40 Jahre UNESCO-Weltkulturerbe Aachener Dom

Schwerpunktthema: Rede

Aachen, , 24. September 2018

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 24. September beim Festakt zum 40. Jahrestag des UNESCO Weltkulturerbes Aachener Dom im Rathaus der Stadt Aachen eine Ansprache gehalten: Ein wirklich kostbares und lebendiges Kulturerbe ist ein Erbe, das man nicht katalogisieren oder gegen Eintritt bestaunen oder fotografieren kann, sondern eines, das aus tiefer Vergangenheit noch etwas in unsere Gegenwart hineinruft. Etwas, das gültig bleibt über Epochen hinweg.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede beim Festakt zum 40. Jahrestag des UNESCO Weltkulturerbes Aachener Dom in Aachen

Erst vor wenigen Monaten haben Sie mich hier in Aachen willkommen geheißen. Wenn der Bundespräsident innerhalb eines halben Jahres zweimal an einen Ort kommt, dann muss das etwas Besonderes sein. Aachen ist besonders. Wegen seiner warmen Quellen natürlich, die schon Karl so schätzte, wegen seiner Lage im Dreiländereck, wegen seines weltbekannten Springreitens auch, aber vor allem natürlich durch seinen Dom, durch den ich beim vorigen Mal so ausführlich geführt worden bin.

Ich bin froh, über den intensiven Einblick, den wir im März hier bekommen haben, bei der Führung im Dom, weil ich glaube, ohne diesen tiefen Einblick hätte ich gar nicht ermessen können, mit wie viel Recht der Aachener Dom vor 40 Jahren als das erste Bauwerk auf deutschem Boden in das UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen wurde. Aber nicht nur das. Der Aachener Dom ist auch in anderer Hinsicht der erste:

Jede unserer großen Kathedralen und Dome ist eine eigene – man kann fast sagen – Persönlichkeit. Alle sind irgendwie unverwechselbar. Ob der Kölner Dom oder der zu Mainz, ob das Essener Münster oder das zu Freiburg, ob der Naumburger oder der Erfurter Dom: Keiner dieser großen Kirchenbauten ist wie der andere – und doch haben sie natürlich Gemeinsamkeiten, und vor allem eine, wie ich finde.

Ich glaube, in einem gewissen Sinne, mit ein bisschen Mut zur historischen Zuspitzung, kann man sagen: Sie sind alle in gewisser Weise Kinder Aachens. Oder: Sie sind so, wie sie sind, wohl nicht denkbar ohne Aachen, ohne das, wofür sein Dom und die Pfalz, zu der er einst gehörte, tatsächlich stehen.

Denn vor allem hier formulierte Karl der Große seinen Anspruch, das Erbe des Römischen Reiches anzutreten. Die Pfalz und die Marienkirche, der spätere Dom, alles das sind steinerne Zeugnisse dieses Anspruchs. Sie sagen: Wir hier, wir sind die wahren und legitimen Erben Roms, des Römischen Reiches. Des christlich gewordenen Reiches versteht sich, nach Konstantin, dem ersten christlichen Kaiser. 

Eigentlich müsste man es also hier mit gemischten Gefühlen gesehen haben, dass eine fremde Institution, die UNESCO, wie nobel und hochangesehen auch immer, sich die Kompetenz herausgenommen hat, Aachen ins Weltkulturerbe aufzunehmen. UNESCO Hin oder Her: Ist nicht der Aachener Dom höchstselbst paradigmatisch für das, was erst sehr viel später Weltkulturerbe genannt wurde? Sozusagen der Aachener Dom als das Modell, das Pate stand für die Vorstellung, dass ein historisch kultureller Bestand überhaupt als Erbe angeeignet werden kann.

Und in der Tat, die Idee eines bewusst angetretenen Kulturerbes: Wo in der Welt wäre sie früher und aktiver in die Welt gesetzt worden als eben hier? Dennoch wäre es ein Missverständnis, wenn man Aachen nur als Verkörperung von historischer Kontinuität sähe. Eher ist Aachen etwas wie ein weltgeschichtliches Scharnier: Auf der einen Seite Empfängerin und Hüterin eines großen Erbes und gleichzeitig selber wieder Beginn einer neuen Epoche. Der Aachener Dom ist mit seiner Architektur, mit den antiken Elementen, die Karl der Große zum Teil wohl aus Trier oder Ravenna oder Rom herbeiholen ließ, ein einziges Zeugnis ebenso demütiger wie selbstbewusster kultureller Erbschaft.

Die Antike stand Modell, und das nicht nur in der Architektur, sondern auch für das politische Wirken Karls des Großen und seiner Nachfolger. Warum? Darüber gibt es Vermutungen und darüber haben Historiker auch lange gestritten oder mindestens Unterschiedliches geschrieben. Am wahrscheinlichsten scheint mir, dass es der große Kulturbruch war, der unerhörte Kulturbruch, den das westliche Europa im Zuge der Völkerwanderung erlitten hat. Es war viel zu tun: Verwaltung, Recht, Bildungswesen, weltliche und kirchliche Infrastruktur. Alles musste erneuert werden.

Erneuerung, nicht Verwahrung der Asche. Erneuerung ist, wenn Sie so wollen, die entscheidende Pointe dieser sogenannten karolingischen Renaissance und des Maßnehmens an der Antike: Hier wurde nicht das Alte restauriert, hier wurde nichts musealisiert. Man sagte zwar restitutio, also Wiederherstellung, man orientierte sich an Maß und Formen der Antike, aber in Wirklichkeit wurden ganz neue Wege beschritten, die zu jener Gegenwart und den damaligen Problemen passten.

Die besten Gelehrten seiner Zeit waren gerade gut genug, um mit Karl und den Seinen die Gegenwart und Zukunft zu gestalten. Das antike Erbe mit seinen besten Seiten lebendig werden zu lassen, um der Zukunft willen – das ist, wenn Sie wollen, so etwas wie das Strukturprinzip der karolingischen Reform.

Nur so konnte Aachen selber – oder das, wofür Karl und sein Aachen damals standen –, nur so konnte Aachen selber den Keim bilden, der in den nächsten Jahrhunderten die Gestalt eines neuen Europas annehmen ließ. Aachen steht also für ein selbstbewusst angetretenes Erbe, das selber wiederum vieles ermöglichte, für vieles Neue die Grundlage gelegt hat, für vieles, von dem wir heute noch leben.

Gerade dessen ist man sich hier in Aachen – Gott sei Dank – besonders bewusst. Darum wird hier jedes Jahr der Karlspreis an besonders verdiente Europäer verliehen. Das ist aber jedes Jahr auch eine Erinnerung daran, dass Europa nie vollendet sein wird, sondern immer neu und immer weiter ins Werk gesetzt werden muss. Natürlich wird das Europa von morgen eine andere Gestalt haben als das von heute und erst recht als das von Karl dem Großen.

Aber eines bleibt heute und morgen gleich und ist heute und morgen vermutlich gleich notwendig: Der Wille zur Einheit nämlich, das Ringen um gemeinsame Werte und Überzeugungen, die gemeinsame Anstrengung hoffentlich für ein friedliches Zusammenleben hier in Europa. Und auch das: die gemeinsamen Mühen um Bildung, Wissenschaft und Fortschritt. So wie es Franken und Sachsen eines Tages dämmerte, dass sie Europäer sind, so sollten auch wir Deutschen, wir Franzosen, aber auch wir Polen, wir Ungarn, wir Italiener das immer wieder als Verheißung entdecken – eigentlich sollte ich sagen: als eine Pflicht.

Was heißt also Kulturerbe in diesem Sinn? Es heißt: Eine Vergangenheit ist nie nur vergangen. In ihr steckt, wie Ernst Bloch gerne gesagt hat, viel Unabgegoltenes, viel Verheißung, die sich noch nicht erfüllt hat. Und viel Kostbares, das wiederentdeckt und fruchtbar gemacht werden kann für Gegenwart und Zukunft. Ein wirklich kostbares und lebendiges Kulturerbe ist ein Erbe, das man nicht katalogisieren oder gegen Eintritt bestaunen oder fotografieren kann, sondern eines, das aus tiefer Vergangenheit noch etwas in unsere Gegenwart hineinruft. Etwas, das gültig bleibt über Epochen hinweg.

Insofern, und nur insofern, kann eben auch ein Blick zurück gelegentlich Maßstab und Orientierung geben für den Weg nach vorn.

Ein Gedanke zum Schluss, der mir wichtig ist und der nicht fehlen darf, hier in Aachen. Bei aller Begeisterung für seine tatsächlich herausragende kulturelle Bedeutung: Zuerst und zuletzt ist der Aachener Dom eine Kirche, in der gläubige und suchende Menschen seit mehr als tausend Jahren ihre Bitten, ihren Dank, ihren Kummer, ihre Sorgen, ihr Lob und ihre Freude vor Gott getragen haben. Zwölfhundert Jahre Liturgie und Gesang, wenn Sie so wollen: Seufzen und Jubel: Das spürt man in alten Kirchen, und hier spüren wir, wie sehr die Geschichte Europas eben auch eine Glaubensgeschichte ist – mit allen großartigen spirituellen Aufschwüngen, und natürlich auch mit schrecklichen Verirrungen. Für die positive Macht des Glaubens steht mir die Geschichte der Aachener Heiligtumsfahrt von 1937 vor Augen. Sie ist ein Beispiel dafür, wie der gelebte Glaube ein Zeugnis der Menschlichkeit ablegen kann gegen Diktatur und Terror und gegen die Selbstvergötzung des Menschen. Sage keiner, wir hätten ein solches Zeugnis in der Gegenwart nicht nötig.

Vielen Dank.