Verleihung des Europäischen Kulturerbepreises

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 22. Juni 2018

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 22. Juni bei der Verleihung des Europäischen Kulturerbepreises in Berlin eine Ansprache gehalten: "Europa muss sich dringend auf sich selber besinnen, es muss sich darüber einig werden, was es will und kann, es muss sich seiner eigenen Kräfte und Fähigkeiten versichern, es muss neues Selbstvertrauen gewinnen, es muss seinen Zusammenhalt stärken, es muss seine politische Zukunft in die eigene Hand nehmen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält ein Ansprache zur Verleihung des Europäischen Kulturerbepreises

Kulturerbe: Das hört sich für fortschrittliche Ohren eher nach etwas langweilig Rückwärtsgewandtem an. Das klingt nach alten Steinen, schlecht gelüfteten Museumssälen oder stundenlangen Führungen mit endlosen Jahreszahlen und Herrschergeschlechtern.

Dabei geht es doch – und diese Veranstaltung wird es, da bin ich mir sicher, in aller Deutlichkeit zeigen – um nichts anderes als um eine gute und lebenswerte Zukunft für Europa und für alle Europäer.

Wir alle haben es in den letzten Monaten in aller Eindringlichkeit erfahren: Europa muss sich dringend auf sich selber besinnen, es muss sich darüber einig werden, was es will und kann, es muss sich seiner eigenen Kräfte und Fähigkeiten versichern, es muss neues Selbstvertrauen gewinnen, es muss seinen Zusammenhalt stärken, es muss seine politische Zukunft in die eigene Hand nehmen.

Wenn wir uns dafür neu der Werte versichern wollen, für die Europa, für die die Gemeinschaft der Europäer steht, dann sind wir zentral auf das kulturelle Erbe Europas verwiesen, das immer wieder Inspiration und Kraft zur Zukunft geben kann.

Denn: Immer wieder ist in Europa gerade aus Krisen Neues entstanden, immer wieder hat hier der Mensch gerade seine Fähigkeiten und Möglichkeiten weiter entwickelt. Dabei sind häufig auch neue Formen politischer Organisation und gesellschaftlichen Zusammenlebens entstanden. Sehr oft inspiriert aus immer neu lebendig gemachten alten Quellen: der jüdisch-christlichen Überlieferung, der antiken Philosophie, dem römischen Recht. Immer wieder ist das gemeinsame Erbe Inspiration und Ermutigung, Maßstab und Orientierung geworden.

In der Kunst ist das vielleicht am deutlichsten zu sehen: Die Romanik am Rhein und in Burgund – nicht denkbar ohne die Baukunst der Römer. Die im zwölften Jahrhundert allermodernste Gotik, von Paris bis Rostock: nicht denkbar wiederum ohne ihre romanischen Vorläufer. Und der europäische Barock, von Portugal bis Litauen, nimmt wieder Anleihen bei der Antike – in Spanien dazu auch noch am muslimischen Erbe. Und dennoch stellt sich das, was geschaffen wird, doch immer wieder als etwas völlig Neues dar – auch in der europäischen Musik, in der Literatur, in der bildenden Kunst.

Europa ist der Kontinent der ständigen Erneuerung, nicht obwohl, sondern weil er auch der Kontinent der Erinnerung, des historischen Bewusstseins ist. Und immer wieder kreist alles um den Menschen, um die Fragen: Was ist der Mensch? Was soll der Mensch in der Welt? Was kann der Mensch glauben, was kann er wissen, was darf er hoffen? Wie sollen, wie können die Menschen zusammenleben? Das menschliche Maß: Das ist es, wonach Europa, wonach die europäische Kultur immer wieder auf der Suche ist. Es wird nie endgültig gefunden.

Aber sein Gegenteil, die Maßlosigkeit und die Maßstabslosigkeit führen zu den schrecklichsten Irrtümern und grausamsten Verbrechen. Wir wissen: Das Europa der Tempel und Kathedralen ist auch das Europa der Scheiterhaufen und Konzentrationslager. Letzteres ein sehr deutscher Beitrag zur europäischen Geschichte. Europäische Geschichte bedeutet immer Trost und Mahnung, Warnung und Ermutigung.

Zum deutschen kulturellen Erbe gehören bekanntlich manche Goethe-Zitate, ob mit oder ohne ursprünglichen Kontext. Auch wenn man sie allzu gut zu kennen glaubt, eröffnen sie manchmal eine neue Perspektive, selbst dann, wenn es wie dieses, in völligem Unverständnis für den Sinn, etwa von witzigen Rechtsanwälten für Workshops zu Erbschaftsangelegenheiten vielfach missbraucht wurde. Im ersten Teil des „Faust“ heißt es bekanntlich:

Was du ererbt von deinen Vätern hast,

Erwirb es, um es zu besitzen.

Wenn wir es auf das kulturelle Erbe beziehen, dann steckt in diesem Faust-Zitat eine ganze Kulturpädagogik und Kulturpolitik.

Erwirb es. Das bedeutet: Verstehe, was hier vor dir ist, mache dir den Wert dessen klar, was dir zunächst ohne dein Verdienst überkommen ist. Versuche, dir den Entstehungsprozess vor Augen zu führen, die Gedanken und Vorstellungen, die zu der Gestalt geführt haben, in der du es heute siehst. Und versuche, die Geschichte zu verstehen, die hier erzählt wird: die bunte und immer überraschende Geschichte, die oft grausame und tragische, genauso oft aber auch stolze und erhabene Geschichte, die in Europa jede Kirche und jedes Rathaus erzählt, aber auch dieses Schloss und jene Parklandschaft, dieses Kloster und jene Kaserne, diese Burg und jene Brücke, dieser Marktplatz und jener Turm, dieser Bahnhof und jenes Grandhotel.

Erwirb es meint nicht, es fällt dir in den Schoß! Eher ist es die Aufforderung: Eigne es dir an und zeige dich reif dafür! Es heißt also, sich dessen zu versichern, was unseren alten und immer jungen Kontinent zutiefst geprägt hat. Damit aus Geschichte immer wieder produktiv auch Zukunft gestaltet werden kann: Dafür muss das Erbe zunächst einmal erhalten werden. Es braucht konsequenten Schutz des kulturellen Erbes. Auch das ist nichts Verstaubtes. Schutz des kulturellen Erbes ist vielmehr kreative Arbeit an unserem Selbstverständnis und an unserer Zukunftsfähigkeit.

Nein, der erste Blick trügt: Kulturelles Erbe ist nicht langweilig. Es erzählt vielmehr spannende Geschichten, nicht nur von früher, auch von uns heute. Und es macht neugierig darauf, wie es mit uns weitergeht. Es verpflichtet uns schließlich, auch unseren Kindern und Kindeskindern ein gutes Erbe, ein gutes Europa zu hinterlassen.