20 Jahre Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 17. Oktober 2018

Der Bundespräsident hat am 17. Oktober zum 20-jährigen Bestehen der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur eine Ansprache gehalten: "Die Arbeit der Stiftung dient uns allen, sie dient einer um Aufklärung bemühten Gesellschaft und einem aufgeklärten Umgang mit der eigenen Geschichte. Die Stiftungsarbeit ist somit nicht nur eine Sache Ostdeutschlands, sondern – das ist mir wichtig – sie ist entscheidend für das Selbstverständnis unseres ganzen Landes!"

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache beim Festakt zum 20-jährigen Bestehen der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur im Museum für Kommunikation in Berlin

Jetzt bin ich raus, jetzt kann ich erzählen, wie es war,
aber das lässt sich nicht erzählen.
Und wenn,
müsste ich sagen,
was ich verschweige […]

Die meisten von Ihnen werden diese Zeilen kennen. Sie sind von Jürgen Fuchs, einem der wichtigsten und wortgewaltigsten Zeugen dessen, was unter der SED-Diktatur geschah. Er wollte sich und uns daran erinnern, auch daran, dass es fortwirkt – bis heute. Und er gab sich damit eine Aufgabe, der sich auch die Bundesstiftung für die Aufarbeitung der SED-Diktatur nun seit 20 Jahren stellt.

Von beiden, von der Bundesstiftung wie von Jürgen Fuchs, der zu ihren Vordenkern zählte, kann man viel lernen im vereinten Deutschland. Über die Zeit der SED-Herrschaft und über die Zeit danach, über Verhörmethoden, über die Mechanismen der Macht, über die Deformationen, die sie hinterlassen und über Versuche, diese Zeit und ihre Spuren zu überwinden. Wer Jürgen Fuchs gelesen oder gehört hat, und für die meisten hier im Saal dürfte das zutreffen, mag vielleicht ermessen, was seine Freunde und Mitstreiter verloren haben.

Sein Gedicht kam mir in den Sinn, als ich hörte, dass die heutige Veranstaltung im Museum für Kommunikation stattfinden wird. Dass, wer sagen will, was war, reden muss über das, was er verschweigt – nach allem, was ich über Jürgen Fuchs weiß, glaube ich: Es würde ihm gefallen, dass die SED und ihre zynisch sogenannten Kundschafter der Friedens mitsamt ihren operativen und konspirativen Vorgängen nun angekommen sind im Museum für Kommunikation.

Zu ihrer Zeit aber hieß Umgang mit der SED-Diktatur für Menschen wie Jürgen Fuchs, sich zu verweigern, nicht zu kooperieren. Dafür zahlten sie einen hohen Preis. Viele von Ihnen in diesem Saal wissen, wie hoch der Preis war, den sie mit ihrer Biographie – mit Zurücksetzung, Diskriminierung, mit Verfolgung und Verhaftung zu entrichten hatten.

Es ist wichtig, Unrecht, das geschehen ist, Unrecht zu nennen. Davon zu berichten, zu erkennen, was war, damit wir uns ein Bild machen können, von uns und unserer Zeit – dafür steht diese Bundesstiftung. Ihre Arbeit ist wichtig und sie wird es bleiben. Denn Ihr Blick richtet sich nicht zurück allein um der Vergangenheit willen. Sie wollen sich und uns erinnern vor allem um der Zukunft willen.

Erinnern ist ein wichtiger, für die Opfer der Staatssicherheit ein überlebenswichtiger Teil der Aufgaben, die sich die Bundesstiftung gegeben hat. Doch ihr Auftrag ist damit nicht annähernd erschöpfend beschrieben. Die Arbeit der Stiftung dient uns allen, sie dient einer um Aufklärung bemühten Gesellschaft und einem aufgeklärten Umgang mit der eigenen Geschichte. Die Stiftungsarbeit ist somit nicht nur eine Sache Ostdeutschlands, sondern – das ist mir wichtig – sie ist entscheidend für das Selbstverständnis unseres ganzen Landes!

Ich weiß, dass diese Arbeit nicht einfach ist – und mit verstrichener Zeit auch nicht einfacher wird. Erinnerungsarbeit erfordert Offenheit, Sorgfalt, Aufrichtigkeit, Dialogbereitschaft – und nicht zuletzt mehr als nur ein bisschen Mut. Den Mut, in Abgründe zu blicken, den Willen, der Wahrheit näher zu kommen, auch wenn sie schmerzhaft ist. Viele, die diese Stiftung mitbegründet haben und sie bis heute tragen, haben diesen Mut bewiesen und sie hatten viele Mitstreiterinnen und Mitstreiter. Ihr Mut hat dieses Land, unser Land, verändert und vereint. Dafür danke ich Ihnen!

Und die Bedeutung der Bundesstiftung geht über unsere Landesgrenzen hinaus. Die Stiftung widmet sich inzwischen der Erinnerungsarbeit in ganz Ostmitteleuropa. Sie vernetzt Wissenschaft und politische Bildung, Opferverbände, Gedenkstätten, Museen, Geschichtsvereine und Archive. Ich halte diesen Aspekt Ihrer Arbeit für ganz besonders wichtig. Denn in den letzten Jahren sind die Gräben in Europa wieder tiefer geworden, leider auch diejenigen entlang des einstigen Vorhangs zwischen West und Ost. Die Erinnerung an die Zeit vor und nach dem Ende des Kalten Krieges spielt dabei eine virulent wichtige Rolle. Insbesondere dann, wenn sie von politischen Kräften benutzt wird, um mit der Erinnerung, mit Verunsicherungen und Verletzungen von damals neue Ressentiments zu befeuern. Umso wichtiger ist es, dass Sie in den Dialog über die Erinnerung treten, dass Sie, etwa durch gemeinsame Geschichtswerkstätten, Verständigung und hoffentlich auch Verständnis ermöglichen. Ich bin froh, dass ich als Bundespräsident, aber auch in voriger Funktion als Außenminister vielfach Zeuge und Partner dieser Arbeit sein durfte. Und ich verspreche Ihnen: Ich werde es gerne bleiben!

Und doch: So wichtig Erinnerungsarbeit in und für die Politik ist, innerhalb unseres Landes und in Europa, so wenig lässt sich Erinnerungsarbeit von oben verordnen. Zum Glück! – möchte ich gleich hinzufügen. In einer freiheitlichen Demokratie kann und muss Erinnerungsarbeit doch zuallererst gesellschaftliche Arbeit sein.

Ein großes Stück dieser Arbeit liegt noch vor uns, wenn es um die Zeit vor – aber auch nach 1989 geht. Viele Ostdeutsche haben seit dem Fall der Mauer so tiefgreifende Brüche erlebt – Aufbrüche und Umbrüche, Hoffnungen und Enttäuschungen, Chancen und Zumutungen –, wie sie meine Generation im Westen nie kannte. Und dennoch haben die ostdeutschen Erfahrungen bis heute keinen so festen Platz in unserem kollektiven Gedächtnis wie die des Westens. Das muss sich ändern. Filme, wie Andreas Dresens Gundermann, der so berührend nah vom Alltag in der Lausitz der Nachwendetristesse und persönlichen Verstrickungen erzählt, können dabei helfen. Gern mehr davon! Es gehört dazu, über Verletzungen und Enttäuschungen offen zu sprechen. Die Verwirklichung der Einheit war ein gewaltiges politisches Werk, bei dem natürlich auch Fehler gemacht wurden.

Es gibt weder einen Grund, darüber zu schweigen, noch gibt es Anlass für abschließende, einseitige Urteile. Die Deutsche Einheit ist weder allein die eine große Erfolgsgeschichte noch ist sie grandios gescheitert, wie manche behaupten. Die Deutsche Einheit ist überhaupt nicht eine Geschichte, sondern sie hat viele Geschichten. Und das ist auch nicht schlimm, das ist keine Schwäche unseres Landes. Einheit in einer freiheitlichen Gesellschaft bedeutet nicht Einheitlichkeit und schon gar nicht Eintönigkeit. Differenzen zu erkennen, Schichten abzutragen – auch darin liegt die Bedeutung von Erinnerungsarbeit. Erinnerung ist weder eine politisch bewachte Sperrzone – noch soll sie zum gesellschaftlichen Kampfgebiet werden. Ich wünsche mir eine lebendige, respektvoll geführte Debatte, die Vielstimmigkeit und auch Widersprüche aushält. Und die damit beginnt, dass wir anderen unsere Geschichten erzählen – und die der anderen wirklich hören. Vielleicht auch deshalb sind wir heute Abend im Museum für Kommunikation gut aufgehoben.

Ich gratuliere der Stiftung Aufarbeitung von ganzem Herzen zu 20 Jahren wichtiger Arbeit – ich freue mich auf fortgesetzte Partnerschaft, und danke für Ihre Aufmerksamkeit.