Verleihung des Frank-Schirrmacher-Preises an den Schriftsteller Daniel Kehlmann

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 3. September 2018

Der Bundespräsident hat am 3. September bei der Verleihung des Frank-Schirrmacher-Preises an Daniel Kehlmann eine Ansprache in Berlin gehalten: "Ich wünsche mir weiter diesen Autor, der immer wieder auch seinen literarischen Hochsitz verlässt und seine Stimme im politischen Hier und Jetzt hören lässt. Nachdenklich und klug, wie ich das oft erfahren durfte. Nie belehrend, aber Haltung einfordernd. Nie an der Welt verzweifelnd, aber verzweifelt über Zynismus und Ignoranz."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Laudatio auf Daniel Kehlmann anlässlich der Verleihung des Frank-Schirrmacher-Preises im F.A.Z. Atrium Berlin

Vor einer Woche gab es zum letzten Mal Tage der offenen Baustelle des Humboldt-Forums. Im nächsten Jahr wird es nämlich schon eröffnet. Dieses ambitionierteste kulturelle Projekt unseres Landes geht seiner Vollendung entgegen. Und genau da bekommt mit Daniel Kehlmann derjenige Schriftsteller den Frank-Schirrmacher-Preis, der wohl vielen Zeitgenossen erst die Augen geöffnet hat für den großen Alexander von Humboldt, dessen 250. Geburtstag wir im kommenden Jahr feiern werden. Dieses Zusammentreffen hätte Frank Schirrmacher bestimmt gefallen, dessen Phantasie und dessen publizistische Leidenschaft durch historische Zäsuren und überraschende Koinzidenzen immer angeregt wurden.

Frank Schirrmacher überraschte gern mit unerwarteten, gelegentlich auch unerhörten Gedanken. Er konnte schonungslos sein, irritierte den Zeitgeist, entdeckte die Wunden einer selbstzufriedenen Gesellschaft und legte den Finger tief in sie hinein. Er hatte nicht nur großen Spaß daran, er hatte die seltene Fähigkeit, Debatten anzuzetteln. Im intellektuellen Streit erwachte seine publizistische Fähigkeit, der auch Polemik nicht fremd war. Er fehlt uns immer noch sehr.

Dieser Preis mit seinem Namen erinnert uns an ihn als eine Ausnahmeerscheinung des deutschen Journalismus. Es ist gut, dass sein Name wie sein Wirken mit einem nach ihm benannten, hochrangigen Preis gewürdigt werden. Mit den Maßstäben, die Schirrmacher gesetzt hat, ist der Kreis möglicher Preisträger, die diese Maßstäbe erfüllen, natürlicherweise begrenzt.

Ich weiß nicht, ob Schirrmacher und Kehlmann sich kannten. Ich weiß nur: Der Namensgeber wäre mit der Entscheidung der Jury sehr zufrieden gewesen. So wie Frank Schirrmacher eine Ausnahmeerscheinung im Journalismus war, ist Daniel Kehlmann eine Ausnahmeerscheinung in der Literatur.

Daniel Kehlmann ist nicht nur einer der erfolgreichsten Schriftsteller in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur: Millionenfache Auflagen, dutzende Übersetzungen in andere Sprachen, erfolgreiche Verfilmungen seiner Werke sprechen eine eindeutige Sprache.

Er hat zudem neue Akzente gesetzt. Zwei von seinen Büchern, die nicht in der Gegenwart spielen, Die Vermessung der Welt und Tyll, erzählen deutsche Geschichte auf eine neue Art: verspielt und verrätselt, anspielungsreich und bildungsgesättigt; mit vielen recherchierten Fakten und mit noch mehr Phantasie und ausgedachten Ereignissen und Figuren.

Nun wird sich mancher fragen, warum denn zu allen Ehrungen und Preisen, die Daniel Kehlmann zuteil geworden sind, nun auch noch der Bundespräsident die Laudatio halten muss. Ich will ganz kurz etwas dazu sagen:

Erstens freue ich mich, dass ich Daniel Kehlmann sozusagen etwas zurückgeben kann. Ich kenne ihn seit vielen Jahren, genau seit 2006. Ich weiß das wie heute, weil ich damals – als gerade frisch ins Amt gekommener Außenminister – vor meiner ersten Lateinamerikareise stand. Und ich suchte nach Rat und Expertise, kurzum: nach jemandem, der sich auf diesem südamerikanischen Kontinent auskannte. Gerade hatte ich mit Begeisterung Die Vermessung der Welt gelesen und hatte ihn gefunden, den Kenner und langerfahrenen Südamerikareisenden Daniel Kehlmann. Ich ließ anfragen und er sagte tatsächlich zu, mitzureisen. Das erste Mal trafen wir beim Abflug in der Flugzeugkabine zusammen. Meine Freude war riesengroß, ich dankte ihm herzlich und gestand, dies – obwohl Außenminister – sei meine erste Reise nach Südamerika. Darauf er ganz trocken: Meine auch! Das war natürlich ein kleiner Schock. Aber auch eine Lehre über die große Empathie und Phantasie eines außergewöhnlichen Schriftstellers. Und meinen ohnehin schon großen Respekt vor ihm hat es noch gesteigert.

Und ich war dann trotzdem sehr dankbar für Kehlmanns Begleitung. Wer nämlich weiß, welchen ungeheuren Ruf Alexander von Humboldt in Südamerika hat, der wird ganz leicht verstehen, was es bedeutet, wenn auf einer solchen Reise der Autor der erfolgreichsten Humboldt-Geschichte mit dabei ist. Herzen und Türen waren weit für uns geöffnet.

Der große Geschichtenerfinder Kehlmann stellt sich aber auch gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Fragen. So war er neulich Gast bei meiner Diskursreihe Forum Bellevue, wo ich mit ihm, mit Eva Menasse und Sir Salman Rushdie über die Zukunft der Demokratie und den Beitrag, den Intellektuelle dazu leisten können, diskutiert habe. Ich entdecke in Daniel Kehlmann immer wieder den sehr nachdenklichen, weltgewandten und welterfahrenen Zeitgenossen, der um klare Aussagen und überzeugte und überzeugende Statements nicht verlegen ist. Und der bei aller Belesenheit und bei seiner hohen Bildung nie arrogant wird und auch nicht vom hohen Ross herab Meinungen dekretiert.

Er ist ein gelehrter Dichter, ein poeta doctus, wie Walter Jens gesagt hätte. Er möchte in der intellektuellen Auseinandersetzung selber klüger werden und macht genau deshalb wiederum seine Gesprächspartner klüger.

Ich habe vorhin erstens gesagt, dann muss ich jetzt noch ein zweitens anfügen. Ich bin also zweitens hier, weil ich mit Daniel Kehlmann die deutschsprachige Literatur, den Beitrag der Schriftstellerinnen und Schriftsteller zur gesellschaftlichen Selbstverständigung insgesamt würdigen möchte. Nehmen Sie diese kleine Laudatio als eine Liebeserklärung an die Literatur.

Wenn wir aufhörten zu lesen, und damit meine ich, richtige Bücher zu lesen, die länger sind als 280 Zeichen, und wenn die Schriftsteller aufhörten zu schreiben, dann würde uns für unsere Selbstverständigung, für unsere Suche danach, wer wir sind und wer wir sein wollen etwas ganz entscheidendes fehlen. Ohne intensive Lektüre, ohne also für Stunden sich in andere Welten zu versetzen, in andere Existenzen, mit anderen Ohren zu hören und mit anderen Stimmen zu sprechen, ohne all das würden wir nicht dieselben sein. Nicht nur anders, sondern mit Sicherheit dümmer. Abgesehen davon, dass es doch einfach spannend ist, sich von einem Buch wie etwa dem Tyll mit jedem Kapitel immer wieder überraschen zu lassen – und darüber zu staunen, was für ein rätselhaftes Wesen doch der Mensch ist. Und welchen Schmerz und Kummer, aber auch welches Glück und welchen Segen das Leben bereithalten kann.

Diese Fülle des Lebens und die Expeditionen in andere Welten, die uns bei Kehlmanns Vermessung und in seinem Tyll begegnen, aber auch in seinen Gegenwartsromanen und Erzählungen, die hat übrigens bereits Goethe zu seiner Zeit gefordert. Der klagte am 24. November 1824 nämlich gegenüber Eckermann:

Der Mehrzahl unserer jungen Poeten fehlt weiter nichts, als daß ihre Subjektivität nicht bedeutend ist und daß sie im Objektiven den Stoff nicht zu finden wissen. Im höchsten Fall finden sie einen Stoff, der ihnen ähnlich ist, der ihrem Subjekte zusagt; den Stoff aber um seiner selbst willen, weil er ein poetischer ist, auch dann zu ergreifen, wenn er dem Subjekt widerwärtig wäre, daran ist nicht zu denken.

Keine Frage: Daniel Kehlmann hat den Stoff um seiner selbst willen ergriffen, und auch wenn dieser Stoff fremdartig oder unangenehm ist, widerwärtig, wie es Goethe genannt hat. So nämlich in seinem Tyll, dem Roman, der mich natürlich mit meiner außenpolitischen Vergangenheit ganz besonders interessiert. Der Dreißigjährige Krieg ist – vor dem 20. Jahrhundert – die größte Katastrophe der deutschen Geschichte und seine Ursachen und sein Verlauf, seine Auswirkungen auf große und kleine Leute, sein Ende im Westfälischen Frieden: All das ist immer noch lehrreich für uns heute. Und aktuelle Parallelen, wie etwa zum Syrienkrieg hat der Autor selber gezogen.

Es ist vor allem eine Geschichte über die prekäre Existenz des Menschen. Sie hat die größten Schriftsteller unserer Sprache immer wieder zur Gestaltung herausgefordert. Grimmelshausen mit seinem Simplicissimus, Schiller mit Wallenstein, Döblin ebenfalls mit Wallenstein, Brecht mit seiner Mutter Courage.

Wenn sich dann ein zeitgenössischer Schriftsteller wie Kehlmann diese Zeit noch einmal vornimmt, dann verfolgte er eine eigene Spur. Er zeigt die Auswirkungen des großen Krieges sowohl für Regenten wie Gustav Adolf oder Friedrich, den Winterkönig, und dessen Gattin Elisabeth, wie auch für Intellektuelle wie Athanasius Kircher oder Martin von Wolkenstein, aber auch für die einfachen Leute wie den Müller Claus, wie Tine Krugmann und alle, die nur eine winzige Rolle im Weltgeschehen spielen konnten.

Aber vor allem stellt er mitten in dieses große Panorama aus Leid, Schmerz und dem Stöhnen der Kreatur einen freien, selbstbestimmten Menschen, einen Künstler und Gaukler, einen Artisten, der gelegentlich als Hofnarr in allerhöchsten Diensten steht, der dann wieder als Taugenichts und fahrender Vagant sein Überleben sichern muss, den Narren und Lebenskünstler Tyll.

Was soll das? Was kann die Vergangenheit eigentlich so interessant machen, dass sie uns zur mitfiebernden Lektüre veranlassen kann? Kehlmann stellt sich bei anderer Gelegenheit selber einmal die Frage, was alte Geschichten heute eigentlich sagen können und zeigt in einer verblüffenden historischen Miniatur, wie nah die Vergangenheit ist.

So weit, wie wir meinten, ist die ferne Vergangenheit nie entfernt. Meinem Vater wurden als Kind die Haare geschnitten von einem Friseur, der einst als Hofbarbier den österreichischen Kaiser rasiert hatte. Mein Großvater wurde im 19. Jahrhundert geboren, er war 22 Jahre alt, als die letzte Person starb, die noch Goethe begegnet war. Sechs Generationen nur muss man zurückgehen, schon ist man bei Leuten, die Napoleon zu Pferd sahen, sagt Kehlmann in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen.

Oder später kurz gefasst in dem Satz aus seinem Tyll: Denn es ist alles nicht lang her. Wir müssen uns klar machen, wie sehr wir alle noch geprägt sind von Geschichten, die nur in unserem kurzen Gedächtnis weit in einer kaum noch bemerkbaren Vergangenheit liegen, in Wirklichkeit aber noch immer bestimmen, wie wir sind – und warum wir handeln und denken, wie wir handeln und denken.

Ein anderer deutscher Autor hat eine ähnliche Antwort gegeben. Auch er hat ein Buch zum Dreißigjährigen Krieg geschrieben: Ein erfundenes Schriftstellertreffen am Ende des Krieges, mit all den Dichtern wie Andreas Gryphius, Paul Gerhardt, Grimmelshausen, Simon Dach und so vielen anderen, auf ihre Art auch Narren und geistige Seiltänzer. Ein Treffen, wie es 300 Jahre später, nach dem Zweiten Weltkrieg, die Gruppe 47 dann verwirklich hat.

Günter Grass hat sein Treffen in Telgte mit einer Sentenz eröffnet, die auch für Daniel Kehlmann und seinen Tyll gelten kann:

Gestern wird sein, was morgen gewesen ist. Unsere Geschichten von heute müssen sich nicht jetzt zugetragen haben. Diese fing vor mehr als dreihundert Jahren an. Andere Geschichten auch. So lang rührt jede Geschichte her, die in Deutschland handelt.

Geschichten von heute oder von gestern zu erzählen, das ist Aufgabe der Literatur. Sie verfolgt keine vordergründigen didaktischen Interessen. Sie stellt dar, indem sie erzählt. Das Erzählen selber hat allerdings eine philosophische und dann auch eine politische Konsequenz. Wenn nämlich die Welt und die Geschichte erzählbar sind, wenn Welt und Geschichte in Geschichten dargestellt werden können, die man als Hörer oder Leser nachvollziehen kann, dann sind Welt und Geschichte verstehbar.

Eine erzählbare Welt ist eine verstehbare Welt. Und eine verstehbare Welt ist eine gestaltbare, eine veränderbare Welt.

Man kann Geschichte in die Hand nehmen. Der Ausgang ist nicht vorherbestimmt. Und das ist der Trost auch noch der trostlosesten Geschichten.

Erzählen ist ein Thema, das in vielen Büchern Kehlmanns gestaltet wird. Wer wie in welche Geschichten kommt, wer aus Geschichten wieder herauskommen möchte, wie Erzähler und erfundene Figuren miteinander streiten und sich gegenseitig versuchen hereinzulegen: All das kommt – oft sehr spielerisch – in Kehlmann-Texten vor.

Im Tyll aber wird es – schon ganz zu Anfang – ganz ernst. Da ist Erzählen kein artistischer Spaß, sondern Rettung des Gedenkens und der Erinnerung an all die Verlorenen und Vergessenen der Geschichte. Erzähler sind hier die Personen, ja die Opfer der Geschichte selber. Es sprechen die Toten, die durchs Erzählen präsent bleiben:

Man hört uns im Gras und im Grillenzirpen […] und zuweilen kommt es Kindern so vor, als könnten sie unsere Gesichter im Wasser des Baches sehen. Unsere Kirche steht nicht mehr, aber die Kiesel, die das Wasser rund und weiß geschliffen hat, sind noch dieselben […] Wir aber erinnern uns, auch wenn keiner sich an uns erinnert, denn wir haben uns noch nicht damit abgefunden, nicht zu sein. Der Tod ist immer noch neu für uns, und die Dinge der Lebenden sind uns nicht gleichgültig. Denn es ist alles nicht lang her.

Die Macht des Erzählens selber, die all das Vergangene, Verlorene repräsentierende, ja rettende und erlösende Kraft des Erzählens, die narrative Potenz der Literatur ist ein zentrales Element in Kehlmanns Schaffen. Mich erinnert das an eine jüdische Geschichte, die Gershom Scholem überliefert hat. Ich gebe sie gekürzt wieder:

Wenn der Baal-Schem etwas Schwieriges zu erledigen hatte, so ging er an eine bestimmte Stelle im Wald, zündete ein Feuer an und sprach Gebete. Und alles geschah, wie er wollte. Wenn eine Generation später der Maggid dasselbe zu tun hatte, ging er an die Stelle im Wald und sagte: ‚Das Feuer können wir nicht mehr machen, aber die Gebete können wir sprechen.‘ Und alles geschah, wie er es vorhatte. Wieder eine Generation später sollte Rabbi Leib jene Tat vollbringen. Auch er ging in den Wald und sagte: ‚Wir können kein Feuer mehr anzünden und wir kennen auch die Gebete nicht mehr. Aber wir kennen den Ort im Wald. Das muss genügen. – Und es genügte. Wieder eine Generation später musste Rabbi Israel jene Tat vollbringen. Er sagte: ‚Wir können kein Feuer machen, wir können keine Gebete sprechen, wir kennen auch den Ort nicht mehr, aber wir können die Geschichte davon erzählen. Und seine Erzählung allein hatte dieselbe Wirkung wie die Taten der drei anderen.

Literatur, die die Erinnerung wachhält an die Vergessenen und Verlorenen, an die Verdammten und Marginalisierten der Geschichte, solche Literatur ist nicht weit entfernt vom realpräsentischen Gedenken in dieser jüdischen Geschichte, also vom Gedenken, wie es in religiösen oder kultischen Praktiken gelebt und durch Erzählen bewahrt wird.

Das bringt mich auf einen letzten Gedanken. Der Tyll, jene Narrenfigur, die Kehlmann um 300 Jahre versetzt, also vom 14. ins 17. Jahrhundert holt, hält das Buch zusammen – und verkörpert gleichzeitig das Besondere, etwas, das ihn von allen anderen unterscheidet.

Der Gaukler, der Narr: das ist natürlich ein Künstler – mit allen Freiheiten des Künstlers, aber auch mit der prekären Existenz des fahrenden Gesellen, der gelegentlich in eine Festanstellung an einem Hof einwilligt – aber auch als Hofnarr kann man gefährlich leben. Der Narr verkörpert das Andere, das Nicht-Normale, das Außeralltägliche.

Wenn er auftaucht, wenn er seine Moritaten singt, wenn er tanzt, wenn er mit seiner Partnerin Schauspiele zum Besten gibt, wenn er schließlich sein artistisches Können beim Jonglieren oder Seiltanzen zeigt, dann ist für Stunden das öffentliche Leben stillgestellt. Dann vergessen die Menschen auch für eine kurze Zeit ihre Sorgen, ihr Elend, die Bedrohungen durch Krieg und Hunger.

Dass Tyll dabei auch dämonische Züge trägt, dass er auch die Abgründe des Menschen kennt und sie aufzeigt, das zeigt, dass Kunst nicht nur zur Unterhaltung gut ist, sondern zur Selbst- und Welterkenntnis, zum Begreifen der Wahrheit. Das gilt für Tylls Kunst – aber auch für die Literatur Daniel Kehlmanns.

Ich frage mich aber, ob nicht im Tyll noch eine Dimension versteckt ist, die über den Künstler hinausweist. In einer Erörterung seines Romans Die Vermessung der Welt sagt Kehlmann fast beiläufig: Man hat ja ein paarmal gesagt, dass es in der Vermessung der Welt zu wenig Metaphysik gebe. Ich fürchte eher, es gibt zu viel davon.

Könnte nicht auch im Tyll zumindest etwas Metaphysik stecken? An einer Stelle heißt es: Man kann auf einem Seil nicht gehen. Das ist offensichtlich. Menschenfüße sind nicht gemacht dafür. Immer wieder wird der fundamentale Unterschied herausgestellt zwischen Tyll, der sich selber als „aus Luft gemacht“ beschreibt, und allen anderen.

Und wenn er schließlich mit den Mineuren verschüttet wird, also wie ins Totenreich, ja in die Hölle hinabgestiegen ist, wenn er dort einem anderen widerwillig die Beichte abnimmt, ihm vergibt und – wenn auch ironisch – den Satz des Gekreuzigten zitiert: Heut noch bist du mit mir im Paradies, wenn er dann offenbar auf wundersame Weise gerettet wird und es heißt: Wenn es eng wird, gehe ich. Ich sterbe hier nicht. Ich sterbe nicht heute. Ich sterbe nicht! – hat der Narr dann nicht heilige, ja fast christusartige Züge?

Der Dreißigjährige Krieg, in dem das alles spielt, hat ja seine Ursprünge in einer religiösen Auseinandersetzung und in einer heute nicht mehr vorstellbaren Angst der Menschen um ihr Seelenheil. Er bringt nicht nur schreckliches Leid über die Menschen, er ist im Grunde eine einzige Blasphemie. Denn ein gegenseitiges Abschlachten ist geworden, wo es irgendwann ganz zu Anfang einmal um die Frage ging, was derjenige für die Menschen bedeutet, der die Nächstenliebe predigte.

In einer solchen Welt, die ihn blasphemisch verhöhnt, da kann auch Christus nur noch die Züge eines Narren haben. Will uns Kehlmann das sagen? Offen gesagt, ich weiß es nicht! Ich vermute sogar: Ihm geht diese Deutung zu weit. Aber wir alle wissen: Große Kunst lässt manches entdecken, was sogar den Intentionen des Künstlers entgangen sein kann. Auch davon handeln Kehlmanns Geschichten nicht selten.

Lieber Daniel Kehlmann,

Ihre Bücher haben, weil sie hohe Kunst sind, mehrere Bedeutungsebenen und Dimensionen. Genau auf diese Weise, nicht als eindimensionale und preiswert zu habende Moral von der Geschichte, bieten Sie die subtile Analyse der deutschen Vergangenheit und Gegenwart, wie es in der Begründung für den Schirrmacher-Preis heißt. Vor allem helfen Sie aber, wie ich hinzufüge, uns selbst zu verstehen.

Und dafür danken wir Ihnen! Ich wünsche mir noch manche solcher Bücher von Ihnen, die uns unsere Welt erzählen und sie so verstehbar und veränderbar machen.

Und ich wünsche mir weiter diesen Autor, der immer wieder auch seinen literarischen Hochsitz verlässt und seine Stimme im politischen Hier und Jetzt hören lässt. Nachdenklich und klug, wie ich das oft erfahren durfte. Nie belehrend, aber Haltung einfordernd. Nie an der Welt verzweifelnd, aber verzweifelt über Zynismus und Ignoranz. Ein Citoyen, ein Aufklärer, einer, der fordert und auffordert. Einer, den wir brauchen!

Lieber Daniel Kehlmann, ich gratuliere herzlich zum Preis!