Stimmen der Demokratie – Abschluss der Deutschlandreise

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 26. Juni 2018

Der Bundespräsident hat am 26. Juni bei der Veranstaltung "Stimmen der Demokratie – Abschluss der Deutschlandreise" in Schloss Bellevue eine Ansprache gehalten: "Demokratie als Staatsform der Mutigen, so habe ich sie in meiner Antrittsrede genannt, das heißt hin und wieder: Mut zum Neuen, Mut zu Veränderungen. Ich glaube, ein Bundespräsident muss seine Rolle nicht nur am Rednerpult suchen, sondern er kann – verstärkt sogar in diesen Zeiten – am Tisch mit anderen sitzen oder in Gesprächsrunden, jedenfalls reden gemeinsam mit Menschen, die eigene Themen, eigene Pläne haben, wie das Zusammenleben in unserem Land gelingen soll, ganz konkret von Angesicht zu Angesicht."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede anlässlich der Veranstaltung 'Stimmen der Demokratie – Abschluss der Deutschlandreise' im Großen Saal von Schloss Bellevue

Vom Kindergarten bis zum Hospiz – so umfassend habe ich mir den Bogen der Deutschlandreise in meiner Vereidigungsrede vor mehr als einem Jahr vorgestellt. Damals konnte ich nicht ahnen, dass mir Ministerpräsident Volker Bouffier diesen Wunsch innerhalb eines einzigen Programmtages in der ganzen Breite erfüllen würde, tatsächlich vom Kindergarten bis zum Hospiz. Aber es passierten im Verlaufe dieser Reise noch ganz andere Überraschungen: Als die Reihe der 16 Antrittsbesuche im April 2017 in Bayern bei schwerem Regen begann, dachte wohl niemand von uns, dass Horst Seehofer ein Jahr später Bundesinnenminister, Olaf Scholz Bundesfinanzminister oder Tobias Hans der neue Regierungschef im Saarland sein würde.

Im Rückblick betrachtet, war mein erstes Amtsjahr ein sehr bewegtes, nicht nur für mich, sondern für unser ganzes Land. Zwischendurch gab es eine kleine Hängepartie, die die Reiseplanung durchaus beeinflusst hat. Nachdem in einer Sonntagnacht die Jamaikakoalition abgesagt wurde, war Ministerpräsident Armin Laschet zum Glück so verständnisvoll, meinen für den unmittelbaren Montag danach geplanten Besuch in Nordrhein-Westfalen zu verschieben. Nur kurze Zeit später wurden Sie, lieber Bürgermeister Dr. Hollstein, in Altena mit einem Messer attackiert, und mein erster Gedanke war: Jetzt braucht der Ort nicht auch noch einen Gast aus Berlin. Diesen Programmpunkt müssen wir vermutlich streichen. Aber im Gegenteil, Sie hielten Ihre Einladung aufrecht, und als wir schließlich gemeinsam mit Flüchtlingen, Helferinnen und Helfern in Altena saßen, hätte das Stimmungsbild aktueller nicht sein können.

Für Momente wie diese will ich heute noch einmal ausdrücklich Dankeschön sagen! Es war nicht selbstverständlich, dass sich 16 Ländergastgeber gemeinsam mit so vielen Kommunen und Institutionen 31 Tage Zeit für meine Frau und mich genommen haben. Insgesamt 179 Stationen haben wir besucht, wurden mal von zehn, mal von mehreren Hundert Menschen begrüßt, mal einfach für ein Gespräch, mal für große Foren wie Preisverleihungen oder Bürgerempfänge. Ohne die Protokollchefs und -chefinnen in den Ländern hätte es diese vielfältigen und intensiven Programme nicht gegeben, deshalb habe ich sie hierher eingeladen. Heute sollen Sie, meine Damen und Herren, Gäste sein.

Wir haben es eben in den Bildern gesehen: Orte der Demokratie, das Rahmenthema dieser Reise, galt ganz klassisch, wie beim Spaziergang mit dem Regierenden Bürgermeister Michael Müller hier in Berlin entlang des ehemaligen Mauerstreifens, aber auch ganz unverhofft. Wer hätte vermutet, dass in der Grube Niederschlag bei Oberwiesenthal ein inhaltlicher Höhepunkt zum Zusammenhalt im ländlichen Raum liegen würde? Stanislav Tillich ist inzwischen ebenfalls nicht mehr im Amt, aber sein Thementag wird mir unvergessen bleiben. Der Fragenkomplex rund um Stadt und Land genauso wie die vielschichtigen Dimensionen von Heimat, wie wir sie mit Ministerpräsident Daniel Günther und Jugendlichen im Theodor-Storm-Haus diskutiert haben, werden mich über das erste Amtsjahr hinaus begleiten.

In meiner eigenen zweiten Heimat, wo ich acht Jahre lang politisch tätig war – in Brandenburg –, hat Ministerpräsident Dietmar Woidke meine Bitte um Begegnungen mit der Jugend besonders nachdrücklich erfüllt. An die Absolventenverabschiedungsfeier der Universität Potsdam mit mehr als 1.000 Studierenden und ihren Eltern erinnere ich mich nicht nur wegen des Wolkenbruchs am Ende der Veranstaltung. Und natürlich an den allerallerjüngsten Teilnehmer, den Sie eben im Bild gesehen haben, das Patenbaby im Brandenburger Netzwerk Gesunde Kinder.

Leichtigkeit und Schwere wechselten bei dieser Reise durch die Bundesländer zuweilen im Stundentakt. Die schneidende Winterkälte am Bunker Valentin in Bremen wird meiner Frau und mir noch lange im Gedächtnis bleiben. Bürgermeister Carsten Sieling hat dort nicht nur an deutsche Schuld und deutsche Verantwortung erinnert, er hat auch sehr anschaulich gemacht, wie Geschichtsarbeit zur Friedensarbeit werden kann. Welche Aufgabe wäre dringender gerade in diesen Tagen beim Blick auf die Welt.

Besonders dankbar bin ich für Augenblicke, in denen uns beides gelungen ist: der Scheinwerferspot auf die Stärken einer Region – aber auch der ehrliche Austausch darüber, wo es noch etwas zu tun gibt, wo es hapert, wo neue Konzepte gebraucht werden. Demokratie als Staatsform der Mutigen, so habe ich sie in meiner Antrittsrede genannt, das heißt hin und wieder: Mut zum Neuen, Mut zu Veränderungen. Ich glaube, ein Bundespräsident muss seine Rolle nicht nur am Rednerpult suchen, sondern er kann – verstärkt sogar in diesen Zeiten – am Tisch mit anderen sitzen oder in Gesprächsrunden, jedenfalls reden gemeinsam mit Menschen, die eigene Themen, eigene Pläne haben, wie das Zusammenleben in unserem Land gelingen soll, ganz konkret von Angesicht zu Angesicht. Deshalb sind die Antrittsbesuche nicht meine letzten Reisen in die Bundesländer gewesen, sondern waren ein Auftakt. Ich will so oft wie möglich zu Terminen vor Ort fahren, um immer wieder einen eigenen Eindruck zu gewinnen und das unmittelbare Gespräch zu suchen.

Manches kommt bundesweit nicht in Gang, weil wir voneinander nicht wissen – nicht, was andernorts gelungen ist, auch nicht das, was schon ergebnislos war oder gescheitert ist. Ich will gern dazu beitragen, solche Lücken zu schließen. Insbesondere bei Themenbereichen, die umstritten sind, wie Asyl, Zuwanderung und Integration, haben wir auf dieser Reise durch alle Bundesländer immer wieder erlebt, wie groß der Bedarf nach freiem Gedanken- und Erfahrungsaustausch ist.

Die mediale Aufmerksamkeit, die meinem Amt zuteilwird, soll denen zugutekommen, die sonst eher im Schatten stehen. Ich glaube, das ist auch hin und wieder gelungen während dieser 16 Antrittsbesuche. Ich möchte möglichst viele Partner dafür gewinnen, Ermutigung zu Demokratie und Teilhabe in die Fläche zu tragen. Und manchmal brauchen diejenigen, die das jetzt schon tun, Unterstützung und Rückenstärkung. Deshalb war ich zum Beispiel am vergangenen Samstag bei drei Gesprächsrunden mit Bürgerinnen und Bürgern in Cottbus. Ich habe den Eindruck, dass dieses direkte Gespräch von Angesicht zu Angesicht – nicht verformt durch soziale oder andere Medien – tatsächlich hilft!

Wir wären heute vermutlich nicht hier und beieinander, wenn sich nicht die ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius für unser Projekt interessiert hätte. Verehrter Herr Professor Göring Sie sind nicht nur Vorsitzender der ZEIT-Stiftung, Sie waren 2017 in Doppelfunktion auch Vorsitzender des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen. Ich bin Ihnen wirklich sehr, sehr dankbar, dass Sie bereit waren, die Drucklegung eines Buches zur Deutschlandreise zu unterstützen. Was Kameras und Notizblöcke festhalten konnten, haben wir versucht, so gut wie möglich in Papierform zu konservieren, um eine Auswahl dieser wirklich inspirierenden Momente der Reise am Ende weitergeben zu können – und genau das wollen wir heute tun! Lieber Herr Professor Göring, ohne Sie und die ZEIT-Stiftung wäre das Projekt Stimmen der Demokratie nicht möglich gewesen. In unser aller Namen: ganz herzlichen und großen Dank!

Stimmen der Demokratie, das wissen Sie, liebe Mitwirkende, lautet der Titel der Publikation über, von und für Menschen, die in unserem Land mehr tun, als sie müssten, die über den Tellerrand der eigenen Interessen hinaus schauen. Das sind Menschen, die in Stiftungen aktiv sind oder millionenfach in Vereinen, Verbänden, freiwilligen Initiativen und Projekten. Gemeinsam mit Ministerpräsidentin Manuela Schwesig traf ich solche Engagierten beispielsweise im Naturpark Am Stettiner Haff, mit Amtskollegin Malu Dreyer im Gutenberg-Museum Mainz und mit Ministerpräsident Stephan Weil in der Lernwerkstatt Utlandshörn für Flüchtlinge.

Wer das Kapitel Minderheiten im Buch aufschlägt, wird merken, dass die eher reibungsvollen Aspekte des Miteinanders in diesem Album nur anklingen können, aber seien Sie gewiss: Ich werde die Gesprächsfäden, die wir aufgenommen haben, in meiner Amtszeit weiterverfolgen – nicht zuletzt wegen beunruhigender Entwicklungen, die Sie weltweit sehen, die Sie in Europa sehen und von denen wir ganz offensichtlich im eigenen Lande auch nicht verschont bleiben. Mein Besuch in den USA vergangene Woche hat mich darin bestärkt, die vermeintlichen Gewissheiten, die wir in den westlichen Demokratien vor fünf oder zehn Jahren noch für breit akzeptiert gehalten haben, neu zu thematisieren – wo es sein muss, auch laut zu verteidigen. Der Minderheitenschutz gehört zweifellos dazu.

Mut zur Demokratie – dieses Motto meiner Amtszeit ist anfänglich etwas kritisch, skeptisch beäugt worden. Aber gerade die Deutschlandreise hat mir gezeigt, dass es etliche neue Fälle gibt, in denen Mut zur Demokratie unabdingbar ist, das gilt für Ehrenamtliche genauso wie für Hauptamtliche. Mit Ministerpräsident Bodo Ramelow etwa haben wir in der Thüringer Landesmedienanstalt über die Zukunft der Digitalisierung gesprochen. Über die technischen Aspekte, aber vor allen Dingen darüber: Wie halten wir die Gesellschaft im Zuge fortschreitender Digitalisierung zusammen? Sind wir vorbereitet darauf, dass Maschinen immer klüger werden, und Menschen beginnen, den Maschinen zuzuarbeiten, nicht umgekehrt? Darüber haben wir auch auf Einladung von Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff an der Leopoldina in Halle diskutiert. Schön, lieber Herr Professor Hacker, lieber Herr Professor Lengauer, dass Sie hier sind. Einige Gedanken unseres Akademietermins haben inzwischen auf meiner eigenen Agenda schon Früchte getragen.

Wie komme ich jetzt thematisch zum sechzehnten Regierungschef, der in meiner Rückschau noch fehlt? Ein guter Stolperer fällt nicht hin, würde Winfried Kretschmann an dieser Stelle wohl sagen. Baden-Württemberg ist mit der Erinnerungsstätte Rastatt, dem Nationalpark Schwarzwald und vielen Zukunftsgesprächen, die wir in den zwei Tagen dort geführt haben, im Buch sehr gut getroffen. Vor allem aber passt hier das Stichwort Debattenkultur, das auf der Reise immer wieder eine Rolle spielte, bei Pimp Your Town! in Niedersachsen oder bei dialogP in Hamburg beispielsweise. Warum erwähne ich das? Zu den häufigsten Kritikpunkten, vor allem von Jugendlichen, am Rande solcher Leuchtturmprojekte gehörte: Deutschland spricht nicht genug – das gilt offenbar zwischen Wählern und den Repräsentanten von Regierungen und Parlamenten, aber ich glaube, es gilt inzwischen auch für Gesellschaft querbeet. Was wir im Internet als Echokammer beobachten, hindert uns oft auch im richtigen Leben daran, das Gegenüber wirklich kennenzulernen, seine Prägungen zu verstehen, Kompromisse zu finden oder mindestens nach gemeinsamen Lösungen zu suchen. Es wäre gut, wenn sich auch die große Politik dieser zentralen Voraussetzung für das Gelingen von Demokratie erinnert. Ich habe mich dieser Tage häufiger gefragt: Wie sollen wir eigentlich erfolgreich für Vernunft und Augenmaß in der politischen Debatte werben, wenn auf höchster Ebene und selbst im Regierungslager mit Unnachsichtigkeit und maßloser Härte über eigentlich doch lösbare Probleme gestritten wird, als gäbe es kein Morgen mehr.

Diesen Mangel werden wir an einem Juni-Tag hier im Schloss Bellevue nicht abstellen können, aber ich möchte trotzdem ein kleines Experiment mit Ihnen wagen. Heute ist der Saal nämlich nicht klassisch mit einem Podium hier und Publikum dort aufgebaut. Wir sitzen alle auf einer Ebene und wollen versuchen, was Michael Fürst, der Präsident des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen, auf seiner Buchseite so dringlich empfohlen hat: einfach zuhören. Es werden 16 kleine Geschichten sein, aus jedem Land eine – Stimmen der Demokratie, die im Alltag in dieser Konstellation wahrscheinlich kaum aufeinandertreffen würden, vom 15-jährigen Sprecher des Kinder- und Jugendrates in Schwerin über die junge Polizistin aus der Dortmunder Neustadt bis hin zum langjährigen Präsidenten des Bundesarchivs, mit dem wir in der Erinnerungsstätte Rastatt gesprochen haben.

Danke für Ihre Offenheit, als ich gemeinsam mit meiner Frau in Ihren Gefilden zu Besuch sein durfte. Das Schloss Bellevue steht heute offen für Sie als Zeichen meiner und unserer Wertschätzung. Da wir uns gegenseitiges Zuhören versprochen haben, würde ich sagen: Nutzen Sie die Gelegenheit für Ihre Themen, wenn Sie das Mikrofon gleich in der Hand haben. Erzählen Sie uns etwas, wir werden zuhören. Ihnen allen ein herzliches Willkommen!