200 Jahre Universität Bonn

Schwerpunktthema: Rede

Bonn, , 18. Oktober 2018

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 18. Oktober zur Eröffnung des Akademischen Jahres zum 200-jährigen Bestehen der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn in Bonn eine Ansprache gehalten: "Wer der Wissenschaft die Freiheit nimmt, wer 'Experten' verächtlich macht und Wissenschaftsfeindlichkeit zum Stilmittel erhebt, der spielt mit dem Feuer und gefährdet das Gelingen von Zukunft. Die Freiheit der Wissenschaft, sie darf nie nur geliehen sein, sie muss garantiert bleiben!"

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei der Eröffnung des Akademischen Jahres zum 200-jährigen Bestehen der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn im World Conference Center Bonn

Zweihundert Jahre Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn – was für ein Fest!

Ich muss zugeben, vor drei Wochen, am 27. September, da habe ich kurz Zweifel bekommen, ob ich heute tatsächlich hierherkommen kann. Einige von Ihnen haben es vermutlich mitgekriegt. Am 27. September wurde bekannt, dass die Uni Bonn die mit Abstand erfolgreichste Hochschule in der aktuellen Exzellenzrunde ist. Nicht zwei, drei oder vier, sondern ganze sechs Cluster kommen an den Rhein – was für ein Coup!

Und da der Bundespräsident sich bekanntermaßen überparteilich zu verhalten hat, war ich mir auf einmal nicht mehr ganz so sicher, ob mein heutiger Auftritt nicht andernorts als Parteinahme gesehen würde. Zum Beispiel 30 Kilometer flussabwärts, da am Dom. Der Erzbischof hat heute Morgen im Gottesdienst bereits alle Sensibilitäten schonungslos offen gelegt.

Aber: Zu meinem Glück und Ihrer Zuhörerfreude war ich in der gleichen Woche beim großen Kongress der deutschen Politikwissenschaft an der Universität in Frankfurt am Main. Die haben mir nach eingehender Prüfung versichert: Das geht schon in Ordnung. Sie können ruhig nach Bonn fahren, die haben sich das verdient. Mit solcher Art Ermutigung bin ich hier. Nun denn!

Sie merken es, lieber Herr Hoch: Sehr gern bin ich heute gekommen, zum großen Festtag Ihrer Universität, um Ihnen persönlich zu sagen: Glückwunsch zu diesem tollen Erfolg, und vor allen Dingen herzlichen Glückwunsch zum 200. Geburtstag!

Früher hieß das vermutlich anders, aber Exzellenz gab es an der Uni Bonn schon vor dem 27. September 2018. Ich denke da natürlich ganz aktuell an Peter Scholze, den diesjährigen Gewinner der Fields-Medaille, und die anderen berühmten Bonner Mathematiker. Aber auch an die Nobelpreisträger Reinhard Selten und Wolfgang Paul, um nur einige Namen aus der jüngeren Vergangenheit zu nennen. Sie alle stehen heute stellvertretend für viele, viele andere, die über die vergangenen 200 Jahre zum herausragenden Ruf Ihrer Universität beigetragen haben.

Das war natürlich von Anfang an so geplant: Die preußische Regierung ließ sich nicht lumpen und hat einiges an geistiger Prominenz aufgefahren, damit diese dritte Universitätsneugründung nach Berlin und Breslau einen Traumstart hinlegen konnte. In die neue Rheinprovinz kam so zum Beispiel der Schlegel-Bruder August Wilhelm, der erste deutsche Indologe, an dem ein ganzes Netzwerk von großen Public Intellectuals hing. Auch Barthold Georg Niebuhr gehörte dazu, damals ein echter Star unter den Geschichtswissenschaftlern, oder die bis heute zwiespältige Figur eines Ernst Moritz Arndt, bekannter Historiker und Freiheitskämpfer auf der einen Seite, völkischer Nationalist, Frankreichhasser und Antisemit auf der anderen. Sie und einige mehr brachten damals viel akademisches Kapital an die neue überkonfessionelle Universität. Und so ist es, wenn ich mich so umsehe, nur folgerichtig, dass wir heute, 200 Jahre später, ebenfalls mit viel Prominenz das runde Jubiläum dieser verbrieft exzellenten Hochschule feiern.

Wir feiern dieses Jubiläum im ehemaligen Plenarsaal der Bonner Bundesrepublik, mit vielen Freunden aus Europa und der Welt, an einem Ort der deutschen Demokratie. Die Geschichte der Demokratie in unserem Land ist vielfach mit der Geschichte der Universität Bonn verwoben. Von diesem langen Weg will ich heute sprechen.

Wie gesagt, die Startbedingungen in Bonn waren gut, auch für frische Ideen. Die neue Universität profitierte vom hohen Ansehen, das wissenschaftliche Gelehrsamkeit, Naturforschung und literarisches Geistesleben am Anfang des 19. Jahrhunderts genossen. Sie hatte den Wind des Wandels in den Segeln, der in gleich doppelter Hinsicht durch das Rheinland pfiff. Zum einen über die preußisch-humboldt‘schen Vorstellungen von moderner Universität, zum anderen aus dem Nachlass der kurkölnischen Akademie zu Bonn von 1777 – auch sie ein Kind der Aufklärung, wenn auch ein kurzlebiges. Oder um es mit Schlegel zu sagen: Das ächte Neue keimt nur aus dem Alten, Vergangenheit muss unsre Zukunft gründen.

Das klingt hin- und hergerissen, und das war es wohl auch. Die aufklärerischen und liberalen, zugleich romantischen und nationalen Gedanken des Vormärz machten sich am preußischen Rhein breit, im Schatten einer strengen Obrigkeit. Heinrich Heine lernte viel bei seinem Lehrer Schlegel und schrieb später, als die schlesischen Weber zum Aufstand riefen, dem König der Reichen einen Fluch an den Hals. Der Bonner Alumnus und Burschenschaftler Hoffmann von Fallersleben saß 1841 auf Britisch-Helgoland und träumte von Einigkeit und Recht und Freiheit. Der Bonner Kunsthistoriker Gottfried Kinkel gründete den Demokratischen Verein, mit konservativem Pendant im Konstitutionellen Bürgerverein von Johann Wilhelm Loebell. Der Bonner Studentenanführer Carl Schurz, später Nordstaatengeneral im amerikanischen Bürgerkrieg, ließ die Stadt am Rhein sogar kurzerhand zum Vor-Ort aller deutschen Studentenschaften wählen. Und im Frankfurter Paulskirchenparlament saßen 1848 allein sieben Bonner Professoren. Kurzum: Diese Universität hatte beträchtlichen Anteil am ersten, wenn auch flüchtigen Versuch eines einigen und demokratischen Deutschlands.

Karl Marx, genauso alt wie die Universität, war übrigens ebenfalls Schlegel-Hörer. Er kassierte während seiner zwei Semester am Rhein eine eintägige Karzerstrafe wegen nächtlichen ruhestörenden Lärmens und Trunkenheit und unerlaubtem Waffenbesitz. Das war vermutlich noch kein revolutionärer Aufstand, vielleicht aber eine akademische Aufwärmphase. Nicht viel revolutionärer war es, als auf Geheiß Berlins zum Ende des 19. Jahrhunderts auch in Bonn erstmals Frauen an die Universität kamen, ganze 16 Gasthörerinnen im Wintersemester 1896/97. Es sollte noch zwölf Jahre dauern bis zum Recht auf Vollimmatrikulation, und 14 Jahre, bis mit Maria von Linden eine erste Frau zur Professorin wurde – allerdings noch ohne venia legendi. Was damals ganz besonders galt, das gilt heute immer noch: Bei der Gleichberechtigung in der Wissenschaft gibt es einiges zu tun. Nicht nur hier in Bonn, sondern überall in Deutschland.

Nochmal mehr als ein halbes Jahrhundert nach den ersten Frauen an der Universität, nach zwei Weltkriegen und der brutalen Nazidiktatur, da gab es hier wieder verstärkt demokratischen Geist zu spüren. Wie Gerd Bucerius Ende der 1970er-Jahre in der ZEIT schrieb, war die Bonner Republik im Jahr 1949 allerdings noch längst keine ausgemachte Sache: Die Schaffner am Bahnhof Bonn rümpfen die Nase, wenn ein Bundestagsabgeordneter seinen Freifahrschein vorzeigt. Im Bundeshaus hörten wir von den auf dem Rhein vorbeifahrenden Vergnügungsdampfern das Karnevalslied: ‚Wer soll das bezahlen, wer hat das bestellt [...]?‘ Demokratie musste erst gelernt werden.

Anders als die Schaffner standen jedenfalls die Bonner Rechtswissenschaftler, die damals noch nicht zu den allerprogressivsten Kräften zählten, bald fest im Dienst der deutschen Demokratie. Wie keine andere juristische Fakultät konnten sie – allein schon aus räumlicher Nähe – mit dem direkten Draht zu Regierung und Verwaltung glänzen, und vielleicht wie keine andere hatte sie Einfluss auf die Ausbildung des Beamtennachwuchses für die neue Republik. Hinzu kamen die Neuerungen aus anderen Wissenschaften, etwa aus der Politikwissenschaft, die die Uni Bonn zu einem Lernort der Demokratie machen wollte, wie ihn etwa Karl Dietrich Bracher, erster Inhaber des 1959 eingerichteten Lehrstuhls für Wissenschaft der Politik und Zeitgeschichte an der Kriegsgefangenen-Uni in Kansas erlebt hatte. Er zählte zur ersten Generation junger Wissenschaftler, die mit unnachgiebigem Aufklärungsinteresse das Scheitern der ersten deutschen Demokratie untersuchten. Seine Studie Die Auflösung der Weimarer Republik von 1955 wurde zum Standardwerk.

Staatsfern war die Bonner Universität damals also nicht. Und für Studentenschaft und Nachwuchsdemokraten ergab sich daraus eine äußerst praktische Synergie, sozusagen entlang der Adenauerallee: Die Demokratie an der Universität verband sich fest mit der Demokratie in der provisorischen Hauptstadt. Weder die 1968er- noch die Friedensbewegung haben das kurfürstliche Schloss ausgelassen, auch wenn die Proteste an den Universitäten in Westberlin oder Frankfurt vielleicht eine Nummer größer ausfielen. Es waren Studentinnen und Studenten, die dem frischen Wind immer wieder die Fenster geöffnet haben – etwa bei der neuen Universitätsverfassung von 1968, damals sehr umstritten. Aber vor allem musste man sich als Bonner Student nur den großen Hauptstadtdemonstrationen auf der Hofgartenwiese anschließen – in den 1980er-Jahren waren das die größten Kundgebungen, die die Bundesrepublik je gesehen hat. Auch das war Demokratie hautnah, zum Mitmachen und direkt vor der Haustür.

Der Weg dieser Universität ist eng verwoben mit Deutschlands langem Weg zur Demokratie. Aber es war eben kein gerader Weg, kein einfacher und immer aufs hehre Ziel zulaufender. Es war ein verschlungener Weg, mit Um- und auch Abwegen. Auch daran wollen wir uns heute erinnern. Schon die Gründung dieser Universität war kein demokratischer Akt, sondern vor allem das Ergebnis von erfolgreicher Lobbyarbeit der Stadtoberen, besiegelt durch monarchisches Oktroi aus Berlin. Übrigens auf Kosten zweier anderer, älterer Universitätsstandorte in Köln und Duisburg.

In die ersten Jahre fielen auch die zutiefst illiberalen, undemokratischen Karlsbader Beschlüsse des Deutschen Bundes. In seltener Einigkeit galt fast überall in Deutschland die Demagogenverfolgung. Die Restauration wehrte sich gegen revolutionäre Ideen an den Universitäten, gegen freiheitlich-nationale Romantik unter Professoren und Studenten. Für die neue Bonner Universität war dieser frühe McCarthyismus eine schwere Bürde. Einige bekannte und angesehene Wissenschaftler lehnten ihre Rufe ab, unter ihnen etwa die Gebrüder Grimm oder der Philosoph Friedrich von Schelling. Mit Ernst Moritz Arndt musste bald auch der prominenteste unter den ersten Bonner Professoren seinen Lehrstuhl wieder räumen. Wenn Wissenschaftsfreiheit nur von Gnaden der Obrigkeit toleriert ist, dann kann sie auch wieder einkassiert werden – eine Lehre, die wir uns heute manchmal wieder ins Gedächtnis rufen müssen. Was damals schon richtig war, das gilt heute umso mehr: Wer der Wissenschaft die Freiheit nimmt, wer Experten verächtlich macht und Wissenschaftsfeindlichkeit zum Stilmittel erhebt, der spielt mit dem Feuer und gefährdet das Gelingen von Zukunft. Die Freiheit der Wissenschaft, sie darf nie nur geliehen sein, sie muss garantiert bleiben!

Hinzu kam damals, dass die Bonner Universität – immerhin nach dem protestantischen König Friedrich Wilhelm III. von Preußen benannt – in ihren ersten Jahrzehnten einen deutlich kulturkämpferisch-kolonialen Beigeschmack hatte. Mit Ausnahme der katholischen Theologie waren die meisten Lehrstühle mit preußischen Protestanten besetzt. Ihr Wirken im katholischen Rheinland trug fast schon missionarische Züge. Mancher verstand sich gar als Verteidiger preußischer Obrigkeit gegen rheinische Libertät.

All diese Konfliktlinien, diese vielschichtigen Ambivalenzen von Polarisierung und Pluralität, sie mussten über lange Jahrzehnte in schmerzhaften Kulturkämpfen und Einigungsprozessen ausgehandelt werden. Wenn wir uns heute an diese Konflikte erinnern, dann erinnern wir uns also auch an den Schmerz von konfessionellem Streit; an den Schmerz von fehlender Freiheit und Einheit und Gleichheit. Wenn wir in unserem Land heute wieder über Fragen von Zugehörigkeit und Identität streiten, dann kann und sollte uns – auch hier in Bonn – die Erinnerung an die schon überwundenen Spaltungen und die bereits errungenen Freiheiten ein wenig Richtung und Perspektive geben.

Vor 100 Jahren wiederum fiel die große Feier aus. Kriegsbedingt gab es die runde Geburtstagsfeier erst ein Jahr später, 1919, in der jungen demokratischen Republik, und die Stimmung war höchstens gedämpft zuversichtlich: Der Krieg hat unser Volk vor gewaltige, nie geahnte Aufgaben gestellt, so der Rektor Ernst Zitelmann zur 100-Jahr-Feier, und weiter: der Friede wird uns wohl noch schwierigere stellen. Im gleichen Jahr beschloss die Universität, Thomas Mann die Ehrendoktorwürde anzutragen – einem Deutschen übrigens, dessen Weg zur Demokratie ähnlich verschlungen war wie der seines Landes. Noch zu Kriegsbeginn 1914 schrieb jener Thomas Mann: Fort mit dem landfremden und abstoßenden Schlagwort demokratisch! Nie wird der mechanisch-demokratische Staat des Westens Heimatrecht bei uns erlangen. Sätze, über die er später selbst erschrak, als er mit seiner Familie vor den Nazis ins freiheitlich-demokratische Exil des Westens floh. Daran konnte ich erst kürzlich in Pacific Palisades erinnern, in Thomas Manns Weißem Haus des Exils, wo er, begeistert von Franklin D. Roosevelt, endgültig zum leidenschaftlichen Kämpfer für eine freiheitliche und wehrhafte Demokratie wurde.

Unterdes hatte mit Deutschland auch die Universität Bonn der Demokratie den Rücken zugekehrt. Zwar gewannen die Nationalsozialisten bei den freien Wahlen zur Bonner Studentenvertretung nie die Mehrheit, wohl aber schon 1932 ein Drittel der Stimmen. Wie im ganzen Land wurde auch diese Universität unter die totalitäre Aufsicht des Nazistaats gestellt, wurden jüdische Professoren und politisch unliebiges Personal aus dem Dienst entlassen. Der evangelische Theologe Karl Barth verweigerte den Führereid und verlor seinen Lehrstuhl. Viele gingen ins Exil. Andere, wie die Philosophen Paul Ludwig Landsberg und Johannes Maria Verweyen, ließen ihr Leben in den Zuchthäusern und Lagern der Nazis. Thomas Mann, dem Nobelpreisträger, diesem, unserem Jahrhundertschriftsteller, wurde seine Ehrendoktorwürde im Jahr 1936 in einem beschämend kleinkarierten Verwaltungsakt aberkannt – ein Verfahren übrigens, für das nach dem Krieg niemand verantwortlich sein wollte. All die vielen Funktionsträger, die mit ihrer Willfährigkeit die Herrschaft des Unrechts erst ermöglicht hatten, wähnten sich nach 1945 unschuldig. So fiel es 1946 jedenfalls leicht, den Ehrendoktor Mann kleinlaut und ohne Aufarbeitung zu rehabilitieren. Der inzwischen selbst zum stolzen Demokraten gewachsene Mann zeigte wahre Größe, als er die Auszeichnung erneut annahm.

Der Weg zur Demokratie war für diese Universität wie auch für unser Land lang und beschwerlich, geleitet von eigenen geistigen Traditionen und politischen Aufbrüchen, aber doch erst nach dem Sieg der Alliierten über Hitlerdeutschland durch Zwang und Besatzung vollendet. Für die Uni Bonn blieb die angelsächsische Partnerschaft übrigens prägend – immerhin besteht aus jener Zeit bis heute eine lebendige Verbindung mit der Oxford University.

Wenn wir heute aber auf diese vergangenen 200 Jahre, auf diesen krummen Weg zur Demokratie und all seine Abwege schauen, dann bleibt die Frage: Was sollen Universitäten eigentlich heute leisten? Was dürfen wir von ihnen erwarten? Und was wünschen wir uns?

Wenn ich mir selbst etwas wünschen dürfte, dann wäre es das: Dass die Universität bei allem Fokus auf die Wissenschaft immer auch das eine ist – ein Ort der Demokratie.

Was heißt das konkret? Zunächst einmal glaube ich, um ein Ort der Demokratie zu sein, muss die Universität zuallererst ein Ort der Freiheit sein!

Denn, daran muss man in diesen Zeiten leider erneut erinnern: Demokratie ist nicht eine entweder liberale oder illiberale. Vielmehr gilt, Demokratie ist entweder liberal oder sie ist nicht. Die illiberale Demokratie ist ein Widerspruch in sich. Demokratie setzt Wahlen voraus, geht allerdings nicht darin auf. Sie legitimiert die Mehrheit, allerdings in den Grenzen von Recht und Verfassung. Will sagen: Entgegen Auffassungen, wie sie neuerdings in manchen Teilen Europas vertreten werden, geht Demokratie nicht ohne Rechtstaatlichkeit und Minderheitenschutz, sie verendet ohne Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten. Und sie steht und fällt mit der Freiheit des Geistes!

Universitäten sind Orte, an denen die Freiheitsräume und Schutzrechte in einer Demokratie immer neu ausgelotet werden. Sie sind Orte der Diskussion über die Maßstäbe des Sagbaren und des Unsäglichen, über die Grenzen und den Nutzen neuer Ideen. Ja, die Universität braucht Freiheitsräume, aber an der Universität werden Freiheitsräume auch überhaupt erst verhandelt und definiert! Die akademische Suche nach Wahrheit und Erkenntnis führt uns immer wieder in solche Debatten hinein. Das ist herausfordernd, häufig unbequem. In den zurückliegenden Jahren zum Beispiel gab es, gerade in Amerika, eine Tendenz, die Unis zu abgeschirmten Biotopen der sauberen Sprache und der seelischen Irritationslosigkeit zu entwickeln. Vor lauter Rücksichtnahme und Triggerwarnungen verschwindet mancherorts sogar Shakespeare vom Lehrplan. Das halte ich für falsch. Anständiger Umgang miteinander, das bedeutet niemals Schonung vor intellektueller Herausforderung – schon gar nicht an einer Universität!

Aber umgekehrt sage ich denen, die die vielgescholtene Political Correctness schon zum Kampfbegriff erkoren haben: Political Correctness heißt nicht zwangsläufig Feigheit oder Sprachpolizei, sondern ist zuerst einmal Ausdruck von mühsam erworbener Zivilität und historischer Sensibilität. Und ich finde, wir sollten sie nicht ganz leichtfertig über Bord werfen!

Demokratie lernen, das geht nur in Freiheit und Verantwortung! Wenn in unserer digitalen Wissensgesellschaft bald gut die Hälfte eines Jahrgangs an die Hochschulen geht, dann tragen die Hochschullehrer große Verantwortung für die Zukunft der Demokratie! Manche sagen, dass das Universitätsstudium nach den Reformen der vergangenen Jahrzehnte heute eher einer All-inclusive-Kreuzfahrt gleicht denn einer individuellen Abenteuerreise. Gemeint ist wohl: eine Reise ohne die Erfahrungen, die zur Verortung über den künftigen Platz in der Gesellschaft notwendig sind.

Ich halte das für etwas übertrieben. Aber: Bei aller Strukturierung und Leistungssteigerung durch Bologna, mit Bachelor und Master, Modulen und Benotung, da ist doch eines wichtig: die Freiheit bei der Wahl des Studienwegs, die Freiheit zur Debatte und die Freiheit zum Austausch, auch über die Grenzen des eigenen Fachs, der eigenen Hochschule und des eigenen Landes hinweg. All diese Freiheiten, liebe Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer, die gilt es zu schützen und zu pflegen, wenn wir, wie Schiller es in seiner Antrittsvorlesung in Jena ausgedrückt hat, nicht nur Brotgelehrte wollen, sondern philosophische und – vermutlich würde er heute ergänzen – auch demokratische Köpfe.

Sie tragen hier eine große Verantwortung, in den Präsidien, Fakultätsräten und an Ihren Lehrstühlen. Selbstverständlich haben Sie dabei Anspruch auf ein stabiles materielles Fundament, auf gute finanzielle Grundlagen. Sie müssen es sogar einfordern. Internationale Wettbewerbsfähigkeit und echte Spitzenforschung, wie wir alle sie uns wünschen, genauso aber geistige Unabhängigkeit und Kreativität – all das bedarf einer angemessenen Ausstattung. Der Staat trägt vor allem dafür die Verantwortung – und es ist gut, ihn immer wieder daran zu erinnern. Ich finde allerdings, unser Land muss sich nicht verstecken. Gerade nach den Investitionen in Wissenschaft und Forschung, die uns in den letzten anderthalb Jahrzehnten – sowohl in der Breite wie in der Exzellenz – wieder in die akademische Oberliga zurückgebracht haben. Und ich bin zuversichtlich, dass wir auch in Zukunft diesem Anspruch gerecht werden.

Liebe Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer, ich würde mir wünschen, dass Sie Ihre Übungen, Vorlesungen und Seminare immer auch als Chance sehen, der Verantwortung von Wissenschaft gegenüber Gesellschaft und Demokratie gerecht zu werden! Dazu gehört zweifelsohne, dass wir ein Klima an der Universität haben, das Diskurs und Debatte fördert. Dass wir Lehre von höchster Qualität brauchen – eine Lehre, die zur Diskussion einlädt. Ich bin mir sicher, dass dieser Anspruch Sie hier in Bonn bereits heute in Ihrem Handeln leitet. Ich glaube allerdings, dass es damit allein nicht getan ist. Wir müssen doch grundsätzlich debattieren und definieren, was wir von der akademischen Lehre im 21. Jahrhundert erwarten. Wozu soll ein Studium heute dienen? Welche Fähigkeiten in Denken und Handeln soll es in Zukunft vermitteln? Und was muss die akademische Lehre leisten, um all diesen Ansprüchen gerecht zu werden? Können wir es dem Zufall überlassen, ob ein guter Wissenschaftler auch ein guter Lehrer ist? Müssen wir neue Wege der Befähigung zur Lehre finden, wie das manche fordern und an vielen amerikanischen akademischen Einrichtungen schon stattfinden? Antworten auf diese Fragen zu finden, dazu will ich Sie heute ermutigen!

In der Unabhängigkeit der Wissenschaft, in der Freiheit des Geistes, darin liegt das Erbe der europäischen Aufklärung. Es war das Fundament des Humboldt’schen Ideals, das für zwei Jahrhunderte weltweit die Entwicklung der Universitätslandschaft beeinflusst, sogar geprägt hat. Aber keine Frage: Die Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens und Forschens haben sich in diesen zwei Jahrhunderten verändert. Mit der breiten Öffnung der Universität – Sie merken, ich vermeide das Wort Massenuniversität –, der Schaffung gewaltiger Forschungskapazitäten außerhalb der Universitäten, dem Bologna-Prozess – um nur drei Stichworte zu nennen – hat sich die akademische Infrastruktur signifikant verändert.

Aber nicht nur um Veränderung geht es mir heute, sondern vielmehr um das, was bleibt, besser, was bleiben muss: die Freiheit wissenschaftlicher Forschung als Freiheit von staatlicher Einflussnahme und Begrenzung. Das garantiert heute unsere Verfassung in Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes – sogar ohne verfassungsunmittelbare Schranken. Bei dieser Garantie handelt es sich weder um ein Geschenk noch um Selbstzweck. Vielmehr verkörpert sich darin das Interesse, ja sogar die Hoffnung einer modernen, auf Zukunft ausgerichteten Gesellschaft, dass erst Unabhängigkeit und Freiheit von staatlichen Vorgaben die Kreativität wissenschaftlicher Forschung entfaltet und so die Voraussetzungen für zivilisatorischen Fortschritt schafft.

Die Unabhängigkeit vom Staat ist garantiert; für die Unabhängigkeit von anderen muss die Wissenschaft selbst sorgen. Und – soweit ich das beurteilen kann – gelingt ihr das. Wenn gelegentlich nach den Konsequenzen weitreichender Drittmittelfinanzierung in einzelnen Forschungsbereichen gefragt wird, sollte sich niemand beklagen. Solche Fragen lassen sich beantworten. Wichtig ist nur, dass Universität und Forschungseinrichtungen sich der Bedingungen ihrer Unabhängigkeit bewusst sind und sie in jede Richtung verteidigen!

Freie und unabhängige Wissenschaft macht unsere moderne Gesellschaft überhaupt erst möglich. Ohne starke Wissenschaft wäre unser Land nicht überlebensfähig. Erst sie macht uns zum Partner im internationalen wissenschaftlichen Austausch, auf den wir angewiesen sind. Erst sie legt das Fundament für Innovationen und Perspektiven für kommende Generationen. Und erst die Kombination von akademischer Freiheit und Forschergeist in Verantwortung schafft die Freiräume, in denen Gesellschaft sich ihrer selbst versichern kann.

Wir brauchen dafür die großen Debatten, auch die Kontroverse – aber vor allem dürfen die großen Debatten in unserem Land nicht aus Angst vor Komplexität in einen Wettbewerb der einfachen Antworten abdriften!

Dazu brauchen wir Sie, weil wir Antworten brauchen, die tragen. Und wir brauchen vor allem den Prozess, in dem sie entstehen. Ein Prozess, der glaubwürdig ist, weil er sich nicht in den Dienst vordergründiger politischer oder anderer Interessen nehmen lässt. Ein auf Argumente und Fakten gestützter Prozess, an dem sich die Akteure mit dem Selbstverständnis und dem Ehrgeiz beteiligen, an der Produktion von Wahrheit mitzuwirken. Die Akzeptanz von Wissenschaft – sie ist angefochten im Zeitalter von gefühlten Wahrheiten und zuweilen vernichtender Kritik am politischen, wirtschaftlichen, auch am wissenschaftlichen Establishment. Deshalb ist die Glaubwürdigkeit des Prozesses – mehr noch als jedes einzelne Ergebnis – entscheidend dafür, ob und in welchem Umfang Wissenschaft respektiert und ihre Ergebnisse akzeptiert werden.

Dazu gehört auch, dass wir Fragen nicht ausweichen. Wo Wissenschaft und Forschung an den und jenseits des Horizontes unserer Vorstellungskraft vordringen, insbesondere wo sie grundsätzliche ethische Fragen aufwerfen, die – wie etwa bei Biogenetik und künstlicher Intelligenz – Unsicherheit und Abwehr hervorrufen, müssen wir versuchen, gesellschaftliche Fragen zu beantworten, statt sie zu ignorieren.

Ich glaube nicht an den gelegentlich gestreuten Verdacht, dass die Deutschen prinzipiell fortschrittsfeindlich oder technikängstlich sind. Wäre es so, wären die Wirklichkeit unserer Forschungslandschaft, und die Modernität unseres Landes kaum zu erklären! Aber etwas mehr Zuversicht, dass offene Fragen auch zu beantworten, dass Risiken beeinflussbar sind, dass Zukunft – trotz aller Veränderungen – gestaltbar bleibt: Das wünsche ich mir von den Deutschen schon!

Ganz am Ende: Wenn Universitäten – neben ihrer zentralen Rolle in der Academia – auch Orte der Demokratie sind – sein müssen, dann reicht ihre Verantwortung weiter als Labor und Vorlesungssaal! Ich wünsche mir Hochschulen mit selbstbewussten Menschen und überzeugten Demokraten, die an der Universität arbeiten, in der Universität das Denken und Debattieren lernen, und – auch das – die aus der Universität heraus in die Gesellschaft wirken! Wir brauchen kluge Ideengeber aus der Wissenschaft nicht nur in Forschung und Lehre, wir brauchen sie in den öffentlichen Debatten unserer Zeit. Die Wissenschaft muss den Raum ausfüllen, den ihr die Demokratie zugesteht!

Vielleicht – und damit will ich schließen – können Sie alle im Wirken der Universität nach außen ja auch eine Chance sehen, um den Wert von Forschung und Lehre in Demokratie und Freiheit zu vermitteln, um teilzuhaben an den großen Fragen, den prägenden Debatten, den Aushandlungsprozessen, die Gesellschaften im Großen ganz genauso bewegen wie die Universitäten im Kleinen.

Die Universität Bonn schaut heute stolz auf 200 Jahre Geschichte. Aber sie darf vor allem stolz darauf sein, wie weit sie in diesen 200 Jahren gekommen ist – und was sie heute beiträgt zum Ansehen dieser Stadt, zur Innovationsfähigkeit und zum Wohlstand dieses Landes.

Am meisten aber kann die Universität beitragen zu einer selbstbewussten, aufgeklärten und freiheitlichen Demokratie – weil nur in der Demokratie die Freiheit von Wissenschaft und Forschung ihren dauerhaften Platz findet. Dass uns das unter sich verändernden Bedingungen immer wieder aufs Neue gelingt, das wünsche ich Ihnen und unserem Land. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!