Empfang für die Mitglieder des Deutschen Ethikrates

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 26. Juni 2018

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 26. Juni bei einem Empfang für die Mitglieder des Deutschen Ethikrates in Schloss Bellevue eine Ansprache gehalten: "Unsere Gesellschaft ist nicht fortschrittsfeindlich. Im Gegenteil: Die Deutschen sind stolz darauf, dass wir eine Innovationsgesellschaft sind. Aber die Bereitschaft zur Innovation, die Neugier, die Lust auf Zukunft wird nur erhalten bleiben, wenn eben auch Antworten auf die offenen Fragen, die Unsicherheiten, die Risiken gegeben werden."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache beim Empfang für die Mitglieder des Deutschen Ethikrates im Langhanssaal von Schloss Bellevue

Wie schön, Sie hier zu haben. Herzlich Willkommen im Schloss Bellevue!

Ich erinnere mich noch gut daran, als während meiner Zeit im Kanzleramt im Jahr 2001 der Nationale Ethikrat gegründet wurde, aus dem vor zehn Jahren der Deutsche Ethikrat hervorgegangen ist. Wir können heute mit Fug und Recht sagen: Wenn damals der Ethikrat nicht gegründet worden wäre, heute bräuchten wir ihn dringender denn je.

Ethische Fragen haben in der Politikberatung in den vergangenen Jahren weltweit an Bedeutung gewonnen. Das empfinden nicht nur wir in Deutschland so, sondern in rund 100 Staaten gibt es mittlerweile nationale Ethikgremien und nirgendwo sind diese Fragen weniger, geschweige denn einfacher geworden.

In immer mehr Politikfeldern stoßen wir an ethische Grenzfragen. Und zu vielen dieser Grenzfragen haben Sie sich in den vergangenen Jahren durch Stellungnahmen geäußert: zu Demenz und Selbstbestimmung etwa, zur Präimplantationsdiagnostik oder zu den Kosten- und Nutzenabwägungen im stetig wachsenden Sektor des Gesundheitswesens. Damit verhandeln Sie Themen, die in einer alternden Gesellschaft und der gegenwärtigen Debatte um die Situation der Pflege in Deutschland relevanter nicht sein könnten.

Gleichzeitig werfen Sie den Blick voraus auf die großen ethischen Herausforderungen am Horizont der Wissenschaft, die man grob wie folgt skizzieren kann: den Eingriff in das menschliche Genom, den in das menschliche Gehirn sowie die Chancen und Risiken der künstlichen Intelligenz. Nicht wenige dieser Fragen klingen für viele unserer Bürgerinnen und Bürger wahrscheinlich noch nach Science-Fiction – aber bei Ihnen liegen sie auf dem Tisch, weil sie eben die Labore und Forschungszentren schon heute bestimmen. Zum Beispiel:

Wie gehen wir mit einer Artificial General Intelligence um – einer vollendeten künstlichen Intelligenz, die unsere eigene vollends übertreffen würde?

Was sind die Folgen des Eingriffs in die menschliche Keimbahn? Eine Utopie zur Heilung seltener Krankheiten oder eine Dystopie der grenzenlosen Optimierung des Menschen?

Wie werden wir zusammenleben, wenn Gehirnimplantate nicht mehr nur im Krankheitsfall Anwendung finden, sondern allein zum individuellen Wissens- und Wettbewerbsvorteil in Umlauf geraten? Oder, wie der Unternehmer Elon Musk fordert, um den Menschen langfristig zum Cyborg aufrüsten, weil er sonst inmitten der künstlichen Umgebungsintelligenz überflüssig werden würde?

Vergangene Woche war ich in Kalifornien und dem Silicon Valley unterwegs. Ich hatte das Gefühl, dass dort das Augenmerk hauptsächlich auf den Chancen der neuen technischen Möglichkeiten liegt, während die Risiken von vielen höchstens mit einem Augenrollen abgehandelt werden, als seien das Fragen der Bedenkenträger und Ewiggestrigen. Das Motto: Wirtschaft und Wissenschaft treiben technische Veränderung voran, und Politik beschäftigt sich dann irgendwie mit den Folgen, halte ich allerdings für den falschen Weg. Ich bin überzeugt: Unsere Gesellschaft ist nicht fortschrittsfeindlich. Im Gegenteil: Die Deutschen sind stolz darauf, dass wir eine Innovationsgesellschaft sind. Aber die Bereitschaft zur Innovation, die Neugier, die Lust auf Zukunft wird nur erhalten bleiben, wenn eben auch Antworten auf die offenen Fragen, die Unsicherheiten, die Risiken gegeben werden, die technologische Umwälzungen hervorrufen. Und diese Antworten kann nicht Politik allein geben, sondern an denen müssen auch die mitarbeiten, die Innovation vorantreiben.

Der israelische Historiker Yuval Harari, den Sie zu Ihrer Tagung eingeladen haben und mit dem ich gestern Abend lange gesprochen habe, hat folgendes Gedankenexperiment angestellt: Wenn Maschinen mit immer mehr Daten über unsere Wünsche und Sehnsüchte, unseren Puls und Herzfrequenz, unser Kaufverhalten und unsere GPS-Daten gefüttert werden, dann treffen diese irgendwann alle Entscheidungen für uns. Das Neue und Gefährliche daran: Vermutlich wären diese Entscheidungen besser, im Sinne von effizienter, als sie der Mensch je treffen könnte. Unserer demokratischen Gesellschaft wäre am Ende, wenn Wahlen überflüssig werden, weil der Algorithmus meine Präferenzen augenscheinlich besser kennt, als ich selbst.

Das wäre fatal, denn der technologische Fortschritt soll ja – frei nach Kants aufklärerischem Motto – den Ausgang des Menschen aus der Unmündigkeit erleichtern, und nicht der freiwillige Einstieg in neue Unmündigkeit sein. Neue Technologie aber kann beides: befähigen und entmündigen. Wenn wir aber nicht wachsam sind, sehe ich jedenfalls das Risiko, dass wir aus einer Zeit, in der die Maschine dem Menschen diente, eintreten in ein Zeitalter, in der der Mensch der Maschine dient.

Um es klar zu sagen: Ich teile diesen fatalistischen Determinismus nicht. Damit es allerdings nicht so weit kommt, brauchen wir eine breite Debatte zur Ethik der Digitalisierung. Denn es geht bei dieser Ethik nicht in erster Linie um die Zukunft von Technologien, sondern es geht um unsere eigene Zukunft – als Menschen und als menschliche Gesellschaft. Eine Ethik der Digitalisierung ist nötig, damit wir die Zukunft so gestalten können, dass Sicherheit und Wohlstand im Wandel erhalten bleiben; und zwar nicht für eine kleine technologisch aufgewerteten Elite, sondern für alle Bürgerinnen und Bürger.

Zu dieser gesellschaftlichen Debatte leisten Sie mit Ihrer Arbeit einen wichtigen Beitrag. Die Würde des Menschen ist dabei Ihr Kompass. Ihren Rat wird die Politik auch in den nächsten zehn Jahren und darüber hinaus dringend brauchen.

Ich danke Ihnen allen für Ihren Einsatz und freue mich auf das Gespräch mit Ihnen.