Land in Sicht – Region Sachsen: Ehrenamtsempfang

Schwerpunktthema: Rede

Großhennersdorf, , 15. Oktober 2018

Der Bundespräsident hat am 15. Oktober bei einem Ehrenamtsempfang anlässlich seiner Reise nach Sachsen in der Reihe "Land in Sicht – Zukunft ländlicher Räume" eine Ansprache gehalten: "Niemand darf sich an die Seite von Hetzern stellen, die andere Menschen bedrohen, verächtlich machen und ihrer Würde berauben. Man kann in Deutschland auch seine Meinung sagen, seine Unzufriedenheit äußern, ohne Verfassungsfeinden hinterherzulaufen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache  beim Empfang für ehrenamtlich Engagierte im Tagungshaus der Hillerschen Villa in Großhennersdorf bei der Reise nach Sachsen im Rahmen von 'Land in Sicht – Zukunft ländlicher Räume'

Änderungen vorbehalten. Es gilt das gesprochene Wort.

Wo könnte man besser über das Thema ländlicher Raum sprechen als in einem ehemaligen Stall – erst Recht, wenn er so wunderschön ist wie dieser. Dieser Raum in einem ehemaligen Dreiseithof, den Sie, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Hillerschen Villa, vor dem Verfall bewahrt und jahrelang liebe- und mühevoll saniert haben, ist ein gutes Beispiel dafür, was Eigeninitiative gerade in ländlichen Gebieten bewirken kann. Hier bei Ihnen im Dreieck ist im Wortsinne Land in Sicht, und das schon sehr lange.

Land in Sicht – das ist das Motto einer Reihe von Reisen, die mich als Bundespräsident in die ländlichen Regionen Deutschlands führt, Regionen wie die Ihre, die Oberlausitz. Zwei dieser Reisen habe ich schon unternommen: in den Bayerischen Wald und in die Uckermark. Und der Besuch hier bei Ihnen wird nicht der letzte in dieser Reihe sein. Ich freue mich sehr, einen Tag hier bei Ihnen im Landkreis Görlitz zu sein, mit Ihnen sprechen zu können.

Ich bin selbst auf dem Land groß geworden, in einem kleinen Dorf im Westfälischen. Ich habe gern dort gelebt und ich kehre immer wieder gern zurück in mein Brakelsiek – so heißt das Dorf. Aber ich kenne auch den Unterschied zwischen auf dem Land leben und immer mal wieder dorthin zurückkehren. Das Landleben ist keine Postkartenidylle.

Sie leben in einer Region, die auf eine lange, stolze Geschichte zurückblickt, wie so viele Regionen in Sachsen. Sie leben aber auch in einem Dreiländereck zwischen Deutschland, Polen und Tschechien, das unter Problemen leidet, das große Veränderungen, einen riesigen Strukturwandel erleben musste und dem viele Menschen, vor allem junge, den Rücken gekehrt haben, weil sie hier keine Zukunft für sich sahen.

Sie wissen, was es heißt, wenn Arbeitsplätze wegbrechen und ganze Familien davon betroffen sind. Sie wissen auch, was es heißt, wenn es immer weniger Ärzte gibt, wenn der Weg zur nächsten Schule und zum nächsten Krankenhaus immer weiter wird. Und einige von Ihnen haben vermutlich immer häufiger das Gefühl, dass Sie hier, in diesem Dreiländereck, in einem Landstrich am Rande der Republik leben, der manchmal von der Politik vergessen wird.

Ich kann verstehen, dass Sie das alles umtreibt, dass Sie darauf drängen, dass die Politik sich Ihrer Probleme und Ihrer Sorgen annimmt. Sie brauchen Busse, die Sie in die nächste Stadt bringen und Läden, in denen Sie einkaufen können. Sie wollen sichere Arbeitsplätze und eine gute Infrastruktur. Sie wünschen sich gute Schulen und Kindergärten und Sie haben einen Anspruch darauf, dass die Behörden und die Verwaltung vor Ort für Sie da sind. Das alles dürfen, das müssen Sie verlangen. Es ist Aufgabe der Politik, sich darum zu kümmern, ganz konkret und nah bei den Menschen, Tag für Tag! Denn das sind Ihre Wünsche und Hoffnungen, das sind Ihre Sorgen.

Sie alle – und davor habe ich den allergrößten Respekt – gehören aber nicht zu denen, die einfach nur schimpfen, die nur warten, dass andere etwas tun, sondern die etwas dafür tun, dass Ihre Region eine Zukunft hat. Sie suchen nach kreativen und innovativen Lösungen. Sie, die Ehrenamtlichen, helfen Menschen, die gebrechlich sind und Sie helfen Menschen, die zu uns geflohen sind. Sie engagieren sich in der Pflege, in Sportvereinen, bei der Freiwilligen Feuerwehr oder an Schulen und im Kulturbereich. Sie treten Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit entgegen – und Sie engagieren sich, das ist gar nicht hoch genug zu schätzen, auch über die Landesgrenzen hinweg im Austausch mit unseren tschechischen und polnischen Nachbarn.

Sie bringen dabei sehr viel Leidenschaft auf und oft noch viel mehr Zeit. Sie alle tragen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt unseres Landes bei, in Zeiten, in denen es schwieriger geworden ist, zusammenzustehen, in denen Menschen und Positionen sich verhärten und die Mauern höher werden zwischen verschiedenen, ja einander feindlich gesinnten Lagern. Dafür, dass Sie immer wieder und mit großer Beharrlichkeit helfen, diese Mauern abzutragen, dafür möchte ich Ihnen danken!

Demokratie ist anstrengend, gerade weil sie nicht verlangt, dass alle einer Meinung sind, gerade weil sie von Kompromissen lebt. Sie braucht Menschen wie Sie. Menschen, die teilnehmen und teilhaben wollen, die ihr Leben und ihr Land mitgestalten wollen. Demokratie lebt nur, wenn wir uns für sie einsetzen, sie will, dass wir die Regeln, nach denen wir leben wollen, immer wieder neu aushandeln. Demokratie muss ständig neu erstritten werden, und sie muss, das lehren uns die Ereignisse der vergangenen Wochen und Monate leider, auch verteidigt werden.

Ich kann nicht verhehlen, dass die Bilder aus Chemnitz mich entsetzt haben. Doch wie könnte ich hier stehen, vor Ihnen, im Dreieck der Hillerschen Villa, und glauben, ganz Sachsen sei rechtsextrem oder rassistisch? Wer so etwas behauptet, verbreitet selbst Ressentiments. Wir alle wissen, dass rechtsextreme und rechtspopulistische Gesinnungen in ganz Deutschland anzutreffen sind. Alle sollten auch wissen, dass in Sachsen oft und immer wieder in der Geschichte gegen Repression und für Demokratie gekämpft wurde. Gerade hier in Sachsen ist der Stolz auf den Mut und die Leistungen in der Friedlichen Revolution von 1989 zu spüren, und das völlig zu Recht.

Gerade in Erinnerung an diese Sternstunde der deutschen Demokratiegeschichte kann ich Ihnen jedoch meine Sorgen nicht verschweigen: die Sorge, dass hier wie andernorts in Deutschland die Gegner der liberalen Demokratie immer zahlreicher und immer lauter werden; die Sorge, dass demokratische Errungenschaften und Institutionen verächtlich gemacht werden, dass sie manchen kaum noch etwas gelten. All jene, die meinen, das System müsse gestürzt werden, möchte ich auffordern, darüber nachzudenken, was denn geschieht, wenn sie die demokratische Ordnung beseitigt haben. Ist das dann ein Land, in dem sie leben wollten?

Mein Land, unser Land, ist ein demokratisches, eines, auf das wir stolz sein können und auch stolz sein sollten. Seine Ordnung mag nicht perfekt sein – aber es ist ein Land, das die Menschen, die in ihm leben, gestalten können. Und diese Haltung ist es, die ich mit Blick auf Ihre Heimat in der Oberlausitz stärken möchte. Ich halte nichts davon, das Landleben zu romantisieren, ich halte es aber auch für vollkommen falsch, den ländlichen Raum einfach abzuschreiben. In Deutschland garantiert das Grundgesetz, dass die Politik für gleichwertige Lebensverhältnisse sorgen muss, und das gilt nicht nur für Ost und West, sondern eben auch für Stadt und Land.

Da hapert es, da gibt es Unmut und da fehlt manches. Manches erscheint unverständlich und ungerecht. Ich will Sie ermutigen, Defizite und Versäumnisse zu benennen. Denn Demokratie muss Kritik nicht nur ertragen, sie lebt von Kritik, vom Austausch unterschiedlicher Meinungen, und dabei darf, dabei soll es auch kontrovers und leidenschaftlich zugehen. Nur eines sollten wir gemeinsam beachten, und das ist mir sehr wichtig: Wenn Kritik in Hass und Verachtung, in Hetze oder sogar in offene Gewalt umschlägt, dürfen wir das nicht einfach hinnehmen. Wo dies geschieht, wird eine Grenze überschritten. Ich möchte es noch einmal ganz klar sagen: Niemand darf sich an die Seite von Hetzern stellen, die andere Menschen bedrohen, verächtlich machen und ihrer Würde berauben. Man kann in Deutschland auch seine Meinung sagen, seine Unzufriedenheit äußern, ohne Verfassungsfeinden hinterherzulaufen. Jeder Einzelne ist gefordert, für die Grundlagen unseres friedlichen Zusammenlebens einzutreten, und, ja, sie zu verteidigen, wenn es Not tut.

Wir alle aber müssen lernen, wieder miteinander ins Gespräch zu kommen und es auszuhalten, auch mit anderen, womöglich ganz anderen Meinungen als der eigenen konfrontiert zu werden. Wir wollen den respektvollen Dialog, keine Empörung, keine Verächtlichmachung oder gar Hass. Auf dieses Gespräch, das ich mit Ihnen führen kann, freue ich mich deshalb sehr. Ich möchte Ihnen zuhören, ich möchte erfahren, was Sie bewegt und was Sie umtreibt. Und ich weiß, nirgendwo geht das besser als in einer echten Begegnung. Deshalb bin ich unterwegs im Land und deshalb bin ich heute bei Ihnen!