Eröffnung der Ausstellung "Bewegte Zeiten – Archäologie in Deutschland"

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 20. September 2018

Der Bundespräsident hat am 20. September zur Eröffnung der Ausstellung "Bewegte Zeiten – Archäologie in Deutschland" im Martin-Gropius-Bau eine Ansprache gehalten: "Welche unersetzbar wertvolle Arbeit all diejenigen leisten, die unser Erbe bergen, schützen, bewahren, restaurieren, auswerten, ausstellen und zum Sprechen bringen, was diese ganze Arbeit wert ist, das merken wir im Alltag oft nicht, sondern erst, wenn es solche prachtvollen Ausstellungen wie diese hier gibt."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält zur Ausstellungseröffnung "Bewegte Zeiten – Archäologie in Deutschland" im Martin-Gropius-Bau eine Ansprache bei der Eröffnungsveranstaltung im Abgeordnetenhaus in Berlin

Sous les pavés, la plage!; Unter dem Pflaster liegt der Strand! – das war im Mai 1968 eine fröhliche, eine provokative Parole. Unter der Oberfläche der Normalität versprach man sich, mehr oder weniger anstrengungslos, noch ein reicheres, geradezu paradiesisches Leben zu entdecken. Wenn man so will, die hedonistische Seite der Studentenbewegung.

Dieses Motto fiel mir wieder ein, als ich von der wunderbaren Ausstellung, die wir hier und heute eröffnen, zum ersten Mal hörte, und von diesem ganz besonderen Konzept, von dem wir gleich noch mehr hören werden. Gilt doch für die Archäologie ganz allgemein, dass sie Schätze entdeckt und birgt, die unter der Oberfläche, die wir bewohnen und auf der unser alltägliches Leben stattfindet, eben verborgen sind. Das können Schätze sein, die im materiellen Sinne kostbar sind, wie Gold oder Silber oder Schmuck aus Edelsteinen – vieles davon ist auch in dieser Ausstellung zu sehen. Aber es können eben auch Schätze sein, die in einem ideellen Sinn kostbar sind, weil sie uns nämlich etwas erzählen. Etwas, das wir ohne diesen Fund gar nicht erfahren hätten und nie mehr wissen würden.

Allerdings erzählen die Funde nicht so einfach, was es mit ihnen auf sich hat. Sie sind ja sprachlos. Aber sie sind eben nicht stumm. Was sie zu sagen haben, kann die inzwischen hoch entwickelte Wissenschaft der Archäologie durch Kombination und Vergleich, durch Kontextualisierung, durch technische Untersuchungsmethoden immer genauer und genauer herausbekommen.

Ich finde es gut, dass in der Ausstellung Bewegte Zeiten beides deutlich wird: Was für Schätze gerade in den letzten 20 Jahren in allen Teilen Deutschlands gefunden wurden und was für erstaunliche Geschichten sie zu erzählen haben. Und dass wir zum anderen darüber staunen können, welche Leistungen die Archäologie in diesen vergangenen beiden Jahrzehnten gerade auch dadurch erbracht hat, dass sie durch neue Erkenntnisse und Methoden auch ältere Funde neu zum Sprechen gebracht hat.

Ich glaube, dass diese Ausstellung auf großes Interesse beim Publikum stoßen wird. Schon weil Archäologie spannend ist, vielleicht aber auch, weil Archäologie ja nicht überall und nur von Profis betrieben wird, und vielleicht auch deshalb viele kommen werden. Viele sind in unserem Land ehrenamtlich im archäologischen Umfeld tätig. Und deshalb haben die archäologischen Museen in Deutschland vermutlich so hohe Attraktivität – jedenfalls auch deshalb.

Unter dem Pflaster liegt der Strand: dieses Motto, das ich mir für die Archäologie nur kurz ausborgen wollte, gilt doch fast wörtlich, wie ich finde, für eines der zentralen Schaustücke dieser Ausstellung. Es ist hier im Gropiusbaus zu sehen. Es handelt sich um bedeutende Teile einer römischen Hafenanlage, die in Köln gefunden wurden. Ob man beim Kölner Rheinufer zu römischen Zeiten von Strand sprechen kann, das weiß ich nicht. Aber ob Strand oder Ufer: Beides bedeutet die Offenheit zum Meer und damit zu der Möglichkeit, überallhin aufzubrechen. Und jeder Hafen ist ein Tor zur Welt – und fast in allen Sprachen redet man auch so – und damit auch immer ein Ort von Verheißung und Erwartung, von Ankunft und Abschied: ein Ort eben von Leben in Bewegung.

Leben in Bewegung: das ist das Leitmotiv dieser Ausstellung. Und manchem wird es wahrscheinlich so gehen wie mir, als ich das Thema dieser Ausstellung zum ersten Mal gehört habe. Bewegte Zeiten: Da spricht man doch eher von der aktuellen politischen Lage in der Republik! Und wer ausnahmsweise an Ausstellungen denkt, der denkt vielleicht an eine Verkehrsausstellung oder eine zum Thema Tourismus, vielleicht auch Sport. Bei Bewegte Zeiten denke ich jedenfalls nicht unbedingt an eine Ausstellung ausgegrabener Fundstücke.

Trotzdem: Bewegte Zeiten ist gerade deshalb ein treffender Titel. Denn auch archäologische Funde, die still und reglos im Erdboden vor sich hin lagern, erzählen von Mobilität, von Aufbruch und Ankunft, von Eroberung und Flucht, von Handel und Austausch. Und sie zeigen uns: Wir sind in Europa immer schon von Mobilität geprägt, Austausch und Wanderung war immer. Unsere gesamte Kultur ist praktisch unverständlich, wenn wir sie uns ohne Bewegung vorzustellen versuchten. Das zeigt diese Ausstellung gerade mit Objekten, von denen wir bisher vielleicht nicht gedacht haben, dass sie Bewegungsgeschichten erzählen – übrigens gute wie böse, konstruktive wie zerstörerische, leidvolle wie freudvolle Bewegungsgeschichten.

Diese Ausstellung gehört zum Jahr des Europäischen Kulturerbes, das unter dem Titel Sharing heritage steht. Ganz frei übersetzt: Das gemeinsame Erbe miteinander teilen und sich so dieses gemeinsamen Erbes auch immer wieder bewusst werden.

Europäische Kultur: Das ist die ständige Bewegung zwischen Bewahrung und Erneuerung.

Europa ist der Kontinent der ständigen Erneuerung, nicht obwohl, sondern weil er auch ein Kontinent der Erinnerung, des historischen Bewusstseins ist.

Und diese Bewegung – das zeigen uns viele Objekte in dieser Ausstellung – kreisen immer um ähnliche Fragen: Was ist der Mensch? Wonach strebt er? Worunter leidet er? Was ist zu tun, damit Menschen friedlich und gut zusammenleben können? Danach ist Europa immer wieder auf der Suche gewesen, unter immer veränderten Bedingungen. Und deshalb ist die Suche eben auch nie zu Ende. Sie findet allenfalls Antworten, die für Epochen oder noch kürzere Zeitabschnitte gültig sind.

Gerade jetzt im Augenblick ist die Suchbewegung, von der ich rede, besonders intensiv. Dass wir gegenwärtig in wahrhaftig bewegten Zeiten leben und deswegen – gerade deswegen – für diese Suche, für diese Suchbewegung, Orientierung brauchen – einen Kompass, um beim Hafen und der Seefahrt zu bleiben –, das wird jedenfalls niemand bestreiten.

Die Archäologie und ihre Erkenntnisse, die können durchaus dazu beitragen. Das wird diese klug inszenierte Ausstellung mit ihren verschiedenen Themenfeldern Ihnen allen zeigen.

Ein Gedanke zum Schluss: Die Hafenanlagen Kölns wurden im Zuge des Kölner U-Bahn-Baus 2007/2008 gefunden. Ein Zufall, von dem die Archäologie ja oft lebt.

Dass dieser archäologische Zufall nicht zum Glücksfall wurde, hängt dann mit der weiteren Entwicklung des Bauvorhabens zusammen. Wir wollen nicht vergessen, dass im Zusammenhang mit dem weiteren Verlauf dann 2009 auch Menschen gestorben sind als das Kölner Stadtarchiv einstürzte, wodurch leider wertvolle Teile unseres kulturellen Erbes unrettbar verlorengegangen sind.

Was Archäologie, was Archiv- und Museumsarbeit bedeuten, welche unersetzbar wertvolle Arbeit all diejenigen leisten, die unser Erbe bergen, schützen, bewahren, restaurieren, auswerten, ausstellen, zum Sprechen bringen, was diese ganze Arbeit wert ist, das merken wir im Alltag oft nicht, sondern erst, wenn es solche prachtvollen Ausstellungen wie diese hier gibt.

Und wir merken es, wenn Teile dieses Erbes unrettbar verloren gehen. Bei anderer Gelegenheit, Herr Parzinger, Frau Fless, haben wir über Untergang und Zerstörung des bedrohten Kulturerbes des Mittleren Ostens gesprochen, natürlich besonders in Syrien. Und ich freue mich, dass sich gerade auch die deutsche Archäologie bemüht – mit anderen zusammen –, wenigstens das Wissen über das kulturelle Erbe dieses Raumes zu erhalten und hoffentlich an kommende Generationen weitergeben zu können. Heute geht – wenn ich bei dem internationalen Blick bleiben darf – unser Blick von Trauer und Anteilnahme auch nach Rio de Janeiro, wo vor kurzem das Nationalmuseum Brasiliens vollständig ausgebrannt und damit ein riesiger Teil des kulturellen Erbes des lateinamerikanischen Kontinents unwiederbringlich verloren gegangen ist, darunter auch die Erinnerung an viele indigene Sprachen, deren Zeugnisse nur noch in diesem Museum aufbewahrt worden sind.

An solchen nicht wieder gut zu machenden Verlusten erkennen wir, welch große Aufgabe und welch wichtigen Dienst unsere Archäologen wahrnehmen, unsere Museumsleute, unsere Ausstellungsmacher und Kuratoren: Alle, die sich um die Bewahrung und Erschließung unseres Erbes mühen.

Diese Ausstellungseröffnung gibt mir die Möglichkeit, ihnen allen unseren großen Dank auszusprechen. Orientierung in bewegten Zeiten kommt auch – ich wiederhole es – durch die Arbeit, die sie für uns alle leisten.

Noch einmal: Herzlichen Dank, viel Erfolg. Und vor allen Dingen natürlich: viele Besucher für diese Ausstellung!