Richterwechsel am Bundesverfassungsgericht – Entlassung und Ehrung von Michael Eichberger sowie Ernennung von Henning Radtke

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 16. Juli 2018

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 16. Juli anlässlich des Richterwechsels am Bundesverfassungsgericht eine Ansprache gehalten: "Die Neutralität des Staates – und damit das Gebot zu Überparteilichkeit und Sachlichkeit der Verwaltung –, aber auch die Verbindlichkeit der Rechtsprechung sind Kernelemente von Rechtsstaatlichkeit, deren Missachtung just jenes Vertrauen untergräbt, ohne das unser demokratischer Rechtsstaat eben nicht bestehen kann."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache anlässlich des Richterwechsels am Bundesverfassungsgericht im Langhanssaal von Schloss Bellevue

Herzlich willkommen hier im Schloss Bellevue! In den unruhigen Zeiten, in denen wir leben, ist es beruhigend, dass die Wege und Verfahren unseres Verfassungslebens klaren Regeln folgen und sich die Politik auf einen Nachfolger für Sie, lieber Herr Eichberger, einigen konnte. Ich freue mich sehr, dass Sie alle gekommen sind und begrüße Sie alle von Herzen.

Lieber Herr Eichberger,

die verschobene Weltreise oder andere Abenteuer können beginnen. Heute beenden Sie nicht nur Ihre Amtszeit, auch Ihre – das darf man in fußballerisch bewegten Zeiten sagen – Nachspielzeit läuft aus. Die Gründe sind bekannt, weshalb Sie länger als geplant auf dem Feld bleiben mussten. Dass die Einigung auf einen Nachfolger nicht immer einfach ist, das ist für Sie nichts Neues. Als Sie vor zwölf Jahren gewählt wurden, begleiteten die Medien Ihre Wahl mit der Anmerkung, eine strukturelle linksliberale Mehrheit im Ersten Senat gehe zu Ende, weil Ihr Vorgänger Hömig der damals vorerst letzte Richter war, der von der FDP vorgeschlagen worden war. Deshalb wurde auch angemerkt, Ihre Wahl sei eine parteipolitisch schonende Besetzung.

Sie alle, meine Damen und Herren Richter, können das natürlich viel besser beurteilen als ich, aber mir erscheint der Blick durch eine parteipolitisch gefärbte Brille auf das Verfassungsgericht reichlich oberflächlich. Er wird Ihnen und vor allem dem höchsten deutschen Gericht in keiner Weise gerecht. Als aktiver Politiker und Beteiligter vor den Schranken des Gerichts habe ich jedenfalls immer erlebt, dass das Verfassungsrecht und nicht etwa das Parteiprogramm der Maßstab ist, nach dem Sie entscheiden. Als Chef des Bundeskanzleramtes und als Außenminister musste auch ich die Erfahrung machen, dass die Bundesregierung vor dem Bundesverfassungsgericht unterliegen kann. Und auch wenn solche Niederlagen manchmal schmerzvoll waren, so hatten sie auch immer eine erfreuliche Kehrseite – denn: Sie erinnern uns gelegentlich an den bedeutenden Satz unseres Grundgesetzes: Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.

Und gerade in diesen Tagen ist mir besonders wichtig, auf dieses rechtsstaatliche Axiom hinzuweisen, und zwar aus gleich zwei Gründen: Zum einen wird zurzeit über parteipolitische Verteilungsschlüssel bei der Verfassungsrichter- und Richterwahl für hohe Justizämter debattiert. Das ist, finde ich, kein gutes Zeichen. Es könnte dadurch der Eindruck entstehen, dass der Einfluss der Parteien auf die Rechtsprechung ausgebaut werden soll. Zum anderen sind es solche Debatten, die in anderen Staaten, auch in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, eben als Argument für Justizreformen genutzt werden. Reformen, mit denen dort rechtsstaatliche Strukturen eingeschränkt werden und die Unabhängigkeit der Justiz abgebaut werden soll. Ja, wir leben in einer Zeit, in der viele unserer Errungenschaften eines demokratischen und liberalen Rechtsstaates in zunehmendem Maße unter Druck geraten – leider auch hier in Europa.

Dabei sind solche Entwicklungen innerhalb der Europäischen Union schon lange keine rein innerstaatliche Angelegenheit mehr: nicht nur, weil die Mitgliedschaft in der Europäischen Union die Beachtung und Einhaltung rechtlicher Mindeststandards voraussetzt. Sondern auch, weil die immer enger werdende Zusammenarbeit der Justizbehörden, insbesondere die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen aus anderen Mitgliedstaaten, darauf basiert, dass wir auf die Einhaltung dieser rechtlichen Standards tatsächlich vertrauen können. Welche konkreten Folgen es haben kann, wenn dieses Vertrauen Risse bekommt, zeigen etwa aktuelle Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof zu der Frage, ob die Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit in Polen berechtigt sind.

Die Neutralität des Staates – und damit das Gebot zu Überparteilichkeit und Sachlichkeit der Verwaltung –, aber auch die Verbindlichkeit der Rechtsprechung sind Kernelemente von Rechtsstaatlichkeit, deren Missachtung just jenes Vertrauen untergräbt, ohne das unser demokratischer Rechtsstaat eben nicht bestehen kann.

Und, lieber Herr Eichberger, unser Rechtsstaat kommt eben nicht ohne Persönlichkeiten wie Sie aus. Als Sie 2006 in das Amt gewählt wurden, zitierte der Mannheimer Morgen Ihren ehemaligen Referendarausbilder und früheren Vizepräsidenten des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg, zum Beispiel mit folgenden Worten: Man merkte ihm damals schon an, dass er das Zeug zu höchstrichterlichen Ehren hat. Ihnen eilte also ein exzellenter Ruf voraus und das schon zu Referendarszeiten.

Nach dem Studium der Rechtswissenschaft traten Sie in die baden-württembergische Justiz ein. Zuvor hatten Sie in Mainz promoviert, zum Thema Die Einschränkung des Rechtsschutzes gegen behördliche Verfahrenshandlungen. Dieses Interesse am öffentlichen Recht führte Sie in die Verwaltungsgerichtsbarkeit, von wo aus Sie immer wieder die Erfahrung in anderen staatlichen Bereichen suchten, im baden-württembergischen Justizministerium oder – wen wundert es – als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundesverfassungsgericht, damals bei Hans Hugo Klein.

Weitere berufliche Stationen waren der Verwaltungsgerichtshof Mannheim und das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, wo Sie von 1998 bis 2006 wirkten. Ihr Interesse an Forschung und Lehre machte Sie 2004 zum Honorarprofessor an der Universität Tübingen. So erschien es 2006 fast selbstverständlich, dass Sie, wenn ich das so sagen darf, den juristischen Olymp in Karlsruhe erklommen – ohne allerdings, wie alle versichern, die Bodenhaftung zu verlieren.

Menschen, die Sie sehr gut kennen und die mit Ihnen zusammenarbeiten, rühmen Sie als undogmatisch, unprätentiös, als offen und zugewandt. Höchste fachliche Qualifikation, ein offenes Ohr und Argumentationskraft, das ist das, was Sie auszeichnet und – eine, auch das wurde mir berichtet, geradezu sprichwörtliche, schier unerschöpfliche Arbeitskraft. Die haben Sie auch benötigt für die dicken juristischen Bretter, die Sie zu bohren hatten. Ich nenne nur zwei von den 4.774 Verfahren, die Sie als Berichterstatter zur Entscheidung gebracht haben: darunter Entscheidungen auf politisch so hochumstrittenen Feldern wie der Erbschaftssteuer und ihren Modalitäten. Dieses Verfahren beschäftigte Sie fast zwei Jahre. Besonders hohe Anforderungen an Ihre Arbeitskraft stellte auch das Schadensersatzverfahren nach dem Atomausstieg in Folge der Katastrophe von Fukushima. Die Verfahrensakten, so habe ich mir sagen lassen, enthielten weit über 10.000 Seiten Schriftsätze. Ihr Votum zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung soll allein 500 Seiten umfasst haben. Welch eine Herkulesaufgabe, aus dieser Masse an Schriftsätzen die verfassungsrechtliche Essenz zu destillieren, die Argumente, auf die es am Ende entscheidend ankommt. Dass Sie dabei mit dem Verfahren juristisches Neuland zu beackern hatten, liegt auf der Hand.

Und wer solche Verfahren als Berichterstatter zu betreuen hatte, dem wird in den Medien großer Einfluss, manchmal sogar Macht zugesprochen. Sie persönlich haben solche Zuschreibungen immer zurückgewiesen und bestritten, dass der Verfassungsrichter politische Gestaltungsmacht habe. Diese Bescheidenheit und der eigene Anspruch, die anstehenden Fälle professionell zu lösen, sind eben neben unabhängigem Denken und fachlich höchster Qualifikation diejenigen Eigenschaften, die Richterinnen und Richter im demokratischen Rechtsstaat auszeichnen und die Sie, lieber Herr Eichberger, vorbildlich verkörpern.

Dass Sie neben der enormen Beanspruchung im Gericht und Ihrem Engagement als Präsident der Deutschen Sektion der Internationalen Juristenkommission noch Zeit für Ihre Frau, Ihre vier Kinder gefunden haben, für Tennis, Schwimmen, Skilauf, Lesen und den Besuch von Museen, das kann ich mir nur dadurch erklären, dass Sie – wie Ihnen Ihre Freunde und Mitarbeiter nachsagen – bei allem Fleiß ein ungewöhnlich ausgeglichenes und gelassenes Wesen haben. Westfälisch würde man in der gemeinsamen Heimat von Herrn Voßkuhle und mir sagen. Trotzdem – auch das wurde mir natürlich sehr vertraulich berichtet – sollen Sie auch froh darüber sein, bald schon – in wenigen Augenblicken – wieder mehr Zeit für andere als juristische Dinge zu haben.

Lieber Herr Eichberger,

unser Land verdankt Ihnen sehr viel! Dafür danke ich Ihnen sehr herzlich – das tue ich auch sehr persönlich. Für Ihr Engagement und Ihre Leistungen verleihe ich Ihnen – das sage ich jetzt als Bundespräsident – das Große Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband der Bundesrepublik Deutschland.

Lieber Herr Radtke,

der Bundesrat hat Sie am 6. Juli 2018 zum Richter des Bundesverfassungsgerichts gewählt. Sie erschrecken hoffentlich nicht angesichts des geschilderten verfassungsrichterlichen Pensums, der vor Ihnen liegenden Aufgabe. Ich bin überzeugt, Sie sind gut dafür gerüstet: Nach Ihrem Schulbesuch in Lübeck und Kassel absolvierten Sie Ihren Wehrdienst, anschließend ein Studium der Rechtswissenschaft in Göttingen, das Sie 1987 mit dem Ersten Juristischen Staatsexamen abschlossen. Vor dem Referendariat arbeiteten Sie als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Juristischen Fakultät Göttingen am Lehrstuhl von Prof. Dr. Fritz Loos. Nach dem Zweiten Juristischen Staatsexamen – 1992 – promovierten Sie und habilitierten sich 1997 mit einer Arbeit zur Dogmatik der Brandstiftungsdelikte. Sie erhielten die Lehrbefugnis für die Fächer Strafrecht und Strafprozessrecht. Nach Professuren in Saarbrücken und Marburg hatten Sie von 2005 bis September 2012 den Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Internationales Strafrecht an der Universität Hannover inne. Neben Ihrer akademischen Tätigkeit suchten Sie immer Kontakt zur Praxis – so waren Sie Anfang der 2000er Jahre Richter im Strafsenat des Saarländischen Oberlandesgerichts. Es ist bemerkenswert, dass Sie – aus einer erfolgreichen wissenschaftlichen Karriere heraus – 2012 an den Bundesgerichtshof wechselten, als Sie zum Bundesrichter im 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs gewählt wurden. Aus Hannover, wo ich mich immer noch ein bisschen auskenne, habe ich gehört, dass Ihr Wechsel dort als sehr, sehr schmerzlicher Verlust empfunden wurde.

Nun kann das Verfassungsgericht von Ihren vielfältigen Erfahrungen in Wissenschaft und Praxis profitieren. Und ich bin sicher, dass Sie eine große Bereicherung für das Gericht sein werden.

Ich darf Ihnen, Herr Radtke, herzlich gratulieren. Ich bin sicher, Sie werden sich schnell in die neuen Aufgaben einfinden, und wenn Sie hier in die Runde schauen, Sie werden von freundlichen Kolleginnen und Kollegen begrüßt werden in Karlsruhe, die Ihnen die Arbeit so leicht wie möglich machen. Vielen Dank und vielen Dank Ihnen allen.