Jubiläumsveranstaltung "20 Jahre Tolerantes Brandenburg"

Schwerpunktthema: Rede

Cottbus, , 23. Juni 2018

Der Bundespräsident hat am 23. Juni bei der Veranstaltung "20 Jahre Tolerantes Brandenburg" in Cottbus eine Ansprache gehalten: "Es gibt eine Tendenz zur Verrohung und Entsolidarisierung in unserem Land, auf die wir reagieren müssen. Es geht darum, gezielte Gegenstrategien zu entwerfen. Toleranz, Respekt, friedliches Miteinander: Diese Werte müssen wir in der Gesellschaft insgesamt – auf allen Ebenen – viel konsequenter vorleben und einfordern. Es darf nicht zur Normalität werden, Feindbilder zu stilisieren und sich bei einer Meinungsverschiedenheit ungebremst in enthemmten Empörungsmodus zu begeben."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält ein Ansprache bei der Jubiläumsveranstaltung "20 Jahre Tolerantes Brandenburg" in Cottbus

Fast auf den Tag genau ein Jahr ist es her, dass ich zum heutigen Jubiläum eingeladen wurde: Wir feierten bei meinem Antrittsbesuch in Potsdam die Sieger des Steh-auf-Preises, und Frau Thiel-Vigh kam gewohnt schwungvoll mit ihren nächsten Plänen auf mich zu. Da ahnten wir noch nicht, dass der Veranstaltungsort Cottbus 2018 ein besonderer sein würde. Vergangene Woche in Berlin wurde ich gefragt: Der Bundespräsident in Cottbus – ausgerechnet jetzt? Nachdem ich im Februar Cottbuserinnen und Cottbuser im Schloss Bellevue zu Gast hatte und nun schon einige Stunden hier bin, wieder zu intensiven Gesprächen, kann ich nur sagen: Cottbus gerade jetzt! Gerade jetzt will ich hier sein! Ich schaue in so viele vertraute Gesichter hier im Saal und bin sicher: Cottbus ist 2018 genau der richtige Ort, um 20 Jahre Tolerantes Brandenburg Revue passieren zu lassen und sehr deutlich zu sagen, zu zeigen: Wir machen weiter! Das tolerante Brandenburg lassen wir uns nicht zerstören.

Eigentlich müsste ich jetzt die komplette Gästeliste vorlesen, damit klar wird, wie vielen Menschen ich danken möchte. Da sind die Frauen und Männer der ersten Stunde, die 1998 erkannt haben, dass Brandenburg einen Schulterschluss der Demokratinnen und Demokraten braucht. Und da sind all die unermüdlichen Mitstreiter seit Jahren. Aber ich freue mich genauso über die zahlreichen jungen Engagierten hier im Saal, eine Generation, die damals noch gar nicht geboren war. Die Älteren werden sich erinnern, die Jüngeren im Laufe des Abends vielleicht ein Stückchen besser verstehen lernen: Es war alles andere als ein Selbstläufer, dass sich ein Bündnis mit dem Namen Tolerantes Brandenburg zu einer so bekannten Adresse, zu einem so tragfähigen Netzwerk entwickeln würde. Meinen herzlichen Glückwunsch für eine wirklich beeindruckende Strecke in unwegsamem Gelände. Das ist Ihr und Euer Verdienst. Das ist mehr als einen Beifall wert, aber den darf’s trotzdem geben!

Unwegsames Gelände – einige von Ihnen wissen noch sehr genau, wie sich das in den 1990er Jahren anfühlte: in Eberswalde, in Guben, in Halbe. Bomberjacken und Springerstiefel prägten das Straßenbild in vielen Dörfern und Städten, Übergriffe auf Ausländer die Kriminalstatistiken.

Ausländer war damals der gängige Begriff für alle, die so aussahen, als könnten sie Asylbewerber, Zugewanderte oder sonstige Fremde sein. Und Neonazis wurden diejenigen genannt, die dann pöbelten und prügelten, bis hin zum Mord. In Ostdeutschland war es gerade die Zeit der großen Umbrüche, als sich Ministerpräsident Manfred Stolpe Tage mit 48 Stunden wünschte, um die vielen Aufgaben in Folge der Deutschen Einheit zu bewältigen – die Zeit, als immer noch Monat für Monat hunderte Einwohner auf der Suche nach Ausbildungs- und Arbeitsplätzen in Richtung Westen zogen.

Brandenburg habe ich in vielen Jahren kennen- und lieben gelernt. Und viele Brandenburgerinnen und Brandenburger haben mir klar gemacht, wie lange diese Erfahrungen des Umbruchs, das Gefühl der entwerteten Lebensläufe, Ungerechtigkeit und Perspektivlosigkeit in der Region nachwirkten. Nicht von ungefähr werden solche Prägungen von manchen heute als Erklärung für Vorbehalte und Ausgrenzung herangezogen. Aber sie entschuldigen nichts, gar nichts. Entschuldigen tun sie nichts, aber man sollte sie auch nicht ausblenden, denn nur der klare Kontrast zu 1998 zeigt, was das Tolerante Brandenburg als Konzept der Landespolitik seither gemeinsam mit vielen institutionellen Partnern und engagierten Bürgerinnen und Bürgern immer wieder versucht und zwischendurch erreicht hatte: ein hohes Maß an gesellschaftlicher Befriedung nämlich! Und das ist nicht eben wenig.

Eine solche Wirkung erzielt man nicht mit einem Stapel Flyer oder Plakate. Deshalb danke ich Ihnen, liebe Unterstützerinnen und Unterstützer, vor allem für 20 Jahre Hartnäckigkeit, für jeden Protestmarsch, jede Präventionsmaßnahme und Aufklärung, für jeden einzelnen Moment, in dem Intoleranz verhindert und Toleranz bestärkt wurde durch Ihre Arbeit. So viele Verdienste sind hier im Saal versammelt – für mich der wichtigste Grund, dieses Jubiläum zu feiern und Dank zu sagen! Danke für den Mut, nichts unter den Tisch zu kehren und Demokratie zu verteidigen.

Bomberjacken und Springerstiefel sind im Straßenbild vielleicht seltener geworden; extremistische Gesinnung und Gewalt gibt es aber auch 2018: in Cottbus, im Land Brandenburg, im Osten und – nicht weniger – im Westen Deutschlands. Trotzdem: Die politische Lage ist anders als 1998! Nicht entspannter, aber anders. Wir sehen uns mit Verwerfungen neuer Art konfrontiert. Toleranz muss neu begründet und neu errungen werden.

Die Sätze, mit denen wir vor einigen Jahren das freiheitlich-demokratische Lebensmodell verteidigt haben – Bunt statt Braun hieß einer der bekanntesten –, diese Sätze greifen heute nur noch bedingt. Denn die Lager und die Konfliktlinien sind längst nicht mehr so eindeutig. Als das Tolerante Brandenburg gegründet wurde, gab es eine relativ klar umrissene Zielgruppe am rechten Rand, und es gab eine bürgerliche Mitte, die sich mobilisieren ließ und dann sichtbar, hörbar gegen die Fanatiker abgrenzte, auch gegen subtilen Alltagsrassismus jeglicher Art. Bunt statt Braun – dieser Kontrast war lange hilfreich, aber er hat vielleicht zu lange den Blick verstellt für neue Schattierungen. Das Bild vom prügelnden Glatzkopf ist nur noch ein kleiner Ausschnitt dessen, was uns gerade umtreibt. Denn es gibt auch den Mitarbeiter im Baumarkt nebenan, der sich plötzlich entscheidet, Reichsbürger zu werden. Oder den Abiturienten, Jahrgangsbester in Physik, der abends Social Bots mit Hetzparolen gegen den Islam programmiert. Oder die Rentnerin, die während der Friedlichen Revolution einst für die Freiheit und offene Gesellschaft demonstriert hat und jetzt fordert: Macht die Grenzen dicht!

Nicht nur die Grenzen der Toleranz, die Grenzen selbst werden in Deutschland zurzeit sehr emotional diskutiert und dominieren die öffentliche Debatte.

Das Thema Flüchtlinge spaltet Stammtische, Familien, Schulklassen, ganze Ortschaften. Die Risse ziehen sich kreuz und quer durch die Gesellschaft. Auch traditionelle Großinstitutionen wie Kirchen, Gewerkschaften und Parteien erleben die Spannungen in den eigenen Reihen, tun sich schwer bei der Formulierung ihrer Programme und noch schwerer bei der Suche nach Kompromissen mit dem politischen Gegenüber: Ankerzentren? Strittig. Qualität der Asylverfahren? Strittig. Durchsetzung von Abschiebungen? Strittig. Sie alle wissen, meine Damen und Herren, dass ich diese Liste fortführen könnte.

Egal, wo ich bin, begegnet mir die Frage der Flüchtlingsaufnahme und der Integration derer, die lange in Deutschland bleiben. An Schulen natürlich, wo Kinder, die noch kein Deutsch können, die ersten Schritte in die Sprache und Kultur unseres Landes gehen. In Betrieben, in denen inzwischen Flüchtlinge ausgebildet werden. Oder auf Ehrenamtsempfängen, wo Bürgerinnen und Bürger eingeladen sind, die in Sport, Kultur und Stadtleben an der Integration arbeiten, und natürlich in unzähligen anderen Veranstaltungen, in Kommentaren auf meiner Facebook-Seite, wo Menschen das Ende des Abendlandes wegen Zuwanderern beschwören.

Aber wir sollten bei alledem nicht vergessen, dass eine große Zahl von Menschen sich wünscht, Parlament und Regierung würden sich intensiver auch anderen Aufgaben zuwenden, die unsere Gesellschaft insgesamt betreffen: Gesundheit, Pflege und Rente, vor allem aber: Wie lernen und arbeiten unsere Kinder und Enkel? Wird uns das digitale Zeitalter genügend gut bezahlte Arbeit lassen, von der auch nachwachsende Generationen leben können?

Oft klingt innere Zerrissenheit in solchen Gesprächen mit – was nicht leicht zu erklären ist. In neuesten Umfragen sagen 80 Prozent der Deutschen, wenn sie nach ihrer eigenen Lebenssituation gefragt werden: gut oder jedenfalls ganz in Ordnung. Werden dieselben Menschen nach der Zukunft ihrer Enkel gefragt, sind fast 80 Prozent skeptisch und pessimistisch. In meiner Jugendzeit war es genau umgekehrt: Da sprachen die Eltern von den Untiefen der Kriegs- und Nachkriegszeit, hatten zugleich jedoch die Hoffnung, dass es ihren Kindern einmal deutlich besser gehen würde. Offenbar ist ein wichtiges Stück Zuversicht, auch Vertrauen verlorengegangen.

Und die Politik spürt: Es reicht nicht, als Reaktion darauf allein Daten und Fakten zu Hilfe zu nehmen, das Wirtschaftswachstum und die erfreulichen Entwicklungen am Arbeitsmarkt beispielsweise. Zuversicht speist sich ja aus einer sehr vielschichtigen Mischung von Wahrnehmungen und Annahmen, Enttäuschungen und Hoffnungen, die nicht in Statistiken aufgehen.

Sich diesen Sorgen und Ängsten zu stellen, das ist nicht immer angenehm – ich weiß das nur zu gut. Wenn ich meine Bürgerpost oder die Gastkommentare auf meiner Facebook-Seite lese, dann finde ich da jede Menge vernichtende Kritik, oft pauschal an die Politik als Ganzes gerichtet: unfähig, unwissend, verlogen, egoistisch, abgehoben. Ich könnte ein ganzes Schimpfwörterbuch damit befüllen. Ein Bundespräsident wird gewählt, um auch solche Stimmen wahrzunehmen und im Zweifel auszuhalten, solange es nicht strafbar wird. Das heißt aber nicht, dass ich dazu schweigen muss: Politik muss Lösungen liefern für das, was die Menschen bedrängt. Das wollen die Menschen zu allererst, keine Scheindebatten und vordergründigen taktischen Winkelzüge. Aber ebenso klar sage ich: Die Verächtlichmachung der politischen Institutionen, Parlamente als Quatschbuden und Politiker als korrupte Idioten – alles das, was wir jeden Tag lesen, das hatten wir schon einmal, und es war der Anfang vom Ende der ersten Demokratie auf deutschem Boden. Und dass aus verantwortungsloser Sprache wieder verantwortungsloses Handeln wird, das dürfen wir nicht noch einmal zulassen in Deutschland!

Ich will und werde mich nicht an solche Schmähungen gewöhnen. Ich werde stattdessen dafür eintreten, dass auch andere sich nicht daran gewöhnen müssen, Kommunalpolitiker zum Beispiel, die solchen Angriffen aus unmittelbarer Nähe ausgesetzt sind. Im Mai habe ich einige Bürgermeister aus allen Teilen unseres Landes ins Bellevue eingeladen, sie haben mir ihre Erfahrungen geschildert: beleidigende E-Mails, Schmierereien an Hauswänden bis hin zu Mordandrohungen. Am schlimmsten sei es, sagen sie, wenn die Familie mit hineingezogen werde. Die Landeskriminalämter empfehlen Mandatsträgern inzwischen, zu ihrer eigenen Sicherheit keine verdächtigen Pakete zu öffnen und keine Spaziergänge an abgelegenen Orten zu unternehmen. Schlimm, dass es so weit gekommen ist. Noch schlimmer wäre allerdings, wenn wir solche Angriffe nicht entschieden verurteilen würden: juristisch, wo es möglich ist, und über öffentliche Kanäle, so dass es auch diejenigen erreicht, die zum großen Heer der anonymen Angreifer gehören – im Internet nötigenfalls per Counterspeech oder #Bishierherundnichtweiter! Auch im Internet lassen wir viel zu viel unwidersprochen geschehen. Einspruch ist dort inzwischen genauso wichtig wie die Demonstration auf der Straße.

Falls Sie sich jetzt fragen, ob der Aufwand dafür nicht ein bisschen zu groß ist, möchte ich nur kurz das Alternativszenario andeuten, das eintreten könnte, wenn wir den Dingen einfach ihren Lauf lassen: Wer kandidiert noch ehrenamtlich für den Gemeinderat, wenn Spott und Schlimmeres der Dank sind? Wer möchte noch Polizist sein, wenn es zum Volkssport wird, seinen Frust bei Uniformträgern abzulassen? Wer arbeitet noch als Sanitäter oder Krankenschwester für die Notaufnahme, wenn es heißt, dass die Zusatzkurse für Selbstverteidigung bald obligatorisch werden?

Die Statistiken zeigen: Tätliche Angriffe sind 2018 für viele Bevölkerungs- und Berufsgruppen keine Einzelfälle mehr. Flüchtlingshelfer werden mancherorts ebenso bedroht wie die Flüchtlinge selbst. Politik hat viel zu tun, um Integration in Deutschland zum Gelingen zu bringen. Und die Bevölkerung hat hier hohe Erwartungen. Aber: Fremdenfeindlichkeit aller Art müssen wir wieder und genauso entschieden entgegentreten wie vor 20 Jahren!

Es gibt eine Tendenz zur Verrohung und Entsolidarisierung in unserem Land, auf die wir reagieren müssen. Es geht darum, gezielte Gegenstrategien zu entwerfen. Toleranz, Respekt, friedliches Miteinander: Diese Werte müssen wir in der Gesellschaft insgesamt – auf allen Ebenen – viel konsequenter vorleben und einfordern. Es darf nicht zur Normalität werden, Feindbilder zu stilisieren und sich bei einer Meinungsverschiedenheit ungebremst in enthemmten Empörungsmodus zu begeben. Natürlich braucht Demokratie Auseinandersetzung, auch Emotionen, braucht leidenschaftliches Ringen um das bessere Argument, um die bessere Lösung. Aber ohne Vernunft und Verantwortung für das eigene Wort, die eigene Tat, kann Demokratie nicht gelingen. Wenn politische Kommunikation permanent aufgeladen wird als die da oben gegen die da unten, werden Argumente überflüssig. Damit wir uns nicht missverstehen: Kritik gehört zur Demokratie, konstruktive Kritik ist sogar ihr Lebenselixier. Aber wir dürfen nicht denen auf den Leim gehen, die nicht nach Lösungen suchen, sondern nach einem anderen System, wie sie sagen, de facto nach einem anderen Staat. Und ich zweifle, dass die Mehrheit der Deutschen in deren Staat leben möchte. Ich nicht, und ich glaube: die Zuhörer im Saal auch nicht.

Nichts ausblenden und auf keinem Auge blind sein. Gewalt – in Worten wie in Taten – darf niemals hingenommen werden. Und sie darf auch nicht nach zweierlei Maß bewertet werden, je nachdem auf welcher Seite Opfer und Täter stehen. Wenn ein Rechtsextremist einen jungen Syrer verprügelt, ist das eine Straftat. Wenn ein junger Syrer seinen Streit mit dem Messer austrägt: ebenso. Und wenn – wie hier vor kurzem in Cottbus – Massenschlägereien in einer Asylbewerberunterkunft ausbrechen, Tschetschenen versus Afghanen etwa, dann gilt gleichfalls: Recht und Rechtsstaat sind konsequent durchzusetzen. Danke an alle Polizeikräfte in unserem Land! Die Polizei muss durchgreifen. Denn diese Regeln gelten für jeden, der sich in Deutschland befindet. Selbstverständlich wird erwartet, dass sich auch Flüchtlinge und Zuwanderer daran halten. Auch das sage ich hier in Cottbus in aller Deutlichkeit.

Ob hier bei Angriffen auf Flüchtlinge, Flüchtlingshelfer, Bürgermeister oder Polizisten, oder bei den gewaltsamen G20-Protesten in Hamburg (Welcome to hell!), selten geht es um Argumente – Mittel des Protests sind Wut, sogar Zerstörung.

Das ist zivilisatorisch ein gewaltiger Rückschritt. Denn all das gründet sich nicht auf dem Willen, eine gemeinsame und bessere Zukunft zu schaffen.

Nein, diese Art von Protest gründet sich auf Hass als die destruktivste Kraft der Menschheit. Wir erleben gerade, wie er in anderen Teilen der Welt zum politischen Programm erklärt wird, eine neue Faszination des Autoritären sich breit macht, die Abschottung, Ausgrenzung, auch Hass als politisches Mittel einsetzt. Dabei konnten wir wissen: Hass gebiert wieder Hass. Die Frage bleibt: Wie lässt sich diese unheilvolle Dynamik stoppen?

Im Großen haben wir darauf bisher keine Antwort gefunden, im Kleinen – vor Ort – schon, jedenfalls viele, die Antwort geben. Gerade auch in Orten wie Cottbus oder Regionen wie Brandenburg, die inzwischen einen großen Erfahrungsschatz im Umgang mit Extremismus gesammelt haben und sich den neuen Toleranzfragen des Alltags stellen: auf Sportplätzen, in Bibliotheken, in Altstadtpassagen, beim Aufbau eines neuen Sicherheitszentrums – auch darüber habe ich mit Cottbuserinnen und Cottbusern gesprochen.

Zu den wichtigsten Lernorten für Toleranz gehören die Schulen. Dass viele neue Arten von Konflikten zu lange ignoriert oder kleingeredet wurden, zeigt sich besonders schmerzlich am Antisemitismus auf den Schulhöfen. Nie wieder wollten wir so etwas in Deutschland zulassen. Es passiert jedoch, nicht nur in Einzelfällen. Es hilft uns nicht weiter, permanent zu wiederholen, dass es oft muslimische Jugendliche sind, die gegen Juden übergriffig werden. Antisemitismus ist zuallererst unser eigenes Problem! Wie kann es sein, dass eine Jury aus der Elite des deutschen Musikmanagements einen offen antisemitischen Song mit einem der höchsten deutschen Musikpreise auszeichnet? Dass die Musiker sich entschlossen haben, die Einladung des Internationalen Auschwitz-Komitees anzunehmen, ist zu begrüßen, aber mit Blick auf die Musikszene nur ein geringer Trost. Toleranz braucht starke Gesten, braucht Vorbilder, braucht eine Fehlerkultur. Und Toleranz braucht die Geduld vieler Helferinnen und Helfer, immer auch an jene Gruppen zu denken, die gerade nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Der Ansatz muss doch lauten: Kein Kind soll Angst haben in Deutschland. Keine Angst davor, die Kippa zu tragen. Keine Angst davor, dass die alleinerziehende Mutter das Geld für die Klassenfahrt nicht aufbringt. Keine Angst davor, als Enkel türkischer Einwanderer trotz Zweisprachigkeit und Abschlusszeugnis ohne Einladung zum Vorstellungsgespräch zu bleiben.

Besonders an den Haupt-, Gesamt- und Berufsschulen war Sozialarbeit ein häufiges Thema bei meiner Deutschlandreise – leider eher: das Fehlen von Sozialarbeit, der Mangel an Stellen und qualifizierten Kräften. Für Radikalisierungsprävention – ob in Richtung Rechts, Links oder Salafismus – ist das nach wie vor eines der größten Probleme. Warum empfinden junge Menschen, die in den Extremismus abdriften, dass sie in unserer Demokratie keinen Platz, keine Perspektive haben? Wer hat wann versäumt, ihnen zu vermitteln, was unsere Werte ausmacht? Es wäre zu einfach, die Ursachen nur bei den Eltern, nur bei den Lehrern oder nur beim Staat zu suchen. Sie sind eher quer verteilt oder verflochten, einzeln kaum zu fassen, aber eines steht fest: Die Ursachen liegen nicht nur an den Rändern der Gesellschaft, sie liegen auch in der Mitte.

Wo immer ich kann, möchte ich Träger der politischen Bildung darin bestärken, die sozialen Veränderungen in unserem Land auch in ihren Konzepten nachzuvollziehen. Im kommenden Jahr – zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes – bin ich dafür mit den 16 Landeszentralen und der Bundeszentrale für politische Bildung verabredet. Demokratie ganz nah heißt unser Projekt. Es wird der Versuch sein, das Grundgesetz Menschen nahe zu bringen, die für politische Bildung schwer erreichbar sind, wir gehen also hin zu denen, die sich ausgeschlossen und abgehängt fühlen, zu den Verdrossenen, zu den Besorgten, zu denen, die man vielleicht noch davor bewahren kann, im Extremismus eine Alternative zu sehen.

Wir wissen nicht, ob das wirklich gelingt. Aber wir sind uns einig: Jedes Gespräch, auch wenn es Einstellungen nicht von jetzt auf gleich verändern kann, trägt dazu bei, unsere Gesellschaft zusammenzuhalten. Dem Toleranten Brandenburg wird es im Zuge seiner Weiterentwicklung vielleicht ähnlich gehen. Lassen Sie sich von Zweiflern bitte nicht entmutigen. Wagen Sie Neues! Gehen Sie in die Offensive! Die Förderung von Toleranz ist eine der wichtigsten Daueraufgaben, die ich mir für unsere Gesellschaft vorstellen kann. Wo Toleranz gelebt wird, findet Hass keinen Halt mehr.

Ich möchte meine Rede mit den Worten einer außergewöhnlichen Frau beenden: Mevlüde Genç verlor am 29. Mai 1993 beim Brandanschlag von Solingen zwei Töchter, zwei Enkelkinder und eine Nichte. Vor dem traurigen 25. Todestag war sie mit ihrem Mann bei mir.

Der Schmerz wird nie vergehen, sagte sie. In den Nächten habe ich geweint, viel geweint, aber nicht an den Tagen. Ich wollte nicht, dass unsere Kinder die Tränen sehen und Hass in ihren Herzen wächst. Hass zerstört alles. Wir können nur als Geschwister leben – Deutsche und Türken, Christen und Muslime. Ich werde nicht aufhören, an Versöhnung zu glauben.

Diese Kraft wünsche ich uns allen!

Vielen Dank.