Verleihung der Ehrendoktorwürde der Juristischen Fakultät der Universität Athen

Schwerpunktthema: Rede

Athen/Griechenland, , 11. Oktober 2018

Der Bundespräsident hat am 11. Oktober bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Athen eine Ansprache gehalten: "In Demokratien entscheiden Mehrheiten. Das ist gut und richtig so. Die Demokratie, die unter anderem hier in Athen ihren Anfang nahm, gehört zum kostbaren Erbe Europas. Aber genauso gehören zum Erbe Europas der Einspruch und der Widerspruch des Einzelnen gegen die Mehrheit. Zum Erbe Europas gehört die Wertschätzung des Individuums, die Würde des Einzelnen und die Achtung vor dessen Gewissen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Juristischen Fakultät der Universität Athen anlässlich des Staatsbesuchs in der Hellenischen Republik

Eine Ehrendoktorwürde hier in Athen, das ist schon etwas sehr Besonderes. Wir alle wissen zwar, dass die europäische Universität, wie wir sie kennen, in den mittelalterlichen Geisteszentren Paris, Oxford und Bologna entstand, und dass sie erst im 19. Jahrhundert von Wilhelm von Humboldt gründlich reformiert und in dieser Form international zum Vorbild geworden ist.

Aber doch liegt die Wurzel aller akademischen Bildung, aller akademischen Wissensvermittlung und aller akademischen Suche nach Erkenntnis und Wahrheit letztlich in einer Idee, die hier in Athen geboren und die als Institution von Platon gegründet wurde, seiner Akademie. Wie wirkmächtig das bis heute ist, zeigt allein schon das Wort Akademie, das seitdem in vielen Sprachen für so viele anspruchsvolle Bildungseinrichtungen weltweit verwendet wird. Auf diese alten, aber Europa immer noch prägenden Zeiten werde ich am Ende noch einmal zu sprechen kommen.

Aber zunächst will ich deutlich gestehen, dass ich sehr bewegt bin. Denn mit dieser akademischen Auszeichnung, ausgerechnet hier in Athen, erweisen Sie mir eine hohe Ehre, für die ich persönlich zutiefst dankbar bin.

Diese Geste heute kann allerdings nicht nur mir als Person gelten. Als deutscher Bundespräsident repräsentiere ich das Land, in dem ich zum Staatsoberhaupt gewählt wurde. Und so verstehe ich das Ehrendoktorat der Universität in Griechenlands Hauptstadt auch als eine Auszeichnung, die mir in eben diesem Amt als Präsident der Bundesrepublik Deutschland zugedacht wird, auch als eine Geste gegenüber meinem Land. Das schmälert meine persönliche Freude nicht – es verdoppelt sie!

Es ist ja auch in diesem Raum kein Geheimnis, dass es in den vergangenen Jahren nicht immer einfach war zwischen unseren beiden Ländern. Die Eurokrise und die damit einhergehenden Verhandlungen und Auseinandersetzungen haben zu tiefen Verletzungen und ernsten Verstimmungen geführt. Zum Teil sind gegenseitig alte Stereotype wiederbelebt worden. Stereotype, von denen wir alle miteinander geglaubt haben, dass sie schon überwunden sind. Das Deutschenbild der Griechen und das Griechenbild der Deutschen, beides hatte sich ernsthaft verzerrt oder verdunkelt.

Inzwischen ist vieles wieder besser. Wir sind viele Schritte aufeinander zugegangen und ich habe das Gefühl, wir können uns wieder freundlich und offen in die Augen sehen und ehrlich die Hand reichen.

Alle Deutschen, die sich politisch und kulturell für Griechenland interessieren und denen Europa am Herzen liegt, haben mit großer Anteilnahme verfolgt, wie Sie hier Ihren Weg der Reformen gegangen sind und weitergehen. Wir haben in Deutschland sehr wohl wahrgenommen, welche schweren Lasten viele griechische Bürgerinnen und Bürger tragen müssen und welche tiefen Einschnitte die Reformen für alle hier im Land bedeuteten.

Die Dimensionen der sozialen Veränderung kann wohl nur der wirklich wahrnehmen, der Tag für Tag hier lebt. Aber eine Ahnung vom Ausmaß dieser Veränderungen haben auch wir Deutschen inzwischen doch bekommen, und sei es nur als Touristen, von denen ja viele immer wieder Ihr Land besuchen und natürlich während ihrer Besuche beobachten. Wir können nur unseren Respekt darüber zum Ausdruck bringen, mit welchem entschiedenen Willen zu Reform und Fortschritt Sie hier vorgehen. Das ist eine große Leistung, die Ihnen allen viel abverlangt. Sie erbringen sie natürlich in erster Linie für Ihr eigenes Land, aber in der Konsequenz auch für Europa insgesamt. Das sollte Europa auch klar und deutlich anerkennen!

Wir Deutsche haben diesen Weg unterstützt. Und es tut dieser Unterstützung keinerlei Abbruch, wenn wir jetzt – nach intensiven, oft spannungsreichen Jahren – uns auch einmal selbstkritisch fragen, ob wir mit unseren Positionen, unserem Reden oder Auftreten manchmal nicht allzu kühl oder allzu dogmatisch erschienen sind. Und natürlich hat es umgekehrt Worte, Gesten oder Schuldzuweisungen hier in Griechenland Richtung Deutschland gegeben, die manchen bei uns in Deutschland verletzt haben.

Inzwischen aber, denke ich, haben wir uns wieder, wie es ein schönes deutsches Wort ausdrückt, ‚zusammengerauft‘. Vornehmer ausgedrückt: Wir haben voneinander Stück für Stück gelernt, wieder miteinander konstruktiv umzugehen, wieder Vertrauen in den anderen zu fassen und gemeinsam mit Hoffnung nach vorne zu schauen. Dass ich nun schon zum zweiten Mal als Bundespräsident Ihr Land besuchen darf und dann noch im feierlichen Rahmen eines Staatsbesuches, das darf, verehrter Herr Präsident, ruhig auch als Ausdruck dieser freundschaftlichen Hoffnung verstanden werden! Und insbesondere diese so feierliche Veranstaltung begreife ich ausdrücklich als Station auf dem Weg zu einer neuen und immer tieferen Freundschaft zwischen unseren beiden Ländern – und auch in diesem Sinne noch einmal mein tief empfundener Dank für die heutige Ehre!

Deutsche und Griechen hat seit jeher sehr vieles verbunden. Ich will jetzt nicht die ganze Geschichte von der klassischen Griechenlandbegeisterung der Deutschen erzählen. Das geschieht bei ähnlichen Gelegenheiten häufig genug. Aber erwähnen will ich sie schon. Sie bleibt doch zu Recht, wenn man genau hinschaut, ein wesentlicher Teil des Fundaments, auf dem unsere besonderen Beziehungen ruhen. Ich freue mich jedenfalls, wenn auch weiterhin an deutschen Gymnasien klassisches Griechisch gelernt werden kann und junge Menschen mit den Quellen der europäischen Philosophie und Kultur im Original vertraut gemacht werden können.

Zu den guten Verbindungen in der jüngeren Geschichte gehören ganz gewiss die zahllosen Beziehungen, die dadurch entstanden sind, dass seit Anfang der 1960er-Jahre Zehntausende von damals sogenannten Gastarbeitern, Arbeitsmigranten, aus Griechenland nach Deutschland gekommen sind. Sie haben unser Land kennengelernt. Auch diejenigen, die nicht selber nach Deutschland gekommen sind, haben Verwandte oder Freunde dort. Soviel ich weiß, gibt es gerade in Nordgriechenland praktisch kaum eine Familie ohne Bezug nach Deutschland. Auch das gehört zu den Fundamenten unserer Beziehung.

Und niemand soll vergessen, wie in der Zeit der Militärdiktatur viele Oppositionelle oder Verfolgte nach Deutschland geflüchtet sind, dort aufgenommen wurden und sich dann später oft – durch Ausbildung oder Studium – eine Grundlage geschaffen haben, für eine Zukunft in einem freien und demokratischen Griechenland, wie es heute ist. Ich nenne beispielhaft nur zwei, die ich kennengelernt habe: Kosta und Spiros Simitis. Zwei deshalb, weil der eine zurückgegangen ist nach Griechenland und hier seine politische Karriere gemacht hat, und der andere in Deutschland geblieben ist und dort seinen politischen Weg, seine Karriere gemacht hat. Dora Bakoyannis kam nicht direkt nach Deutschland. Ihre Familie war im Pariser Exil, kam dann aber später nach Deutschland, genauer gesagt, nach München, hat dort studiert, war später meine Außenministerkollegin. Und Nikos Kotzias, der heutige Außenminister, mit dem habe ich sogar an derselben Universität gearbeitet.

Aber das wäre verkürzt, nur darauf hinzuweisen. Deutschland und Griechenland verbindet auch eine Unheilsgeschichte, die Ihrem Land vom nationalsozialistischen Deutschland aufgezwungen wurde. Die verbrecherische, oftmals unvorstellbar grausame Besatzung Griechenlands durch deutsche Truppen und die SS. Besonders die Deportation und Vernichtung der griechischen Juden. Das kann und darf nicht vergessen werden! Morgen vor 74 Jahren begann mit dem Abzug der Truppen aus Athen das Ende des Schreckens.

Diese barbarischen Taten wurden von Vertretern eines Volkes begangen, das auf seine Kultur doch so stolz ist – und sie wurden an einem Volk begangen, von dessen geistig-kulturellem Erbe die Täter doch so sehr geprägt zu sein behaupteten. Was für ein Abgrund an Schuld und an moralischer Verkommenheit!

So verstörend und schamvoll diese Tatsachen für uns Deutsche auch sein mögen – so sehr müssen wir uns davor hüten, die Erinnerung an jene Zeit zu verdrängen! Wir brauchen das Gedenken, wir brauchen den lebendigen Umgang damit – und wir brauchen das Gedenken nicht nur der Vergangenheit, sondern der Zukunft wegen!

Das hatte auch mein Vorgänger im Amt, Joachim Gauck, am 7. März 2014 in Lingiades im Sinn. Als erstes deutsches Staatsoberhaupt bat er um Verzeihung für die begangenen Verbrechen: Das, was geschehen ist, war brutales Unrecht. Mit Scham und mit Schmerz bitte ich im Namen Deutschlands die Familien der Ermordeten um Verzeihung. Ich verneige mich vor den Opfern der ungeheuren Verbrechen, die hier und an vielen anderen Orten zu beklagen sind.

Als sein Nachfolger im Amt des deutschen Bundespräsidenten sage ich heute: Wir Deutschen vergessen die Schuld nicht, die unsere Vorfahren auf sich geladen haben. Und wir vergessen die besondere Verantwortung nicht, die wir auch heute und morgen aus der Geschichte übernehmen.

Das freie, einige und demokratische Europa war am Ende die Lehre aus diesen Erfahrungen. Nie wieder Krieg! Nie wieder Diktatur! Nie wieder Unterdrückung der Schwachen durch die Starken! Nie wieder Unfreiheit und Zensur! Nie wieder Verfolgung von religiösen und politischen Überzeugungen! Das waren im Wesentlichen die Motive der Gründung der ersten europäischen Gemeinschaft in den Römischen Verträgen und das waren Motive der Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Gemeinschaft bis heute.

Europa war und ist ein Versprechen, das wir uns gegenseitig gegeben haben und immer neu geben – und Europa ist die Aufgabe, auf die wir uns gegenseitig immer wieder neu verpflichten und nach meinem Dafürhalten auch verpflichten sollten.

Inzwischen werden in vielen Ländern Europas Bewegungen sichtbar und hörbar, bis hinein in amtierende Regierungen, die sich von einem rechtsstaatlichen und demokratischen, von einem sozialen und gerechten Europa verabschieden wollen. Nationalistische und autoritäre, fremdenfeindliche und sogar rassistische Töne sind unüberhörbar. Manche Akteure treibt scheinbar eine seltsame Lust an europäischer Selbstzerstörung. Und das ist nicht reine Polemik, sondern das droht, die Beziehungen zwischen den europäischen Staaten und den Völkern zu vergiften.

Ich bin froh, dass in Griechenland, selbst in und nach den starken Auseinandersetzungen um den Euro und die Rettung, die allermeisten Griechen zu Europa stehen – und zwar aus Überzeugung. Dafür sind gerade wir Deutschen sehr dankbar.

Europa ist unsere Zukunft. Aber Europa kann unsere Zukunft nur sein, wenn wir es schaffen, diesen Bewegungen entgegenzutreten; wenn wir es schaffen, die Enttäuschten, die Unzufriedenen, die Skeptiker zu überzeugen, dass es nur mit diesem vereinten Europa für alle in Europa ein gutes Leben gibt und geben wird! Und natürlich ist das nicht einfach. Aber ich bitte Sie, gerade die jungen Menschen, die vor mir und hinter mir sitzen, die Studierenden, die Verantwortungsträger von morgen: Lasst uns diese Überzeugungsarbeit miteinander leisten – mit festen Überzeugungen, mit harten Fakten, mit guten Argumenten. Und vor allem: vereint, als europäische Demokratinnen und Demokraten!

Der ein oder andere, der in den letzten Jahren schon viele, allzu viele Reden über Europa, sein Wohl und Wehe, gehört hat – der wird vielleicht kritisch nachhaken und fragen: Was ist das eigentlich, diese europäische Gesinnung? Was hält uns eigentlich zusammen, so unterschiedliche Länder, in ganz unterschiedlichen Situationen, mit oft genug auch ziemlich gegensätzlichen Interessen?

In Athen wird es niemanden wundern, dass die Überzeugungen, von denen die Architektur des vereinten Europas geprägt ist, nicht vorgestern vom Himmel gefallen oder in Universitätsseminaren des letzten Sommersemesters erdacht worden sind. Sie sind in tausenden von Jahren erdacht, in vielen Krisen ausprobiert und Prüfungen unterzogen worden. Sie wurden erkämpft und bestritten, immer wieder verletzt und dann doch für so wertvoll befunden, dass wir sie bewahren wollen. Sie haben also sehr lange Wurzeln.

Wenn wir nach solchen Wurzeln Europas suchen, dann finden wir mindestens ein paar davon in zwei berühmten Reden wieder, die hier in Athen gehalten wurden. Und deswegen will ich heute, da ich selber hier in Athen rede, kurz darauf Bezug nehmen.

Da mir die heutige Ehrenpromotion durch eine juristische Fakultät verliehen wird, mögen mir die Damen und Herren Rechtsgelehrten hier im Saal die ironische Pointe verzeihen, dass beide Reden – direkt oder indirekt – mit einem Justizmord zu tun haben. Zwei antike Justizmorde, so könnte man zugespitzt sagen, gehören zu den Initialzündungen europäischer Kultur und europäischen Geistes bis heute. Welche Reden und welche Männer meine ich?

Die erste Rede, die ich meine, ist die Verteidigungsrede des Sokrates, 399 v. Chr., aufgeschrieben und literarisch gestaltet von Platon. Sokrates sieht sich der Anklage ausgesetzt, nicht an die Götter zu glauben, an die die Stadt glaubt, und mit seinem philosophischen Wirken – so war der Vorwurf –, die Jugend zu verderben.

Über diesen Prozess gegen Sokrates und seine Verteidigung sind in den zweieinhalbtausend Jahren seither viele gelehrte Studien verfasst worden. Ich mache gar nicht erst den Versuch, mit denen zu konkurrieren. Ich will – als einen Gedanken für unsere historische Situation heute – nur folgendes anmerken:

Sokrates wurde bekanntlich vom delphischen Orakel als der weiseste aller Menschen bezeichnet. Er selber hielt sich aber nun für überhaupt nicht weise, sondern behauptete, er wisse nur, dass er gar nichts wisse. Warum sage ich das? Weil ich glaube, genau so wurde das Fragen und Zweifeln an den Gewissheiten, auch das Befragen seiner Mitbürger nach deren Wissen und Überzeugungen seine philosophische Beschäftigung. Oft liefen die Befragungen seiner Mitbürger darauf hinaus, dass auch diese selber einsehen mussten, dass das, was sie für wahr und richtig gehalten hatten, einer strengen Überprüfung nicht standhielt. Zweifel, die Bereitschaft zur Korrektur, die ständige Prüfung der eigenen Urteile und Überzeugungen: Damit hat Sokrates seine Mitmenschen herausgefordert.

Solche Individuen wie Sokrates erscheinen ihren Mitmenschen oft – wie wir im Deutschen sagen – wie Nervensägen. Wenn nicht schlimmer. Junge Leute allerdings, das hat sich seit Sokrates nicht geändert, sind eher bereit, sich von neuen Gedanken anstecken zu lassen. Solche nichtkonformen Individuen, die Gewohnheiten infrage stellen, ja sogar allerhöchste Gewissheiten anfragen, sind lebensnotwendig. Gesellschaften und staatliche Gemeinwesen brauchen den Stachel des Nonkonformen, wenn sie nicht geistig verarmen, ja möglicherweise sogar kollektiv in die Irre laufen sollen.

In Demokratien entscheiden Mehrheiten. Das ist gut und richtig so. Die Demokratie, die unter anderem hier in Athen ihren Anfang nahm, gehört zum kostbaren Erbe Europas. Aber genauso gehören zum Erbe Europas der Einspruch und der Widerspruch des Einzelnen gegen die Mehrheit. Zum Erbe Europas gehört die Wertschätzung des Individuums, die Würde des Einzelnen und die Achtung vor dessen Gewissen.

Um dem Einzelnen seine Würde zu geben und ihm möglich zu machen, seine Zweifel zu artikulieren und seinem Gewissen zu folgen, ist nichts so notwendig wie die Freiheit. Sie muss in Europa konstitutiv bleiben und von uns entschieden verteidigt werden.

In seiner Verteidigungsrede betont Sokrates die Notwendigkeit, seinem Daimonion, seiner göttlichen inneren Stimme zu folgen. Und es beeindruckt noch heute, wie er, wenigstens nach dem Zeugnis Platons, ohne Zittern und ohne Angst dem unausweichlichen Tod ins Angesicht schaut – und dabei noch einen letzten ironischen Zweifel artikuliert, wer wohl das bessere Schicksal vor sich hat: Er, der dem Tod entgegengeht, oder seine Zuhörer, die weiter dem Leben entgegengehen.

Eine solche innere Freiheit kann jeder nur für sich allein erreichen. Aber für die äußere Freiheit, in der Menschen das für richtig Erkannte leben können, dafür sind wir alle – nicht nur die Politik – in unseren Gemeinwesen politisch verantwortlich.

Die andere Rede hier auf dem Areopag gehalten, ist die des Apostels Paulus, gut 450 Jahre nach Sokrates. Paulus ist von Kleinasien nach Europa gekommen, und jetzt in Athen, um auch hier die Botschaft von Jesus Christus zu verkünden. Gegen diesen, gegen Jesus Christus, war in Jerusalem die Todesstrafe der Kreuzigung verhängt worden.

Bisher hatte Paulus seine Missionspredigt meist in jüdischen Gemeinden begonnen. Dort gab es Ansatzpunkte, um die zwar reformerische, ja revolutionäre, aber ursprünglich eben doch jüdische Botschaft Jesu verständlich zu machen.

Hier in Athen nun ist Paulus mit gelehrten Nichtjuden konfrontiert: stoische und epikureische Philosophen, die von antiker Bildung und von antikem Götterglauben geprägt sind. Sie sprechen Paulus an, was er denn da für fremdartige Lehren vortrage? Ob er ihnen das etwa näher erklären könne?

Was macht Paulus, um seine fremde Botschaft dieser anderen Kultur nahezubringen? Er greift das auf, was die anderen, was sein Gegenüber, bewegt. Er hatte nämlich in Athen einen Altar gesehen, auf dem stand: DEM UNBEKANNTEN GOTT. Darauf bezugnehmend sagt er: Was ihr verehrt, ohne es zu kennen, das verkünde ich euch. Alle Menschen, so sagt er, sollten Gott suchen, ob sie ihn ertasten oder finden könnten, denn keinem von uns ist er fern. Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir, wie auch einige von euren Dichtern gesagt haben. Wir sind von seiner Art. So nimmt seine Argumentation ihren Ausgangspunkt bei dem, was seinen Zuhörern aus der griechischen Philosophie so tief vertraut ist.

Diese Areopag-Rede des Paulus hat für mich – und für unsere aktuelle Situation – zwei Bedeutungsebenen. Zum einen begründet sie, wie die Botschaft einer kleinen jüdischen Bewegung Anschluss finden konnte an die große antike Philosophie. Nur so, als philosophisch reflektierte Lehre konnte das Christentum seine Wirkkraft entwickeln. Und nur so konnte es so etwas entwickeln wie wissenschaftliche Theologie, zu der beständige Fragen und Zweifel gehören. Nur das: Das beständige Fragen und Zweifeln inmitten des Glaubens, kann Religion vor totalitärer Versuchung und terroristischem Wahn bewahren.

Ein zweites. Natürlich will Paulus missionieren und andere von dem überzeugen, was er für wahr hält. Sein Vorgehen aber legt faktisch auch eine zarte Grundlage für das, was man viel später interreligiösen oder interkulturellen Dialog nennen wird – und den wir jetzt und in Zukunft immer nötiger brauchen werden. Das ist meine Überzeugung. Dieser Dialog kann nur Aussicht auf Erfolg haben, wenn man zuerst das aufgreift, was dem anderen wichtig ist, was den anderen überzeugt und was ihm seit jeher plausibel ist. Nur dann kann man verständlich machen, was man selber glaubt und denkt. Denn nur von selber Belehrbaren sind wir bereit, uns belehren zu lassen.

In unseren gegenwärtigen Zeiten, die religiös und kulturell so oft und so stark von Unbelehrbaren geprägt sind, von Konfrontation und aggressiver Rechthaberei, in solchen Zeiten kann uns die Areopag-Rede des Paulus einen wichtigen Hinweis geben: Auch wo es um entscheidende, ja, auch um sogenannte letzte Dinge geht, kann man versuchen, zivil und gelassen miteinander umzugehen.

Und ganz zuletzt – falls doch noch Fragen offen sind – lehrt die Begegnung auf dem Areopag noch ein weiteres: Was heute noch nicht besprochen werden kann, weil es allzu fremd und anders erscheint, das wird zunächst einmal eingeklammert. Als Paulus auf die für griechische Ohren so befremdliche Rede von der Auferstehung kommt, spotten zwar einige, andere aber sagen mit feiner, aber eben friedlicher Ironie: Darüber wollen wir dich ein andermal hören.

Ein Ort solch wohlwollend-kritischen Verstehenwollens ist seit jeher die Universität, und ich schätze mich glücklich, dieser ganz besonderen Universität ab heute in besonderer Weise verbunden zu sein.

Mit meinem herzlichen und tiefen Dank verbinde ich den Wunsch, dass diese Universität zu Athen ein Ort des kritischen Fragens, der Freude an Bildung und Wissen und der menschlichen Begegnung bleibe. Solche Orte helfen mit, menschliche Verhältnisse zu schaffen und zu bewahren.

Wir sind alle dazu aufgerufen, durch unser politisches Handeln, durch die lebendigen Beziehungen zwischen unseren Völkern und Staaten, durch gelebte Solidarität, durch die Schaffung und die Vertiefung gerechter und sozialer Ordnungen jene menschlichen Verhältnisse zu schaffen, mit denen Würde und Freiheit des Einzelnen tatsächlich garantiert bleibt. Und die ein Zusammenleben erlauben, das den besten Traditionen des Europäischen Erbes verpflichtet ist.

Zum Wohle aller hier in Athen, in Griechenland, in Deutschland und in Europa, wünsche ich Ihnen das!

Vielen Dank.