Festakt "100 Jahre Finanzgerichtsbarkeit in Deutschland"

Schwerpunktthema: Rede

München, , 1. Oktober 2018

Der Bundespräsident hat am 1. Oktober bei dem Festakt "100 Jahre Finanzgerichtsbarkeit in Deutschland" eine Ansprache gehalten: "Eine 'illiberale Demokratie' ist ein Widerspruch in sich. Herrschaft in der Demokratie, Herrschaft der Mehrheit, ist eben nicht unbeschränkt, sie ist durch Recht gebunden, und sie erschöpft sich auch nicht in plebiszitärer Akklamation ohne Rechtsstaat und ohne Minderheitenschutz, wie einige das offenbar inzwischen gerne hätten. Demokratie ist entweder liberal oder sie ist keine Demokratie."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede bei der Festveranstaltung '100 Jahre Finanzgerichtsbarkeit in Deutschland' im Cuvilliés Theater der Residenz München

In dieser Welt ist uns nichts sicher: außer der Tod und die Steuern. Benjamin Franklin wird dieser Aphorismus zugeschrieben, der jedenfalls an diesem Gericht nur allzu bekannt sein dürfte. Er verdeutlicht unnachahmlich, welchen Stellenwert Steuern für die Bürgerinnen und Bürger eines Staates haben, aber auch, dass ohne Steuern seit jeher kein Staat zu machen ist. Wenn wir heute hier in München als Jubiläum die 100. Wiederkehr der Einführung einer Finanzrechtsprechung in Deutschland feiern, so können wir das nicht, ohne uns klar zu machen: Steuern gehören zu denjenigen Bereichen staatlicher Hoheitsgewalt, in denen ein Staat den Menschen besonders eindringlich, nämlich mit Befehl und Zwang gegenübertritt. Die Einhegung staatlicher Hoheitsgewalt durch ihre Bindung an Recht und Gesetz sowie die Kontrolle staatlicher Machtausübung durch unabhängige Gerichte ist eine besondere zivilisatorische und kulturelle Leistung. Diese Leistung hat in Deutschland eine längere Tradition: Ich erinnere nur an das Kreuzbergurteil des Preußischen Oberverwaltungsgerichts aus dem Jahre 1882. Es wird heute trotz nostalgischer Verklärung als juristische Bestätigung des bürgerlichen Rechtsstaats gesehen, der sich politisch im Laufe des 19. Jahrhundert durchgesetzt hatte. Maßgebliche Ideen des Rechtsstaats – gesetzliche Grundlage und Begrenzung, Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit von staatlichen Eingriffen und Rechtsschutz durch Gerichte – finden hierdurch ihre Bestätigung. Rechtsstaat heißt so vor allem: Bindung an das Gesetz, Rechtssicherheit und Schutz vor dem Staat.

In dieser Tradition steht auch die Einführung der Finanzgerichtsbarkeit vor 100 Jahren. Zwar hatte bereits das Reichskammergericht seit dem 15. Jahrhundert Streitigkeiten geschlichtet, die die allgemeine Reichssteuer betrafen. Und mit der Einführung einer Verwaltungsgerichtbarkeit in den deutschen Ländern im 19. Jahrhundert gab es in gewissem Umfang auch Rechtsschutz gegen Steuerverwaltungsakte. Aber einen spezifischen Rechtsschutz in steuerrechtlichen Fragen gibt es erst, seit der Reichsfinanzhof am 1. Oktober 1918 – noch vor Ausrufung der Republik – seine Arbeit aufnahm. Obwohl noch im Kaiserreich konzipiert und ins Werk gesetzt, war die Einführung einer Finanzgerichtsbarkeit – entgegen jedem Verdacht – nicht Ausdruck von obrigkeitsstaatlichem Denken. Vielmehr stand hier tatsächlich der Rechtsschutz des Einzelnen im Mittelpunkt des Vorhabens. Es heißt in einer Quelle: Die Steuerpflichtigen sollten vor übermäßiger steuerlicher Beanspruchung in Schutz genommen werden, die mit neuen Reichssteuern als Folge der militärischen Ausgaben im 1. Weltkrieg drohten.

Trotzdem: "100 Jahre Finanzgerichtsbarkeit in Deutschland" – ein solches Jubiläum wirft Fragen auf. Wir feiern ja nicht den 100. Geburtstag eines Gerichts! Seine Arbeit nahm am 1. Oktober 1918 der Reichsfinanzhof auf, in den letzten Tagen des Kaiserreichs. Und heute residiert im Fleischerschlösschen in München der Bundesfinanzhof. Schon die beiden unterschiedlichen Namen verdeutlichen: Nicht nur 100 Jahre Steuerrechtsprechung spiegeln sich in diesem Jubiläum, sondern auch 100 Jahre wechselvolle deutsche Geschichte.

Wenn wir heute die finanzgerichtliche Rechtsprechung würdigen, dürfen wir über die Brücke dieser Entwicklung nicht hinweggehen und die dunkle Zeit der nationalsozialistischen Jahre nicht verschweigen. Nachdem der Reichsfinanzhof in den 1920er-Jahren seiner Rolle gerecht wurde, im Steuerrecht eine selbstbewusste, unabhängige Kontrollinstanz zu sein, wurde er nach 1933 in das nationalsozialistische Herrschaftssystem eingeordnet. Sein international angesehener Präsident Herbert Dorn, der zu den Gründervätern des Internationalen Steuerrechts gehört, wurde auf der Grundlage des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums am 31. März 1934 in den Ruhestand versetzt. Schmuckloser hätte das Entlassungsschreiben nicht sein können: Es sollte die Ächtung Herbert Dorns deutlich machen. Herbert Dorn gelang die Flucht ins Exil und überlebte die nationalsozialistische Gewaltherrschaft. Zwei weitere Richter des Reichsfinanzhofs wurden deportiert – Rolf Grabower und Franz Oppens. Franz Oppens kehrte aus Auschwitz nicht zurück.

Bei der Vorbereitung meiner heutigen Rede habe ich gelernt, dass es zwar vereinzelte wissenschaftliche Arbeiten, aber keine umfassende wissenschaftliche Untersuchung zur Tätigkeit des Reichsfinanzhofs unter der nationalsozialistischen Herrschaft gibt. Wäre es nicht gut, diese Lücke jetzt zu schließen? Und auf diese Weise zu zeigen, dass und wie die Nationalsozialisten das Recht – auch das Finanz- und Steuerrecht – als Diskriminierungsinstrument nutzten! Sebastian Haffner schildert in seiner Geschichte eines Deutschen eindrucksvoll die Atmosphäre, die er als Referendar in diesen Tagen erlebte, als SA-Leute mit den Worten Nichtarier haben sofort das Lokal zu verlassen in die Bibliothek des Berliner Kammergerichts eindrangen und die anwesenden Referendare, Richter und Anwälte die Räumung des Gerichts nahezu protestlos hinnahmen. Als ich das Kammergericht verließ, so schreibt Sebastian Haffner, stand es grau, kühl und gelassen da wie immer, vornehm abgerückt von der Straße hinter seinen Parkbäumen. Man sah ihm keineswegs an, daß es soeben als Institution zusammengebrochen war.

Auch das Steuerrecht, die Steuerbehörden und Finanzgerichte blieben von dieser nationalsozialistischen Vereinnahmung nicht verschont. Das Steuerrecht wurde zum Instrument, um insbesondere die jüdischen Mitbürger finanziell auszuplündern. Finanzbehörden und -gerichte hatten bei der Beurteilung steuerrechtlicher Tatbestände die nationalsozialistische Weltanschauung zu Grunde zu legen – so die gesetzliche Anordnung aus § 1 Abs. 1 des Steuerrechtsanpassungsgesetzes von 1934. Hier fand sich eine gesetzliche Grundlage zu der – wie Bernd Rüthers es genannt hat – unbegrenzten Auslegung, mithilfe derer nationalsozialistische Juristen in allen Rechtsgebieten Rechtsvorschriften ideologisierten, das Recht dem nationalsozialistischen Machtanspruch dienstbar machten und damit den Weg zu seiner willkürlichen Anwendung ebneten. Steuerliche Vorschriften wurden so auch durch den Reichsfinanzhof zulasten und zum Nachteil jüdischer Mitbürger ausgelegt und angewendet. Die Steuerangelegenheiten anderer, dem Regime missliebiger Personen oder Einrichtungen – etwa Kirchen, Religionsgemeinschaften und geistliche Orden – wurden ebenso zum Instrument der Unterdrückung und Diskriminierung. Hierzu finden sich in der instruktiven Ausstellung des Bundesfinanzhofs im Fleischerschlösschen bedrückende Beispiele.

Wenn wir uns an diesen Teil der deutschen Justizgeschichte heute erinnern, müssen wir feststellen: Dieses Geschehen ist so fern – aber manches auch wieder nah, wenn ich an aktuelle Debatten über Anfechtungen der Demokratie heute denke.

Damals war mit der Weimarer Reichsverfassung gerade ein demokratisch organisiertes Staatswesen eingerichtet worden, sie verfügte über einen Grundrechtsteil, sie kannte die Unabhängigkeit der Richter – die Weimarer Verfassung war in ihrer Zeit eine durchaus moderne Verfassung. Trotzdem wurden all ihre Sicherungen und Garantien binnen kurzer Zeit außer Kraft gesetzt und die parlamentarische Demokratie radikal beseitigt. Zu dünn war die demokratische Humusschicht. Weimar, eine Demokratie mit nur wenigen Demokraten – und daran ist sie gescheitert.

Geschichte wiederholt sich nicht – hoffen wir –, gleichwohl können wir aus ihr lernen. Auch heute leben wir in einer Zeit, in der zumindest der Eindruck entstehen kann, dass die Demokratie in Teilen der Bevölkerung nicht sonderlich tief verankert scheint. Vielen Menschen scheint das Bewusstsein dafür abhandengekommen zu sein, dass der demokratische Rechtsstaat nicht vom Himmel gefallen und nicht auf ewig garantiert ist. Viele wollen nicht wissen oder ignorieren es, dass er nur dann eine Zukunft hat, wenn sich Demokraten für seinen Erhalt und seine Zukunft engagieren.

Mir fällt in der aktuellen Diskussion auf: Es wird schon gar nicht mehr hinterfragt, wenn Demokratie in Artikeln neuerdings als Oberbegriff für unterschiedliche Formen von liberaler und illiberaler Demokratie genommen wird.

Das ist bei uns in Deutschland so, aber bedauerlicherweise auch bei unseren nächsten Nachbarn in Europa. Hier wie dort hat man aus leidvollen Erfahrungen auf rechtsstaatliche Sicherungen gesetzt – bei uns als Konsequenz aus der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, bei vielen Nachbarn nach 1990 als Abkehr von der kommunistischen Herrschaft. Verfassungs- und Rechtsbindung, gerichtliche und verfassungsgerichtliche Kontrolle staatlichen Handelns, auch des Gesetzgebers, sind heute wieder unterschätzte zivilisatorische Errungenschaften. Sie dämmen die willkürliche Ausübung staatlicher Macht ein und zähmen sie. Als Sicherungen sind sie völlig unverzichtbar, weil sie ein Wesenskern des freiheitlichen Rechtsstaats sind. Aber es macht den Eindruck, wie jüngst die Vizepräsidentin des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geschrieben hat, als sei der Grundkonsens zu Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten in Europa brüchig geworden.

Denn die liberale Demokratie und der Rechtsstaat werden in einigen Ländern in Frage gestellt, Strukturen und rechtliche Sicherungsmechanismen werden stark eingeschränkt oder gar beseitigt. Regierungen mit autoritärem Anspruch beschneiden oft als einen der ersten Schritte die Unabhängigkeit der Gerichte, schränken Grundrechte und rechtsstaatliche Maßstäbe ein und ersetzen unabhängige Amtsträger durch willfährige. Konjunktur hat in manchen Teilen Europas die Vorstellung einer illiberalen Demokratie, eines Systems, in dem zumindest die Werte der liberalen Demokratie kein zentrales Element der staatlichen Organisation mehr sein sollen. Wer das für übertrieben hält, dem empfehle ich die Lektüre der Rede von Victor Orbán an der Sommeruniversität Bálványos im Juli dieses Jahres. Aber: Eine illiberale Demokratie ist ein Widerspruch in sich. Herrschaft in der Demokratie, Herrschaft der Mehrheit, ist eben nicht unbeschränkt, sie ist durch Recht gebunden, und sie erschöpft sich auch nicht in plebiszitärer Akklamation ohne Rechtsstaat und ohne Minderheitenschutz, wie einige das offenbar inzwischen gerne hätten. Demokratie ist entweder liberal oder sie ist keine Demokratie. Ich wiederhole, was ich bereits am vergangenen Mittwoch in Frankfurt gesagt habe: Wir sollten den Begriff der Demokratie wieder schärfen und dürfen ihn weder in Europa noch bei uns in Deutschland denjenigen zur Manipulation überlassen, die illiberale oder autoritäre Ziele verfolgen.

Es muss uns große Sorgen bereiten, wenn in Europa Meinungs- und Pressefreiheit rechtlich behindert oder faktisch ausgeschaltet werden; wenn in Europa die Unabhängigkeit der Justiz eingeschränkt wird. Dies geschieht, indem die Zuständigkeiten von Verfassungsgerichten beschnitten und Verfassungsgerichte neutralisiert werden, indem die Zahl der Richter erhöht und die neuen Stellen mit Parteigängern besetzt werden. Oder anderes Beispiel: Richter werden durch einfache Verfügungen des Justizministers ihres Amtes enthoben und an ein Gericht niedrigerer Instanz oder gleich in den Ruhestand versetzt. Oder die Altersgrenze von allen Richtern wird herabgesenkt, so dass eine ganze Generation ausscheidet. Oder wenn Regierungen in Aussicht stellen, nicht genehme Urteile des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg in Zukunft zu ignorieren.

Für alle Fallgestaltungen haben wir leider Beispiele in der jüngsten Justizpolitik europäischer Mitgliedstaaten. Ich reihe mich nicht ein in den Kreis derjenigen, die täglich den Abgesang auf die liberale Demokratie des Westens anstimmen. Man kann sich auch in Endzeitstimmungen hineinreden und -schreiben. Aber feststellen sollten wir:

Es gibt Tendenzen, die im Gegensatz zu den Errungenschaften unserer freien Gesellschaften und Staaten stehen. Wir müssen erinnern: Das liberale westliche Demokratiemodell, wie es den europäischen Rechtskulturen zugrunde liegt, ist der gemeinsame Grund. Europa ist eine Rechtsgemeinschaft – sie steht für Gewaltenteilung, Rechtsstaat, Minderheitenschutz, Grundrechtsgeltung und: unabhängige Gerichte. Und das gilt es zu bewahren – überall in Europa!

Aber der Blick ins europäische Ausland darf kein überheblicher Blick sein und sollte nicht davon abhalten, sensibel auf Veränderungen im eigenen Land zu schauen. Wir sollten aufmerken, wenn sich die Exekutive über eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hinwegsetzt; wenn Verwaltungsgerichte ausgebremst und vor vollendete Tatsachen gestellt werden, bevor sie entscheiden können; wenn Gerichte laut über die Anwendung von Zwangsmitteln gegenüber Behörden zur Durchsetzung ihrer Entscheidungen nachdenken müssen, wie es der Bayerische Verwaltungsgerichtshof kürzlich in einem Verfahren getan hat.

Es mögen nur Einzelfälle sein, und jeder für sich allein – im Vergleich zum europäischen Ausland – sicher nicht so schwerwiegend. Mit anderen Worten: Es sind Beispiele für eine Tendenz, die noch kein Grund für Alarmismus sind. Sensibilität für alle Formen einer Schwächung der Autorität der Justiz ist dennoch angezeigt – ein Effekt, der möglicherweise noch verstärkt wird, wenn vereinzelt Politik von den Gerichten fordert, sie sollten bei ihren Entscheidungen auf das Rechtsempfinden der Bevölkerung Rücksicht nehmen. Das Grundgesetz ist da eigentlich klar und unmissverständlich: Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen. Kürzer und eindeutiger geht es nicht! Ich habe schon bei meinem Treffen mit den Verfassungsgerichtspräsidenten des Bundes und der Länder am 4. Mai in Schwetzingen und anlässlich des letzten Richterwechsels am Bundesverfassungsgericht darauf hingewiesen: Vertrauen in die Justiz und in den Rechtsstaat sind nicht nice to have. Rechtstreue und Rechtsgehorsam sind die Basis für unser friedliches Zusammenleben. Aber wir sollten wissen: Vertrauen muss immer wieder neu erarbeitet und bestätigt werden. Gerade wenn öffentliche Stellen Urteile ignorieren, trägt dies nicht dazu bei, das Vertrauen der Bürger in den Staat und seine Institutionen insgesamt zu festigen. Und dieses Vertrauen ist nicht leicht zu erringen: Ernst-Wolfgang Böckenförde hat mit seinem allzu bekannten Satz darauf hingewiesen, dass der säkulare Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen kann. Vielleicht ist es auch das Schwinden dieser Voraussetzungen, das es Populisten bei uns und bei unseren Nachbarn leicht macht, mit dem Kampf gegen das Etablierte, in das ein Bestand von common sense eingeschrieben ist, Anhänger um sich zu scharen und für die Verächtlichmachung demokratischer und rechtsstaatlicher Institutionen Zustimmung zu erhalten. Das kann uns nicht gleichgültig lassen. Die Intaktheit der rechtsstaatlichen Institutionen und der Respekt vor gerichtlichen Entscheidungen gehören zu den Kernvoraussetzungen einer funktionierenden Demokratie. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts hat es vor wenigen Tagen auf dem Juristentag auf den Punkt gebracht: Jede Investition in den Rechtsstaat ist auch eine Investition in die Demokratie. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Ich könnte versucht sein, in diesem Zusammenhang am Ende noch den Streit über Nichtanwendungserlasse im Steuerrecht anzusprechen – eine Streitfrage seit der Einrichtung einer eigenen Finanzgerichtsbarkeit. Aber hierüber streiten Berufenere als ich. Jedenfalls wurde der Bundesfinanzhof im Bewusstsein errichtet, nicht Gehilfe der Finanzverwaltung oder gar des Bundesfinanzministeriums zu sein. Er nahm an der Stelle des bereits 1945 errichteten bayerischen Obersten Finanzgerichts im Herbst 1950 als erstes Oberstes Bundesgericht seine Arbeit auf. Seither erfüllt er seine Aufgabe, die Rechtspositionen auch der Steuerpflichtigen zu schützen – im Einzelfall und durch Kontrolle über die gleichmäßige Anwendung bestehender steuerrechtlicher Vorschriften.

Und auch neuen Entwicklungen ist der Bundesfinanzhof nicht aus dem Wege gegangen: Das Europarecht und seine Vorgaben hatten Bundesfinanzhof und Finanzgerichtsbarkeit nicht nur zu berücksichtigen, sondern – wenn nachhaltige Zweifel angezeigt waren – auch im Hinblick auf Vereinbarkeit mit sonstigem Recht und Europarecht zu überprüfen. Ich sage das, weil Bundesfinanzhof und Finanzgerichte zu den Gerichten gehören, die besonders vorbildlich sind, wenn es um Vorlagen an den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg geht.

Das alles ist gut, aber eben nicht selbstverständlich! Dass mit der Finanzgerichtsbarkeit eine spezielle Fachgerichtsbarkeit errichtet wird, die sich vor allem mit der Belastung der Bürgerinnen und Bürger durch Steuern und auch wirtschaftlich höchst relevanten finanzrechtlichen Fragen auseinandersetzt, ist vergleichsweise selten: Viele Staaten organisieren die Rechtskontrolle von steuerrechtlichen Belastungen der Individuen im Rahmen anderer Gerichtszweige – meist der Verwaltungsgerichte. Sie alle wissen: Auch bei uns wurde immer wieder in der Vergangenheit laut darüber nachgedacht, die Finanzgerichtsbarkeit mit anderen Gerichtszweigen zusammenzufassen. Sehen wir einmal davon ab, dass dazu möglicherweise eine verfassungsändernde Mehrheit notwendig wäre, habe ich es immer auch für ein Gebot der Klugheit gehalten, die Finanzgerichtsbarkeit als eigenen Gerichtszweig zu erhalten. Und wenn Gedankenspiele über Zusammenlegung selten geworden sind, dann auch, weil anerkannt wird, dass unser Steuerrecht inzwischen ein hochkomplexes Rechtsgebiet ist und sich so weitgehend verselbstständigt hat, dass Details nur noch von erfahrenen Fachleuten wie Ihnen samt der spezialisierten Anwaltschaft durchdrungen werden kann.

Ich bin sehr gerne heute nach München gekommen, um dieses Jubiläum mit Ihnen zu feiern, ein Jubiläum, das gleichzeitig ein Spiegel von 100 Jahren deutscher Geschichte ist. Aber auch, weil ich mit meinem Besuch meine große Wertschätzung für die Arbeit Ihrer Gerichtsbarkeit zum Ausdruck bringen kann und möchte. Kurz: Gäbe es die eigenständige Finanzgerichtsbarkeit nicht, man müsste sie erfinden! Ich wünsche Ihnen eine schöne Feier und gutes Gelingen für die nächsten 100 Jahre.

Herzlichen Dank!