich Ebert – ein Dorn im Auge der Demokratieverächter. Im Rückblick schreibt Kurt Sontheimer: [In den frühen Zwanzigern] war die deutsche Republik von Weimar ein sehr gebrechliches Staatswesen, das zu kritisieren weit einfacher und bequemer war als in Schutz zu nehmen. Meine Damen und Herren, ich sage es aus gegebenem Anlass: Heute ist es an uns, nicht zuzulassen, dass die Verächtlichmachung von Demokratie wieder bequemer wird als für sie einzustehen!

Doch während Mann sich endgültig auf die Seite der Demokratie stellt, nimmt das deutsche Unheil seinen Lauf. Oh Deutschland, Du gehst zugrunde, und ich gedenke Deiner Hoffnungen!, so lässt er unter der kalifornischen Sonne den großen Doktor Faustus enden. Über die Machtergreifung, über Manns Verzweifeln an der faschistischen Verführbarkeit der Deutschen, über seine Wut auf die Nationalsozialisten, seinen Hass auf Hitler, über die persönlichen und familiären Leiden auf dem Weg ins Exil, erst das Schweizer und schließlich das Amerikanische – über all das ist ausführlich geforscht und geschrieben worden. Viele im Saal können darüber weit kompetenter berichten als ich.

Aber dieses will ich festhalten: Wohl erst in Amerika wird Thomas Mann vom Vernunft-Demokraten zum Herzens-Demokraten. Und seine ganze Begeisterung richtet sich auf eine Person: Franklin D. Roosevelt. Wie wunderbar lebendig haben Sie uns, lieber Frido Mann, aus Ihren Kindheitserinnerungen erzählt: Wie Ihr Großvater am Frühstückstisch am San Remo Drive mit leuchtenden Augen und großer, schauspielerischer Geste von dem charismatischen, doch körperlich geschwächten Präsidenten erzählt. Thomas Mann, für den „die wirkliche Demokratie […] nie eines aristokratischen Einschlags entbehren“ kann, findet in F.D.R. den Inbegriff demokratischer Autorität. Er setzt ihm gar ein literarisches Denkmal in der politischen Klugheit und im sozialreformerischen Eifer von Joseph, dem Ernährer. Diese Anklänge entgehen nicht der New York Times, die ihre Josephs-Rezension betitelt: A New Deal Man in Egypt.

Mit Roosevelt und für Roosevelt stürzt Thomas Mann sich in den War Effort. Er hält flammende Reden gegen Hitlerdeutschland und für eine wehrhafte Demokratie. Auf Vortragsreisen durchs Land versucht er, die Amerikaner aus ihrem Isolationismus zu rütteln. Und insgesamt 55 berühmt gewordene Radioansprachen schickt er vom San Remo Drive über den Äther in die Heimat. Noch während Hitlers Krieg auf dem Höhepunkt tobt, ruft er: Je länger der Krieg dauert, desto verzweifelter verstrickt dieses Volk sich in Schuld – und doch hofft er zugleich auf dessen Zukunft in Freiheit.

Kurzum: Hier in Amerika hat Thomas Mann die Stärke und Mobilisierungskräfte der Demokratie erleben und erlernen dürfen.

Aber hier hat er auch ihre Gefährdungen und Abgründe erfahren.

Und das in einer zeitlichen Unmittelbarkeit, die uns heute vielleicht nicht gänzlich unvertraut ist. Wenige Jahre liegen zwischen der Lichtgestalt Roosevelt und dem Abgleiten in ein vergiftetes politisches Klima aus Intoleranz und Polarisierung, aus Feindbildern und Verschwörungstheorien und staatlich betriebenem Abschleifen von Grundrechten und unabhängiger Justiz. Während der Marshall-Plan dem zerstörten Deutschland einen wirtschaftlichen und moralischen Neubeginn ermöglicht, findet Thomas Mann in Kalifornien Vertraute, Exilanten, Künstler und Intellektuelle, seine eigenen Kinder – Erika, Klaus und Golo – und schließlich sich selbst im Visier von McCarthys eifernden Kommunistenjägern. Als Dupes and Fellow Travellers stellt ihn das Life Magazine in eine illustre Reihe der Verdächtigen von Charlie Chaplin und Leonard Bernstein bis Arthur Miller und Albert Einstein. Die Daily News berichten aus Washington, Mann sei zwar ein literarischer Gigant, aber ein beharrlicher Stalinist, an dessen Loyalität man zweifeln müsse. Unter solchem Druck treibt es die Manns ins zweite Schweizer Exil. Dort notiert er Anfang 1953 im Tagebuch: Was vorgeht, ist nicht gerade die Machtergreifung, aber etwas dem sehr Nahes. Wir wissen, wie falsch er damit lag, aber es zeigt die Tiefe seiner Verbitterung und die Angst um sein Amerika.

Thomas Mann wird den San Remo Drive – that home which I have come to love – nicht wiedersehen. Doch schon in der Schweiz, verfolgt er noch die Kongresswahlen, die im November 1954 die republikanische Mehrheit brechen. Er erlebt den Anfang vom Ende des verhassten Hexen-Komitees – wie er es nannte– und sieht McCarthys Stern sinken. Als Bundespräsident bin ich der Spekulation nicht zugeneigt. Aber es ist nicht ganz von der Hand zu weisen, lieber Frido Mann, was Sie in Ihren Erinnerungen schreiben: Nach allem Auf und Ab seines Amerikas wäre Thomas Mann sicherlich beglückt gewesen über die jugendliche, die elektrisierende Erneuerung der amerikanischen Demokratie, die bald folgen sollte – die Wahl des 35. Präsidenten, John F. Kennedy.

Er hat sie nicht mehr erlebt. 1955 stirbt Thomas Mann. Erst vor wenigen Wochen durfte ich, gemeinsam mit dem Schweizer Bundespräsidenten, an seinem Grab in Kilchberg innehalten.

Wenn ich als deutscher Bundespräsident heute an Thomas Mann erinnere, dann lehrt mich seine Demokratiegeschichte vor allem Demut. Ich sagte eingangs: Wohin er aufgebrochen ist, dort ist Deutschland endlich angekommen. Und ich füge hinzu: Das verdankte er, und das verdanken wir vor allen anderen diesem Land, Amerika!

Uns Deutschen ist die Demokratie nicht in die Wiege gelegt. Nachdem Deutschland seine erste Demokratie so fatal hat scheitern lassen, haben wir sie von und mit Amerika aufs Neue erlernt.

Die Amerikaner waren die ersten, die uns Demokratie nach 1945 wieder zugetraut haben. Wir Deutschen sollten die letzten sein, die ihnen heute von oben herab Lektionen in Demokratie erteilen.

Alle, die in Deutschland dieser Tage in täglicher Empörung, sogar mit einem gewissen kulturellen Hochmut, den Kopf schütteln über die Endzeit der amerikanischen Demokratie – die erinnere ich an Thomas Manns glasklare Worte: Nein, Amerika bedarf keiner Unterweisung in Dingen der Demokratie.

Keine andere Demokratie der Welt hat sich als so resilient, als so erneuerungsfähig erwiesen wie die amerikanische. Und das immerhin seit 240 Jahren. Dem demokratischen Auf und Ab, das Thomas Mann erlebte, folgten neue Höhen und auch Tiefen. Die Proklamation des Endes der Geschichte als endgültiger Sieg der Demokratie vor gut 25 Jahren war ebenso voreilig wie die Abgesänge auf die Demokratie, die wir heute hören.

Nein, ich mache mir weniger Sorgen um die Zukunft der amerikanischen Demokratie als um die Zukunft unserer transatlantischen Partnerschaft.

Streit gab es zwischen uns immer wieder. Wir sind nicht dieselben und haben unterschiedliche Interessen. Aber der Schaden der heutigen Erschütterung kann tiefgehender, langfristiger – und vor allem irreparabel sein.

Denn die Kräfte, die uns auseinander treiben, haben nicht nur mit einem Präsidenten Trump zu tun. Es gab sie schon vor der aktuellen US-Regierung, und es wird sie auch nach ihr noch geben:

Erstens ist Europa, anders als zu Manns Zeiten, nicht mehr der zentrale geopolitische Schauplatz. Die Hinwendung nach Asien, insbesondere China, ist gerade hier in Kalifornien zu spüren. Hinzu kommt die demographische Veränderung: Der Anteil der Amerikaner wird abnehmen, die uns Deutsche mit leuchtenden Augen empfangen und rufen: Meine Urgroßeltern kamen aus der Pfalz, Ostfriesland oder vom Niederrhein. Auch die Dynamik der Weltwirtschaft verschiebt das ökonomische Schwergewicht von Europa hin in andere Weltregionen. Der Isolationismus erlebt eine Renaissance in den USA – Andrew Jackson hängt wieder im Oval Office. Und die Europäische Union bleibt, durch ihre vielfachen inneren Krisen, vor allem mit sich selbst beschäftigt.

Zu Thomas Manns Zeiten war die transatlantische Beziehung sozusagen schicksalhaft. Doch das ist sie in den Augen vieler nicht mehr.

In jeder Rede eines deutschen Verantwortungsträgers sollte an dieser Stelle ein transatlantisches Bekenntnis folgen. Trotz aller Meinungsunterschiede, gegen alle Trends: Wir müssen unsere Freundschaft neu beleben.

Ja, das müssten wir. Aber ich fürchte: Ganz so einfach ist das mit dem transatlantischen Bekenntnis heute nicht mehr. Es würde verhallen. Der transatlantische Reflex funktioniert nicht mehr. Übrigens nicht nur im Weißen Haus, nicht nur wegen Amerikas veränderter Interessenlage – sondern auch unter vielen Deutschen.

Dementsprechend bunt ist auch bei uns die Debatte darüber, wie es weitergehen soll. Es gibt die, die sagen: Europa muss endlich auf eigenen Beinen stehen. Amerika will uns nicht mehr schützen und kann es auch absehbar nicht mehr. Es gibt die, die sagen: Lasst uns neue Partner finden. Mit China können wir besser den Freihandel und das Klima schützen als mit der US-Regierung. Und es gibt diejenigen, die sagen: Deutschland muss jetzt neu auf Russland zugehen.

Eingefleischte Transatlantiker werden vehement gegen alle diese Stimmen argumentieren. Und sie mögen gute Gründe haben. Doch ihre guten Gründe täuschen nicht darüber hinweg, dass wir die historische Evidenz dieser Beziehung nicht einfach in die Zukunft fortschreiben können, selbst wenn wir – schon für unsere Sicherheit – weiter auf sie angewiesen sein werden. Wenn der transatlantische Reflex nicht mehr funktioniert, genügen auch keine reflexhaften Antworten. Wir müssen eine neue Begründungsebene finden – und zwar eine, die auf beiden Seiten trägt. Weder wirtschaftliches Interesse noch politische Notwendigkeit noch demographische Verbindungen allein werden uns in Zukunft beisammen halten. Was also dann?

Vergessen wir für einen Moment all das, was uns historisch verknüpft hat, was uns sozial oder wirtschaftlich zusammenschweißt. Wenn uns keine Notwendigkeit verbinden würde, dann wären wir, Deutsche und Amerikaner, immer noch Demokraten. Das verbindet uns, sicherlich mehr als mit jeder anderen Region der Welt, gewiss enger als mit Russland oder China. Und das gibt uns mehr gemeinsame Mission, als wir in den letzten Jahren geglaubt haben.

Denn: Es ist mit der Selbstverständlichkeit der Demokratie in aller Welt eine zweifelhafte Sache geworden. Dieser Satz – Sie ahnen es – von Thomas Mann ist 80 Jahre später wieder aktuell. Und er bedeutet für uns im Westen zweierlei: Wo wir in den letzten Jahren allzu selbstsicher geglaubt haben, dass wir in unseren eigenen Gesellschaften die liberale Demokratie ein für alle Mal errungen hätten und ihr nun im Rest der Welt Geltung verschaffen würden, stellen wir heute fest: Diese liberale Demokratie ist bei uns selbst nicht unangefochten, und sie ist im Rest der Welt wahrlich nicht das Maß aller Dinge.

Die Zukunft der Demokratie beginnt also nicht damit, sie anderen zu erklären, sondern sie bei uns selbst zu verteidigen und zu erneuern.

Vor drei Jahren hatte ich als deutscher Außenminister das Privileg, gemeinsam mit dem großen John Lewis das Grab von Martin Luther King in Atlanta zu besuchen. Dort sprachen wir über Kings unvollendetes Werk, und ich fragte John, wie er die Kraft findet, es fortzusetzen; wie er seine Unzufriedenheit, ja seine Wut über die tiefen und bleibenden Ungerechtigkeiten in der amerikanischen Gesellschaft übereinbringt mit seinem unerschütterlichen Glauben an das Gute im Land, an seine Menschen, seine Zukunft. Und John Lewis antwortete: Im Auftrag unserer Verfassung to form a more perfect union steckt das Eingeständnis, dass diese Demokratie zu jedem Zeitpunkt imperfect ist. Dass sie immer Fehler haben wird. Dass es nicht auf Zustände ankommt, sondern auf Bewegung – und ihre Richtung. In diesem Sinne ist die Krise der liberalen Demokratie eine Chance, dass sie alle Selbstverständlichkeit und Selbstvergessenheit von sich abtut und […] die Tatsache, dass sie wieder problematisch geworden, dazu benutzt, sich durch die Bewusstmachung ihrer selbst zu erneuern. Thomas Mann, 1938.

Zu dieser Bewusstmachung gehört aus meiner Sicht, dass wir dem Namen der Demokratie einen weiten Sinn geben, dass wir den Blick weiten über das tägliche Schauspiel der Hauptstädte, über die Minutentaktung der Newsfeeds und Agenturmeldungen. Gerade wir Deutschen machen uns das transatlantische Verhältnis zu einfach, wenn wir in der Erregung über Tweets aus dem Weißen Haus die tieferliegenden gesellschaftlichen Risse aus dem Blickfeld verdrängen, die es in unserem eigenen Land ebenso gibt: die Konflikte der Einwanderungsgesellschaft, die Schattenseiten der Globalisierung, die Kluft zwischen Stadt und Land, zwischen Arm und Reich. Wenn wir den Blick darauf richten, dann erscheint die aktuelle Präsidentschaft nicht nur als Ursache, sondern auch als Symptom der gesellschaftlichen Fliehkräfte. Und die wirken auf beiden Seiten des Atlantiks.

Aber wenn wir den Blick auf die Gesellschaft weiten, dann sehen wir nicht nur Irritierendes – wir sehen auch die Kräfte der Erneuerung. Und die stecken an vielen Orten in diesem Land: die Schülerinnen und Schüler, die ausufernde Waffengewalt nicht länger hinnehmen wollen; die Engagierten, die Martin Luther Kings Poor People’s Campaign mit neuem Leben füllen; die unzähligen Frauen, die in so großer Zahl wie nie zuvor für politische Ämter im ganzen Land antreten. In diesen Erneuerern steckt transatlantische Zukunft – nicht in gegenseitiger Empörung.

Darum geht es mir auf dieser Reise, nicht um Nostalgie, sondern um Erneuerung: Die Zukunft der Demokratie ist nicht zu gewinnen ohne eine Idee von der Demokratie der Zukunft. Das gilt insbesondere mit Blick auf die technologischen Entwicklungen, über die wir im Silicon Valley sprechen werden. Technologische Entwicklungen stellen ja nicht nur die ordnende Kraft des Staates auf die Probe, sondern menschliches Denken und Handeln überhaupt.

Im Zeitalter von Robotern, Algorithmen und künstlicher Intelligenz stellt sich die Frage nach menschlicher Autonomie und damit nach der Grundlage von Demokratie auf ganz neue Art. Der technologische Fortschritt soll ja, frei nach Kants aufklärerischem Motto, den Ausgang des Menschen aus der Unmündigkeit erleichtern und nicht der freiwillige Einstieg in neue Unmündigkeit sein. Neue Technologie aber kann beides: befähigen und entmündigen. Deshalb möchte ich im Silicon Valley über die Ethik der Digitalisierung sprechen. Es geht bei dieser Ethik nicht in erster Linie um die Zukunft von Technologien, sondern es geht um unsere eigene Zukunft – als Menschen und als menschliche Gesellschaft.

Mit all diesen Zukunftsfragen sind wir unterwegs ins Offene, ins Unbekannte. Aber es gibt in meinen Augen eine unersetzbar menschliche Qualität, die bleiben muss: die Vernunft. Ohne die Vernunft ist Demokratie auch in Zukunft nicht zu machen.

Es ist ein schreckliches Schauspiel, wenn das Irrationale populär wird, ruft Thomas Mann 1943 in der Library of Congress. Ich fürchte, wir erleben gerade neue Folgen dieses Schauspiels in der politischen Debatte auf beiden Seiten, in Amerika und in Europa.

Ja, man kann klagen über die Verrohung der Sprache, insbesondere im Internet und den sozialen Netzwerken, über die Sehnsucht nach Eindeutigkeit, über die Verlockung von Feinbildern und Sündenböcken, über die Verachtung von Sachlichkeit, sogar von wissenschaftlicher Expertise. Solche Klagen waren auch Thomas Mann nicht fremd.

Doch die Frage ist, was aus den Klagen folgt. Ich persönlich halte den Schlachtruf gegen das Establishment für das gefährlichste Lockmittel des Populismus – ein Schlachtruf, der wahlweise gegen jedermann gilt außer natürlich den selbsternannten Kämpfern gegen die sogenannten Eliten. Umso wichtiger ist es, dass diejenigen, die Verantwortung tragen in Gesellschaft, Medien, Wissenschaft und Kultur, alle, die sich als Establishment verunglimpft sehen, das Feld nicht räumen! Die Antwort der Intellektuellen und Kulturschaffenden auf den Irrationalismus darf nicht der Rückzug aus der Politik sein, und schon gar nicht deren Verachtung. Es ist von erstaunlicher Aktualität, was Mann darüber in der Weimarer Republik schreibt: Jener Verzicht des Geistes auf die Politik ist ein Irrtum, eine Selbsttäuschung. Man entgeht dadurch nicht der Politik, man gerät nur auf die falsche Seite – und zwar mit Leidenschaft. A-Politik, das bedeutet einfach Anti-Demokratie!

Umso mehr soll das Haus am San Remo Drive kein Ort des Rückzugs sein. Als dieses Haus noch Exil war, wurde dort schon gedacht, geschrieben und diskutiert, was wegweisend sein würde für die Entwicklung unserer Gesellschaften, in Deutschland und in Amerika. Diesen Auftrag möchte ich den Thomas Mann Fellows mit auf den Weg geben: beizutragen zu einem geistigen Klima, in dem Demokratie aufs Neue gedeihen kann. Kurz gesagt: der Demokratie Zukunft zu geben. Und an diesem geistigen Wandel können Sie arbeiten, ganz egal, wie groß die politischen Differenzen zwischen den Regierungen aktuell auch sein mögen. Möge dieses Haus, mögen die neuen Fellows und ihre amerikanischen Counterparts, möge das Deutschlandjahr in den USA, mögen die vielen guten transatlantischen Initiativen immer wieder – und auf beiden Seiten – den Willen und die Bereitschaft finden, in diese Partnerschaft zu investieren! Ich jedenfalls werde es weiterhin tun.

1921, lange vor Pacific Palisades, liest Thomas Mann Walt Whitmans "Democratic Vistas". Mit begeisterter, doppelter Markierung streicht er sich folgenden Satz an: I shall use the words America and Democracy as convertible terms. Amerika und Demokratie sind Synonyme. So fand Thomas Mann, als er 1944 amerikanischer Staatsbürger wurde, darin auch nie einen Widerspruch zu seinem Deutsch-Sein, sondern lediglich die Vollendung seines Demokrat-Seins.

Was auch seine engsten Freunde nicht für möglich hielten: Selbst in der Verbitterung des zweiten Exils, in der Angst um den Niedergang der amerikanischen Demokratie hat Thomas Mann diese Staatsbürgerschaft nie abgegeben. Er ist bis zu seinem Tod Amerikaner geblieben.

Amerika und Demokratie als Synonyme: das haben nicht nur er und andere Exilanten so empfunden, sondern Generationen aus aller Welt, die sich nach Demokratie sehnen. Vor wenigen Wochen, in einer Rede an der Universität Harvard, beschrieb die Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie das Gefühl ihrer Jugend in Nigeria mit den Worten: America always felt aspirational.

Sollten wir, in der aktuellen Krise des Westens, jene aspiration, jene ideelle Bindung nicht umgekehrt betrachten? Dass nicht nur Demokraten in aller Welt Amerika zum Vorbild haben, sondern dass Amerika die Demokraten auf aller Welt als Partner verstehen kann!

Ich glaube: Auch Amerika braucht Partner. Und Amerika braucht diese Partner. Doch Amerika kann solche Partnerschaft nur erkennen, wenn es im Westen mehr sieht als eine Himmelsrichtung – und in der Welt mehr als einen Boxring, in dem jeder gegen jeden kämpft.

The great task – jener große Auftrag, auf den Abraham Lincoln dieses Land in der Stunde seiner tiefsten Spaltung eingeschworen hat, ist ein Auftrag, der weit über das Land hinausweist: […] that government of the people, by the people, for the people shall not perish from the earth.

Wohlgemerkt: nicht from this country, sondern from the earth. Das ist wahrlich ein großer Auftrag. Ich glaube: Ein Auftrag, für den man Partner braucht.