70. Jahrestag der Rede von Ernst Reuter "Ihr Völker der Welt"

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 9. September 2018

Der Bundespräsident hat am 9. September zum 70. Jahrestag der Rede von Ernst Reuter "Ihr Völker der Welt" eine Ansprache in Berlin gehalten: "Er wollte ein lebendiges politisches Bewusstsein in den Deutschen wecken. Eine Demokratie verlange mehr als die wiederkehrende Beteiligung an Wahlen, erklärte er seinen Berliner Parteifreunden. Sie sei nur da vorhanden, wo innerhalb eines Volkes eine Gruppe unerschütterlich dafür einstehe, 'daß der Gedanke der Freiheit niemals ausgerottet werden kann.'"

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei einer Veranstaltung zum 70. Jahrestag der Rede von Ernst Reuter 'Ihr Völker der Welt' im Allianz Forum in Berlin

Mitunter macht der Einzelne den Unterschied. Helmut Schmidt hat das einmal über Ernst Reuter gesagt. Überträgt man seinen kargen norddeutschen Satz in eine etwas weniger unterkühlte Berliner Diktion, würde man sagen: Manchmal schreibt ein einzelner Mensch, Mann oder Frau, Geschichte.

Ernst Reuter hat das zweifellos getan, als er heute vor 70 Jahren auf den Stufen des Reichstages zu den Berlinern sprach.

Genauer gesagt sprach er vor und von den Berlinern, weniger zu ihnen. Die Adressaten seiner Rede waren Amerikaner, Briten, Franzosen, Italiener, ja, auch Russen. Es waren die Völker vor allem der westlichen Welt, zu denen Ernst Reuter sprach, die er aufrief, an die er appellierte. Er packte sie bei dem, was ihnen allen gemeinsam ist, bei ihrem allgemein menschlichen Verlangen, in Freiheit leben zu wollen.

Und, meine Damen und Herren, damit sprach Ernst Reuter zu uns allen, auch zu uns Nachgeborenen.

Was er sagte, war mutig! Nur drei Jahre nach Kriegsende forderte ein deutscher Politiker die Weltgemeinschaft auf, die Berliner, mehr noch, die Deutschen nicht preiszugeben, sich an ihre Seite zu stellen, ihre Freiheit zu verteidigen.

Nur wenige Jahre lag die Naziherrschaft zurück, eine Terrorherrschaft, die Europa in Unfreiheit gestürzt hatte.

Die Zerstörung der Weimarer Demokratie, Machtergreifung, Willkür und Verfolgung, Folter und Mord, der Überfall auf Polen, Vernichtung, millionenfacher Mord an den europäischen Juden, am Ende Verwüstung des ganzen Landes. All das war den Deutschen nur zu gut in Erinnerung, den Adressaten der Rede, dem Redner und vor allem den Berlinern, die ihm zuhörten. Wie hätten sie auch vergessen können, was hinter ihnen lag, vor dieser Kulisse, vor dem zerschossenen Reichstag, dieser letzten Station des deutschen Irrwegs?

Zugleich war es die Bedrohung durch die stalinistische Gewaltherrschaft, die allen vor Augen stand und die auf Berlin wie auf keiner anderen Stadt lastete.

Helmut Schmidt hatte recht: Mitunter macht ein einzelner Mensch den Unterschied. Es war Ernst Reuter, der in dieser Situation und vor dieser Kulisse für die Berliner, für die Deutschen sprach. Ein Einzelner in einem Meer von Hunderttausenden zerlumpten, hungernden Berlinern, ein Mensch und Politiker, dessen Integrität über jeden Zweifel erhaben war – Reuter machte den Unterschied!

Wer von Ihnen die Bilder dieses 9. September 1948 betrachtet hat, der hat eine Gegenwart gesehen, die nichts als Elend und Zerstörung kannte. Doch wer sich dazu die Stimme Ernst Reuters ins Gedächtnis ruft, der begreift noch heute, dass diese Nachkriegsgegenwart nichts als Zukunft wollte: Neubeginn! Reuter kannte diese Zukunft so wenig wie die Menschen, die ihm zuhörten. Aber er hatte die Kraft, sie zu beschwören.

Er wusste, was er wollte. Er kannte seine Mittel und er kannte die weltpolitischen Akteure – er kannte sie wie wohl kein zweiter deutscher Politiker seiner Zeit. Er hatte den heraufziehenden Konflikt zwischen den ehemaligen Alliierten schon 1946 im türkischen Exil wahrgenommen. Er ahnte, dass die Machtprobe zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion die deutschen Geschicke bestimmen würde, und er wusste 1948 in Berlin, dass die Demarkationslinie zwischen dem sowjetisch beherrschten Osten und dem amerikanisch kontrollierten Westen Deutschlands auf absehbare Zeit bestehen bleiben würde.

Die Spaltung Deutschlands wird nicht geschaffen, sie ist schon vorhanden, erklärte Reuter den Ministerpräsidenten der Länder im Sommer 1948. Sie sollten nicht länger zögern, die Gründung eines eigenen westdeutschen Staates in Angriff zu nehmen. Reuter wünschte sich diesen Schritt, den viele, auch in seiner eigenen Partei, scheuten. Sie fürchteten, mit der politischen und ökonomischen Konsolidierung eines Weststaates werde die Teilung Deutschlands auch de jure vollzogen.

Reuter dagegen sah in dem politischen und ökonomischen Neustart, wie er sagte, die elementare Voraussetzung für eine Gesundung der Verhältnisse, im Westteil wie im Ostteil Deutschlands. Ein Gelingen dieses Neustarts vorausgesetzt, würde die Rückkehr des Ostens zum gemeinsamen Mutterland eine Frage der Zeit sein.

Reuter wird geahnt haben, dass diese Zeit lang, sehr lang werden würde. Und doch war er überzeugt, das Richtige zu tun.

Der Einzelne kann einen Unterschied machen. Reuter machte ihn, auch hier. Er widersprach den engsten Weggefährten und Parteifreunden, Louise Schröder, 1947 kommissarisch amtierende Oberbürgermeisterin von Berlin, und auch Carlo Schmid, damals stellvertretender Staatspräsident von Württemberg-Hohenzollern und später Vorsitzender des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates. Beide hatten vor vollendeten Tatsachen gewarnt.

Ernst Reuter wollte die staatliche Souveränität, weil sie die Voraussetzung für einen demokratischen Neubeginn, für die politische Zukunft Deutschlands war. Es war sein Mut, der den Unterschied machte: Ernst Reuters Mut zur Demokratie. Damit war er einer der wichtigsten Wegbereiter des Grundgesetzes.

Gleichwohl wusste er, dass eine Demokratie nicht allein mit der Annahme der Verfassung etabliert wird. Ehe aus den Deutschen, die nun eine wunderbare Verfassung hätten, Demokraten würden, werde in Berlin und Bonn noch einiges Wasser die Spree und den Rhein hinunterlaufen, erklärte er 1950. Der Regenerationsprozess, der den Deutschen bevorstand, war nicht mit der Annahme des Grundgesetzes erledigt. Das brauchte Zeit! Und hatte Voraussetzungen:

Reuters Stichwort hieß Aufbau – und blieb es lebenslang. Als Volkskommissar in der Wolgarepublik, als Kommunalpolitiker in den Notjahren der Weimarer Republik und im türkischen Exil und schließlich als Bürgermeister bei der Bewältigung der Berliner Blockade – Reuter verstand es, Kräfte freizusetzen. Er war überzeugt von der bindenden, der integrativen Kraft einer gemeinschaftlichen Anstrengung ebenso wie von den kreativen Kräften, die sie freisetzen kann.

Das, so glaube ich, verstand Ernst Reuter unter Aufbauarbeit. Und die leistete er nicht zuletzt für die Demokratie in Deutschland.

Es war die Summe seiner politischen Erfahrungen, in Russland, in der Türkei und in Deutschland, die ihn zu einem überzeugten und überzeugenden Demokraten werden ließ. Er wollte ein lebendiges politisches Bewusstsein in den Deutschen wecken. Eine Demokratie verlange mehr als die wiederkehrende Beteiligung an Wahlen, erklärte er seinen Berliner Parteifreunden. Sie sei nur da vorhanden, wo innerhalb eines Volkes eine Gruppe unerschütterlich dafür einstehe, daß der Gedanke der Freiheit niemals ausgerottet werden kann.

Unabhängigkeit, Toleranz und Achtung vor der Überzeugung und den Werten des politischen Gegners hielt Reuter für selbstverständliche Formen öffentlichen Lebens, wie sie in einer freien Gesellschaft erwartet werden kann und erwartet werden muss. Unerschrockenheit im Denken und Handeln waren für ihn Folgen einer freiheitlichen Erziehung.

Es sind demokratische Tugenden, wie Reuter selbst sie an jedem Ort, an jeder Station seiner Biographie angefochten und umkämpft erlebt hatte: in der Weimarer Republik unter dem Druck der Demokratiefeindschaft, in der Türkei unter dem autoritären Regime Atatürks, vor allem aber in den Jahren der russischen Revolution und des Bürgerkrieges an der Wolga. Doch überall dort, wo sich Menschen gegen Fanatismus und Unterdrückung zur Wehr setzen, um ein Leben in Würde zu führen, sind immer auch Spuren dieser demokratischen Tugenden zu finden. Reuter ist diesen Spuren gefolgt.

Und es war kein Zufall, dass Ernst Reuter zeit seines Lebens ein leidenschaftlicher Kommunalpolitiker war. Für ihn war die kommunale Selbstverwaltung Basis und Schule der Demokratie. Die Voraussetzung für Selbstbestimmung aber heißt Freiheit. Zwang pervertiert jedes Ideal zur Unkenntlichkeit – das war die eindrücklichste und nachhaltigste seiner Lebenslektionen.

Ich glaube, dass ich heute sagen darf: Seine Lektionen sind unserem Land in Fleisch und Blut übergegangen – jedenfalls der großen Mehrheit in unserem Land! Aus einem Deutschland, von dem zu Reuters Lebzeiten Verfolgung und Gewalt ausgegangen war, ist ein Land geworden, das für Viele ein Ort der Hoffnung geworden ist. Ich finde, das ist eine erstaunliche, eine beglückende Entwicklung. Vor über acht Jahrzehnten floh Ernst Reuter vor politischer Verfolgung in Deutschland und fand Zuflucht in der Türkei. Heute sind es nicht wenige, die auch vor politischen Repressalien in der Türkei Schutz in Deutschland finden. Die größte Zahl kam auf der Suche nach Arbeit und Wohlstand, andere in der Hoffnung auf Sicherheit und Schutz. Heute sind es fast drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln, die hier in Deutschland ein Zuhause, und vor allem ein Land mit Rechtsstaat und Freiheit, haben. Ich glaube, Ernst Reuter wäre froh darüber.

Von Ernst Reuter können wir erfahren, wo Unfreiheit beginnt und wie man die Freiheit gegen ihre Verächter verteidigt. Wir können von ihm lernen, dass Heimat die Faszination für das Andere, das Fremde nicht ausschließt, sondern dass beides einander bedingt. Es sind wichtige Lektionen auch für die Gegenwart.

Ernst Reuter war ein unerschrockener Wegbereiter der Demokratie in Deutschland. Er hat die Freiheit gesucht, sie lieben gelernt und für sie gekämpft. Sein Mut und seine Liebe zur Freiheit – sie bleiben unvergessen, sie bleiben uns Vorbild und Ansporn.