Eröffnung der Dialogveranstaltung "Deutschland spricht"

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 23. September 2018

Der Bundespräsident hat am 23. September bei der Dialogveranstaltung "Deutschland spricht" von ZEIT online eine Ansprache gehalten: "Das, was Sie heute tun – miteinander sprechen, frei von der Leber weg, aber respektvoll gegenüber dem Anderen, ganz ohne Überwachung und Zensur – ist eine kostbare, zivilisatorische Errungenschaft. Es ist Ausdruck dessen, was gut ist in unserem Land. Es ist etwas, um das uns viele Menschen in anderen Ländern dieser Welt zutiefst beneiden."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Gespräch mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Dialogveranstaltung "Deutschland spricht" von ZEIT online im Radialsystem in Berlin

Deutschland spricht! Wenn ich hier in den Saal schaue, dann ist der Veranstaltungstitel wahr geworden. Ich sehe Berliner und Zugereiste; Frauen und Männer; Junge und – sagen wir – Junggebliebene; Menschen unterschiedlicher Herkünfte und Lebenslagen.

Deutschland spricht – oder ich sollte besser sagen Deutschland spricht, denn erstmal gibt es Programm auf der Bühne und erst dann sind Sie alle dran – dieses Format mag für einige von Ihnen ein Vergnügen sein. Für viele ist es aber bestimmt auch ein Wagnis – ein echtes Experiment, für ein paar Stunden die Klischees und Komfortzonen, denen wir alle auf unterschiedliche Art und Weise anhängen, hinter uns zu lassen.

Deutschland spricht ist sehr bewusst ein ergebnisoffenes Format. Ich habe mich gefreut, als ich gefragt wurde, die Schirmherrschaft zu übernehmen, denn genau diese Offenheit brauchen wir: Den Versuch, Gesprächspartner zusammenzubringen, die sich im sonstigen Leben vielleicht nie begegnen würden – und die sich bestimmt nicht auf diese Art Dialog einließen, weil sie in ganz unterschiedlichen Lebenswelten und Meinungsspektren unterwegs sind. Umso mehr danke ich Ihnen allen für Ihr Kommen, und sage als Schirmherr: Herzlich willkommen!

Wie die Initiatoren und viele Teilnehmer heute hier, so treibt auch mich die Frage um, wie es um unsere Debattenkultur in Deutschland bestellt ist. Dabei geht es keineswegs um einen Selbstzweck, nicht um Knigge oder Kopfnoten. Es geht um die für unsere Demokratie grundlegende Frage, wie wir die Mauern, die zwischen unseren Lebenswelten entstanden sind, überwinden können.

Es geht um die Frage, ob wir uns in unseren Echokammern verschanzen wollen, in Filterblasen nur noch mit Gleichgesinnten kommunizieren, ob wir uns von Algorithmen am liebsten die eigene Meinung bestätigen lassen – oder ob es uns gelingt, den Dialog zu führen über Trennendes hinweg. Genau das versucht Deutschland spricht, und dafür bin ich allen Beteiligten und Partnern, und ganz besonders den Initiatoren bei ZEIT online, überaus dankbar!

Über Echokammern und Filterblasen reden wir nun schon recht lange; und offensichtlich wird es immer dringender, Gegenstrategien zu entwickeln. Denn die Fliehkräfte wirken lange nicht mehr nur in Internetforen, sondern auf offener Straße. Aus gesellschaftlichen Haarrissen sind tiefe Gräben geworden. Wir erleben Wut und Protest auf deutschen Straßen, hin- und herfliegende Empörungsfetzen, Hass und Gewaltausbrüche. Wir erleben Dauerempörung, eine sozialmoralische Rage, mit der Gruppen regelrecht gegeneinander in den Kulturkampf ziehen. Und wir erleben sogar, dass dabei die Existenzberechtigung des Anderen in Abrede gestellt wird – bis hin zur neuerdings wieder selbstbewusst vorgetragenen Verächtlichmachung unserer politischen Ordnung als System, eine Verächtlichmachung, die in der Regel nichts anderes ist als ein Frontalangriff auf die liberale Demokratie und ihre Institutionen.

Krawallprofis machen in immer mehr deutschen Städten Schlagzeilen. Chemnitz und Köthen haben uns in den letzten Tagen besonders beschäftigt. Aber es wäre unredlich, nur Ostdeutschland in den Blick zu nehmen. Und einseitig wäre es ebenso, den Blick nur nach rechts zu richten: Die Rauschschwaden über dem G20-Gipfel in Hamburg waren sicherlich auch kein Angebot zum respektvollen, ergebnisoffenen Dialog.

Natürlich – wenn auch nicht die einzige Erklärung – trägt die digitale Kommunikation ihren Anteil an Verrohung und Enthemmung. Ein Tag ohne Skandal gilt als verlorene Zeit. Eva Menasse hat kürzlich in einer Rede ein Psychogramm der Internetgesellschaft gezeichnet und dabei – ohne in simple Technikfeindlichkeit zu verfallen – recht lakonisch festgehalten: Da sich die Menschheit […] charakterlich nicht genauso exponentiell verbessert hat wie ihre Prozessoren, hat das die erwartbaren Folgen: Noch nie gab es so viel Lüge, Denunziation und sprachlich vervielfältigten Hass in der Welt. Ich glaube übrigens, es sind nicht einzelne Lügen oder gezielte Fehlinformationen, sondern es ist die schiere Überflutung, das tägliche Feuerwerk von Beschimpfungen und Beleidigungen, das die Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsäglichen immer weiter verschwimmen lässt, vor allem aber das moralische Immunsystem hoch beansprucht und erodieren lässt. Die Kommunikationsexplosion im Netz bedeutet jedenfalls nicht nur mehr Kommunikation –was an sich ja zu begrüßen ist–, sondern vor allem lauter, schriller.

Und so ist, online und offline, die Wirklichkeit dieser Tage viel zu oft – und da werden Sie vielleicht etwas dagegen setzen: Deutschland spricht nicht, Deutschland brüllt.

Die ZEIT greift in ihrem Titel diese Woche einen weiteren Aspekt dieser Entwicklung auf: Die wachsende Feindseligkeit zwischen den Lagern – eine Unversöhnlichkeit, die immer mehr zur Sprachlosigkeit wird, bis hin zur offensiven Kommunikationsverweigerung. Natürlich, Kommunikation mit Andersdenkenden ist anstrengend. Aber ihre Verweigerung ist das Ende der Kompromissfähigkeit. Die einen sagen: Mit denen rede ich doch nicht, da halte ich maximalen Abstand – das ist schließlich ein Zeichen. Die anderen fühlen sich bestärkt in ihrer Opferrolle, gern mit dem vermeintlich unschuldigen Satz: Das wird man doch mal sagen dürfen.

So kommt es, dass sich gefährliche Zuschreibungen verfestigt haben – ein vielfaches Wir gegen die Anderen, die aus Angst oder Überheblichkeit jede Berührung vermeiden. Hier die besorgten Bürger, dort die da oben. Hier die Klartextredner, dort die Gutmenschen. Und leider auch, obwohl wir in den letzten Jahren dachten, wir seien schon viel weiter: Hier die Deutschen und dort die Migranten. Nein, unser Land ist derzeit nicht in Vielfalt vereint. Eher scheint unser Land dieser Tage vielfach geteilt. Und das darf nicht so bleiben!

Ich will Ihnen nicht schon vor Beginn Ihrer Unterhaltungen schlechte Laune machen. Dafür sind Sie nicht hier, und ich übrigens auch nicht. Wir alle, Sie und ich, wollen die Mauern in unserer Gesellschaft nicht nur beschreiben, sondern wir wollen sie überwinden. Und dabei hilft Empörung über die Empörung der anderen vermutlich auch nicht weiter.

Es sind schon zu viele, die sich wohlfühlen im Schlechtreden unseres Landes. Ich finde, man kann und soll über Probleme sprechen, auch schreiben, ohne dabei möglichst das Maß völlig zu verlieren. Es gibt einen signifikanten Unterschied zwischen Schlaglöchern und Staatsversagen. Wenn das eine wie das andere scheinbar dieselben Empörungswellen auslöst, hat der Blick für das, was wichtig und was weniger wichtig ist, gelitten – um es vorsichtig zu sagen.

Ich glaube, dies ist der richtige Moment, um die Blickrichtung herumzudrehen. Für das Überwinden der Mauern wünsche mir einen anderen Ausgangspunkt: Lassen Sie uns gemeinsam beschreiben, was gut ist in unserem Land! Richten wir unseren Blick nicht ein ums andere Mal auf den Sturm der Empörung, sondern auf das, was verloren zu gehen droht in diesem Sturm! Machen wir uns bewusst, was die Eiferer, die Worte wie das System oder das Establishment als Kampfbegriffe im Munde führen, eigentlich infrage stellen!

Das ist, erstens, das schier unerschöpfliche Reservoir an Engagement für dieses Land, für diese Demokratie. Ich verrate Ihnen gern: Mein schönstes Privileg als Bundespräsident sind die unzähligen Begegnungen und Gespräche in allen Teilen Deutschlands, bei denen ich diese Engagierten treffe – in Vereinen und Initiativen, und übrigens auch in politischen Ämtern, von denen die allermeisten in diesem Land ehrenamtlich geleistet werden. 4.000 Ehrenamtliche – stellvertretend für Millionen – waren gerade erst vor zwei Wochen beim Bürgerfest in Bellevue zu Gast.

Zweitens, es sind Freiheit und Menschenwürde jedes einzelnen, die unser Grundgesetz schützt. Und es ist die aus der Freiheit erwachsende Vielfalt, die es auszuhalten gilt, ganz gleich wie eine gefühlte oder tatsächliche Mehrheit sich auch entscheiden oder empören mag.

Vielleicht lohnt in diesem Zusammenhang ja auch ein Blickwechsel auf die vielgescholtene Political Correctness, die ebenso, wie Eva Menasse sagt, zum Kampfbegriff geworden ist. Darauf herumzutrampeln ist richtiggehend schick geworden; sie für unterbliebene Debatten verantwortlich zu machen, wird mittlerweile Allgemeingut. Doch vielleicht geht es der Political Correctness ja nicht um Zensur des gerechten Volkszorns, sondern um das historisch gewachsene Bewusstsein, dass jeder, so anders er auch sein oder denken mag, zunächst einmal ein legitimer Gesprächspartner und ein Gegenüber ist, den es zu respektieren gilt. Vielleicht ist solche Rücksichtnahme, die als Political Correctness beschimpft wird, ja weniger Ausdruck von Feigheit, sondern schlicht Ausdruck gewachsener Zivilität.

Maßlosigkeit jedenfalls ist kein Ausweis für die Qualität einer Debatte. Wer andere herabwürdigt, bedroht, ihre Zugehörigkeit und Gleichberechtigung abspricht, zerstört die Gesprächsgrundlage, die er für sich selbst in Anspruch nimmt. Wo immer das geschieht und ganz gleich von wem, da muss das unseren deutlichen Widerspruch erfahren!

Drittens gilt es die Errungenschaften der Rechtsstaatlichkeit zu bewahren – die Unabhängigkeit der Gerichte und die Akzeptanz von Rechtsprechung, auch wenn sie einzelnen Bürgern und erst recht Regierungen nicht gefallen. Wenn auch Justiz politisiert wird, wenn gerichtliche Entscheidungen mit dem Verweis auf gefühlte Gerechtigkeiten angegriffen werden, geraten wir auf eine sehr schiefe Ebene, schneller als wir uns heute vorstellen können. Wer es nicht glaubt, schaue auf die Konsequenzen einer inzwischen hochpolitisierten Justiz in den USA.

Und viertens denke ich an etwas, das vielleicht am wichtigsten, jedenfalls einzigartig ist für diese Bundesrepublik Deutschland: unser sozioökonomisches Modell. Eine Marktwirtschaft, die nicht per se sozial ist, der aber der politische Auftrag eingeschrieben ist, die Balance zwischen wirtschaftlicher Vernunft und sozialer Gerechtigkeit unter sich verändernden Bedingungen immer wieder neu herzustellen. Das ist auch unserem Land nicht ausreichend gut, aber besser gelungen als vielen anderen. Doch die Aufgabe ist nie vollendet und sie verlangt weiterhin nach jener Fähigkeit zum Ausgleich über Gruppen und Interessen hinweg. Eine Bereitschaft und Fähigkeit, die in der lärmenden Unversöhnlichkeit verloren zu gehen droht. Ebenso wie mit diesem Sozialmodell ist es auch mit der Demokratie. Die Demokratie kennt keinen Endzustand. Sie bleibt unvollendet und braucht gerade deshalb das Engagement von Demokratinnen und Demokraten, ihre Bereitschaft zum Konflikt ebenso wie zum Kompromiss. Wenn das verloren geht, funktioniert Demokratie nicht mehr.

Das, was Sie heute miteinander tun, ist also weit mehr als ein Gegenentwurf zur Empörung. Das, was Sie heute tun – miteinander sprechen, frei von der Leber weg, aber respektvoll gegenüber dem Anderen, ganz ohne Überwachung und Zensur – ist eine kostbare, zivilisatorische Errungenschaft. Es ist Ausdruck dessen, was gut ist in unserem Land. Es ist etwas, um das uns viele Menschen in anderen Ländern dieser Welt zutiefst beneiden.

Und deshalb brauchen wir von dem, was Sie heute als Experiment versuchen, noch viel mehr und dauerhaft im ganzen Land: den Dialog mit Andersdenkenden! Die Bereitschaft, sich auf ein Gegenüber einzulassen, das andere Prägungen, andere Prämissen hat, und das im allerschlimmsten Fall vielleicht sogar recht haben könnte.

Ich weiß, dass das, was Sie heute miteinander vorhaben, natürlich noch nicht reichen wird, um die Mauern einzureißen, die zwischen Lebenswelten gewachsen sind. Aber es ist der erste und deshalb vielleicht auch gerade der schwierigste Schritt auf einem Weg, dessen Ziel immer noch die allermeisten in unserem Land teilen, nämlich Zusammenhalt und Zugehörigkeit zu stärken, gerade da, wo sie brüchig geworden sind.

In Zugehörigkeit, da steckt zweierlei: Zuhören nämlich und Gehört werden. Es liegt an uns, diesen Zusammenhang gerade jetzt zu erkennen und danach zu handeln.

Wir entscheiden, ob es uns ums Rechtbehalten oder um Lösungen geht.

Wir entscheiden, ob Lautstärke oder Vernunft die Währung des Diskurses ist; ob das politische Gegenüber ein würdiger Wettbewerber ist oder erbitterter Feind.

Wir entscheiden, wie Deutschland heute spricht und deshalb auch darüber, wie Deutschland morgen sein wird.