100. Jahrestag des Stinnes-Legien-Abkommens

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 16. Oktober 2018

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 16. Oktober bei der Festveranstaltung zum 100. Jahrestag des Stinnes-Legien-Abkommens in Berlin eine Ansprache gehalten: "Wir sollten einen neuen Anlauf nehmen, um die Sozialpartnerschaft von morgen stark zu machen. Verbände der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer haben hier eine echte Zukunftsaufgabe, die wieder Mut und Verantwortung verlangt."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei der Festveranstaltung zum 100. Jahrestag des Stinnes-Legien-Abkommens im Schlüterhof des Deutschen Historischen Museums in Berlin

Hier, an diesem historischen Ort erinnern wir heute an ein wahrhaft historisches Ereignis in der Geschichte unseres Landes. Ich befürchte es sind nicht mehr viele in Deutschland, die wissen, wofür Stinnes und Legien und das Abkommen, das sie miteinander geschlossen haben, stehen. Es ist nichts weniger als das: Der Beginn der deutschen Sozialpartnerschaft, an den Anfang der Tarifautonomie vor fast 100 Jahren.

Wir erinnern uns an den ganz wesentlichen Beitrag dieser Partnerschaft zum Wohlstand und zum friedlichen Zusammenleben, und damit auch zur Demokratie in Deutschland – heute und morgen. Zugleich denken wir zurück an den langen, nicht immer einfachen Weg dieser Partnerschaft. An einen Weg, der in Krieg und Revolution begann, der durch Unterdrückung und Diktatur führte, durch den Untergang der ersten Demokratie, und der erst in der zweiten zu einem Weg der echten, dauerhaften Zusammenarbeit wurde.

Um diesen Weg zu verstehen, müssen wir vor Augen haben, was damals, vor 100 Jahren, in der Welt und in unserem Land geschah.

Denken wir an den 9. November 1918: Selbst die Oberste Heeresleitung hatte den Krieg schon verloren gegeben. Die Kieler Matrosen waren seit sechs Tagen im Aufstand. Der Kaiser dankt ab. In Berlin ruft Philipp Scheidemann die Republik aus – und Karl Liebknecht die Räterepublik.

Am 10. November flieht Wilhelm II. nach Holland. In Berlin entsteht ein Rat der Volksbeauftragten unter Friedrich Ebert und Hugo Haase, und einen Tag später verkünden Liebknecht und Rosa Luxemburg die Neugründung des Spartakusbundes.

Am 12. November wird auch in Wien die Republik ausgerufen, während in Berlin der Rat der Volksbeauftragten das Frauenwahlrecht und den Acht-Stunden-Tag in ankündigt. Am Folgetag entwirft der Fabrikant Franz Seldte die Grundzüge eines rechtsreaktionären paramilitärischen Verbands, des ‚Stahlhelm‘.

Am 15. November wird der bewaffnete ‚Rote Soldatenbund‘ gegründet. Die radikalen Kräfte im Land bewaffnen sich zum Bürgerkrieg, die Konfliktlinien der nächsten Monate verhärten sich.

In diesen wenigen Anstrichen wird deutlich: Die Ereignisse überstürzen sich in diesen Tagen in Deutschland. Entscheidungen und Reaktionen im Stundentakt sind für die Menschen kaum noch nachvollziehbar. Nach dem Krieg kommt zu Hunger und Elend die tägliche Atemlosigkeit dazu. Schnell sind die Fronten verhärtet, die Konfliktlinien schroff, Kompromiss und Ausgleich in weiter Ferne. Bereits in ihren ersten Tagen droht die junge Republik in einer Spirale der Gewalt zu versinken. Und dennoch – fast unglaublich – am selben Tag, dem 15. November 1918, geschieht etwas Erstaunliches, völlig Unerwartetes: Die Vereinbarung zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden, das Stinnes-Legien-Abkommen wird unterzeichnet.

Welch unglaublichen Mut, welche Selbstüberwindung, wie viel Verantwortungsbewusstsein müssen die Beteiligten aufgebracht haben, um in dieser aufgeheizten Stimmung, vor einem Horizont radikaler Erwartungen den Ausgleich zu suchen und einen Kompromiss zu vereinbaren! In der Tat sind es Mut und Verantwortung, die am Anfang der deutschen Sozialpartnerschaft stehen!

Mit dem Abstand von 100 Jahren können wir mit Fug und Recht festhalten: Der Grundstein der erst später so genannten und viel gelobten Sozialpartnerschaft wurde in revolutionären Zeiten gelegt. Das Abkommen war ein politischer Akt in jenen Wochen, in denen die Grundlagen des Zusammenlebens in unserem Land, vier Jahre nach Kriegsbeginn und 70 Jahre nach 1848, noch einmal vollständig neu verhandelt wurden.

Die Protagonisten von damals, sie wurden in ihrer Rolle und Funktion fast zu Prototypen stilisiert. Auf der einen Seite der Montanmagnat Hugo Stinnes, erst vom Künstler George Grosz als heimlicher Kaiser und Abziehbild des unmenschlichen Kapitalisten karikiert, später durch die Nationalsozialisten als elitenfeindliche Projektionsfläche missbraucht. Und auf der anderen Seite Carl Legien, moderater sozialdemokratischer Abgeordneter und Gewerkschaftsfunktionär, der auf der einen Seite radikal-revolutionäre Forderungen aus Teilen der Arbeiterschaft abzuwehren hatte, auf der anderen aber mit dem restaurativen Widerstand des alten Regimes rang.

Das Abkommen, das den Namen dieser beiden Männer trägt, war in dieser aufgeheizten Zeit voller Unsicherheit und Ungewissheit, der gemeinsame Versuch von Arbeitgebern und Gewerkschaften, wirtschaftliche Stabilität zu gewährleisten – und natürlich auch das: Der gemeinsame Versuch, eigene Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten zu sichern. Die einen, die Arbeitgeber, erkannten mit etwas Zeitverzug endlich die Gewerkschaften als Vertreter der gesamten Arbeiterschaft an. Sie erklärten sich zu kollektiven Verhandlungen und verbindlichen Abschlüssen bereit. Sicher auch deshalb, weil die Gefahr von Enteignung und Verstaatlichung ganz konkret im Raum stand. Die andere, die gewerkschaftliche Seite, verzichtete darauf, die bestehenden Besitzverhältnisse aufzuheben und auf die flächendeckende Verstaatlichung. Sie wollte ihre Mitglieder vor den unwägbaren Folgen eines revolutionären Umsturzes und kompletten Chaos schützen, ja, aber sie wollte auch das: ihr eigenes Überleben und ihre Gestaltungsmacht sichern. Denn eine enteignete Industrie, gesteuert von einem sozialistischen Rätestaat, die braucht schließlich keine eigenständigen, freien und unabhängigen Gewerkschaften mehr – so die Befürchtung damals und später, im Realsozialismus, dann auch bittere Wahrheit.

Ich will Ihnen heute nicht alle Einzelheiten des Abkommens referieren. Das können andere besser. Nur eine Besonderheit will ich hervorheben: Zum ersten Mal wurde damals ein zentrales Gremium für die Zusammenarbeit der Sozialpartner geschaffen, die sich 1918 natürlich noch lange nicht so nannten. Die Zentrale Arbeitsgemeinschaft, so hieß das Gremium, überwölbte alle Industriesparten und sollte grundlegende Fragen beantworten – etwa die nach der täglichen Höchstarbeitszeit. Damit schufen Arbeitgeber und Arbeitnehmer etwas, das es bis dahin in Deutschland nicht gegeben hatte – und das bis heute auf der ganzen Welt nicht häufig zu finden ist: eine allgemeinverbindliche, freiwillige wirtschaftliche und soziale Regelungsebene zwischen staatlich-rechtlicher Regulierung und der Vertragsfreiheit des freien Marktes. Auch das war eine Art von Revolution und zugleich eine wichtige Wegmarke für die Entwicklung einer sozialen Marktwirtschaft, eines starken Fundaments der Demokratie in unserem Land!

Und auch wenn das Abkommen nur wenige Jahre hielt und die Zentrale Arbeitsgemeinschaft in der Krise 1923/24 wieder aufgelöst wurde: Es war sicherlich eine der Voraussetzungen dafür, dass die Weimarer Demokratie überhaupt erst auf die Beine kam. Dass die nachfolgenden staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft in Gestalt von Notverordnungen und die Konflikte, die diese nach sich zogen – vor allem in der Krise nach 1929 –, zu einem Brandbeschleuniger sozialer Unruhen und der Verächtlichmachung der Demokratie werden sollten; dass die Nationalsozialisten erst durch die Gleichschaltung der Verbände und die Abschaffung aller Tarifautonomie die deutsche Wirtschaft vollständig in den Dienst ihrer Ideologie und ihrer Kriegs- und Vernichtungsmaschinerie stellen konnten – all das zeigt doch vor allem eines: Wie wichtig diese Regelungsebene zwischen Staat und Markt, diese Verbindung von wirtschaftlicher Freiheit und sozialer Teilhabe, für die Stabilität und Integrationskraft unserer Demokratie bis heute ist!

Und das ist keine abstrakte Theorie. Das tägliche Miteinander in den Betrieben und Unternehmen, die Verständigung auf verträgliche Arbeitsbedingungen und das friedliche Aushandeln von Konflikten – ganz überwiegend ohne Streik und Aussperrung –, darauf verlassen sich viele in diesem Land. Ich habe das in meinem politischen Leben mehr als einmal erlebt.

Denken Sie nur an die größte Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre, vom Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers in Amerika bis zur Dramatik der Staatsschuldenkrise in Europa. Diese Krise hatte enorme Auswirkungen auch auf die deutsche Wirtschaft, von den Banken über die Dienstleister bis hinein in den Mittelstand und die klassische Industrie. Familien mussten um ihre Existenz fürchten, Unternehmer um ihr Lebenswerk. Es drohten Arbeitslosigkeit und eine jahrelange Depression. Ich habe 2008 und 2009 in anderer Funktion oft Besuch von Vorstandsvorsitzenden in Begleitung ihrer Betriebsräte bekommen, die die Sorge um den Betrieb und die Arbeitsplätze, manchmal gar um ganze Wirtschaftszweige, einte.

Für mich ist klar: Ohne die klugen Ideen und das besonnene Verhalten der Sozialpartner, der Arbeitgeber wie der Gewerkschaften, ohne Beschäftigungsgarantien, Kurzarbeitergeld und Lohnzurückhaltung, ohne all das wären wir – wie andere – noch viel tiefer in diese Krise gerutscht – und wir hätten nicht halb so schnell zu Stabilität und Wachstum zurückgefunden! Dafür möchte ich Ihnen allen an dieser Stelle im Namen unseres Landes großen Dank aussprechen!

Wir sollten heute auch nach vorne schauen. Wenn die Sozialpartnerschaft gelebte Demokratie ist, und wenn uns diese Demokratie am Herzen liegt, dann müssen wir doch zweierlei schaffen: Wir müssen erstens eine Vorstellung von den Aufgaben der Sozialpartnerschaft in den kommenden Jahrzehnten entwickeln und uns zweitens ganz konkret um den Erhalt der Grundlagen dieser Partnerschaft kümmern, damit sie unter veränderten Bedingungen ihre Wirksamkeit behält.

Beim ersten Punkt geht es um die Frage: Welche Rolle kommt der konstruktiven Zusammenarbeit von Arbeitnehmern und Arbeitgebern in Zukunft zu? Wir alle erwarten doch in den kommenden Jahrzehnten eine gewaltige Veränderung unserer Arbeitswelt. Von Berufsbildern über Ausbildungs- und Erwerbsbiographien bis hin zu den Beschäftigungsverhältnissen: Die Wellen der technologischen Innovation wirken immer schneller und immer weiter in alle Bereiche von Wirtschaft und Arbeitswelt hinein.

Schon heute beobachten wir eine immer weiterreichende technologische Substitution traditioneller Tätigkeiten, ja sogar ganzer Berufsbilder, ein rasantes Wachstum der Plattformökonomie, und mit dem Wachstum der Klick-und-Gig-Ökonomie auch eine Tendenz zur Entbetrieblichung. All das hat enorme Folgen für die tradierte Rolle der Sozialpartnerschaft und für ihre Instrumente für den sozialen Ausgleich und die soziale Sicherung.

Wir sollten diese Prognosen ernst nehmen. Auch die Prognosen, die in diesem Zusammenhang vor allem vor einer Polarisierung der Arbeitswelt warnen: Höhere Einkommen bei den Hochqualifizierten und den Hochflexiblen, weniger Einkommen für weniger qualifizierte Tätigkeiten.

Solche Prognosen werfen enorme Fragen auf – für die Tarifpartner, für die Politik, für das gesamte kollektive Arbeitsrecht:

Wer ist Arbeitgeber in dieser sich wandelnden Arbeitswelt, und wie bestimmen wir die dazugehörigen Rechte und Pflichten? Um es deutlich zu sagen: Wie verhindern wir die Erosion der klassischen Arbeitgeberrolle, die eine tragende Säule aller Sozialpartnerschaft ist und bleiben muss?

Wie definieren und erneuern wir Arbeitnehmerrechte in der digitalen Ökonomie? Wie vereinbaren wir beispielsweise wachsende Flexibilität im Arbeitsalltag mit dem Recht aufs Abschalten-Können und Erholung?

Wie kann die Aus- und Weiterbildung mit dem technischen Fortschritt Schritt halten, damit mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von den Chancen der Digitalisierung profitieren?

Und wie müssen wir die sozialen Sicherungssysteme erneuern, damit sie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ausreichend Schutz bieten, auch wenn klassische Erwerbsbiographien weniger, neue Formen, wie der Wechsel zwischen abhängiger und selbstständiger Beschäftigung, häufiger werden? Wie entwerfen wir soziale Sicherheit in der Digitalisierung so, dass die Veränderungen Mut zur Zukunft machen und keine Angst vorm Abstieg?

In alledem liegt eine riesige Herausforderung! Und ich rate dringend, dass Arbeitgeber, Gewerkschaften, Politik und Wissenschaft sie frühzeitig und gemeinsam angehen! Es darf jedenfalls nicht passieren, dass die Debatte in unserem Land auseinanderdriftet – zwischen einer digitalen Avantgarde, die den technologischen Fortschritt vorantreibt und von ihm profitiert, und den sozialen und politischen Institutionen, die den gesellschaftlichen Folgewirkungen dieses Wandels nur hinterherräumen. Nur wenn wir die kritischen offenen Fragen, mit denen viele Menschen in die digitale Zukunft schauen, gemeinsam aufgreifen und auch gemeinsam beantworten, erhalten wir die Innovationsfreudigkeit, die Lust auf Zukunft in unserem Land macht. Wenn wir diese Fragen gemeinsam beantworten, nehmen wir denjenigen den Wind aus den Segeln, die derzeit mit Zukunftsängsten und Untergangsszenarien politisch Stimmung machen!

Der zweite Punkt, die Grundlagen der Sozialpartnerschaft, richtet sich vor allem an die Verantwortungsträger bei den Arbeitgebern und in den Gewerkschaften. Um diese wichtige Partnerschaft wirksam zu erhalten, dafür braucht es die starke Beteiligung von beiden Seiten. Die droht zu erodieren, wenn der Organisationsgrad der Gewerkschaften in neuen Branchen gering bleibt oder wenn die Arbeitgeberverbände weniger als die Hälfte der Arbeitgeber organisieren. Es entstehen immer wieder Trennlinien, etwa zwischen alten und neuen Branchen, zwischen unterschiedlichen Regionen unseres Landes.

Die Abwendung der Spaltung hat uns stark gemacht und sich als tragendes Element sozialer Marktwirtschaft bewährt. Die Erfahrung von Ländern mit schwacher Sozialpartnerschaft, mit wilden Arbeitskämpfen und politischen Streiks, sollte uns auf allen Seiten zu denken geben. Auch die Erinnerung an die soziale Zerrissenheit Deutschlands, auf die Stinnes und Legien vor 100 Jahren eine Antwort suchten, sollte uns Mahnung sein. Wir sollten einen neuen Anlauf nehmen, um die Sozialpartnerschaft von morgen stark zu machen. Verbände der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer haben hier eine echte Zukunftsaufgabe, die wieder Mut und Verantwortung verlangt. Und wenn ich mir die gemeinsamen Initiativen der Sozialpartner anschaue, zur Gewinnung von Fachkräften oder bei der ‚Woche der beruflichen Bildung‘, für Weltoffenheit und Solidarität in unserer Gesellschaft oder zur Digitalisierung und Arbeit der Zukunft, dann freue ich mich zu sehen, dass sie einige dieser Herausforderungen sehr konkret angehen!

Was mit dem Stinnes-Legien-Abkommen vor 100 Jahren begonnen hat, ist historisch weder erledigt noch erschöpft. Dass Sie, lieber Herr Hoffmann und lieber Herr Kramer, den Bundespräsidenten gemeinsam zu der heutigen Feier eingeladen haben, das werte ich als öffentliches Versprechen von Arbeitgebern und Gewerkschaften, es auch in den nächsten 100 Jahren gemeinsam miteinander zu versuchen.

Ich freue mich sehr, dass Sie den Anlass so umfassend und auch nachdenklich begehen – und ganz besonders übrigens darüber, dass Sie das nicht alleine tun, sondern in Begleitung unserer europäischen Nachbarn und Freunden!

Was Sie leisten, das ist ungeheuer wichtig für unser Land. Ich wünsche Ihnen und uns allen alles Gute für die nächsten 100 Jahre, und heute eine schöne Geburtstagsfeier.