Deutsch-Spanisches Forum 2018

Schwerpunktthema: Rede

Madrid/Spanien, , 24. Oktober 2018

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 24. Oktober beim Deutsch-Spanischen Forum 2018 in Madrid eine Ansprache gehalten: "Auch die größeren Länder in der Europäischen Union werden auf der sich verändernden Weltbühne mit neuen Schwergewichten nicht gehört, wenn sie nicht ihr ganzes Gewicht als Europa auf die Straße bringen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nimmt am am Deutsch-Spanischen Forum im Palace Hotel in Madrid anlässlich des Besuchs im Königreich Spanien teil

Ich habe gerade mit der Präsidentin des Parlaments darüber gesprochen, warum solche Besuche wichtig sind, und ich glaube – das ist jedenfalls die Summe meiner politischen Erfahrungen –, wir müssen uns in der Politik natürlich um Krisen kümmern. Und wir müssen uns auch um problematische Nachbarn kümmern. Aber wir vergessen dabei manchmal, die Beziehungen zu denjenigen zu pflegen, zu denen die Beziehungen problemfrei sind und funktionieren.

Warum ist das wichtig? Weil wir am Ende, wenn wir europäische Krisen lösen wollen, uns auf gut funktionierende Beziehungen zwischen einigen Partnern verlassen müssen. Und deshalb bin ich froh, dass wir, Majestät, diesen Termin haben vereinbaren können und dass so viel Zeit zum Austausch zur Verfügung steht. Die Gespräche des heutigen Tages mit Ihnen – mit dem Ministerpräsidenten, mit den Abgeordneten fast aller Fraktionen im Parlament –, die haben mir noch einmal ausdrucksvoll bestätigt, wie nah sich Deutschland und Spanien im Grunde sind.

Wir sind in allen großen Fragen gleichgesinnt, und dennoch: Das Potenzial, das in unseren beiderseitigen Beziehungen steckt, ist ziemlich sicher für die Zukunft noch nicht ausgeschöpft. Deshalb verstehe ich meinen offiziellen Besuch hier in Spanien natürlich auch als einen Beitrag, um diesen traditionellen Beziehungen zwischen unseren Ländern nochmal einen frischen Impuls zu verleihen, und ich freue mich, mit Ihnen darin einen Verbündeten zu haben.

Die aktuellen Entwicklungen in Europa geben uns in der Tat Anlass zur Sorge. Das war in meinen Gesprächen heute in Madrid überall zu spüren. Der wachsende Druck von außen durch Probleme in unserer unmittelbaren Nachbarschaft oder politische Unberechenbarkeit bei wichtigen Verbündeten, die zunehmende Polarisierung innerhalb unserer eigenen Gesellschaften in den meisten europäischen Mitgliedsländern und vielleicht auch eine Krise der europäischen Solidarität. Mit all dem kämpfen wir im Augenblick, und die vier Gründe zusammengenommen sind es vielleicht, warum wir es im Augenblick so schwer haben, das gemeinsame Verständnis für den Zusammenhalt unserer Europäischen Union in vielen zentralen Fragen, die heute Gesprächsthema waren, tatsächlich zu wahren.

Aber wie so oft in einer akuten Krise ist es hilfreich, den Blick etwas zu weiten. Für Spanien wie für Deutschland ist die Europäische Union entscheidend verbunden mit der Festigung unserer Demokratien. Für die Bundesrepublik Deutschland ebnete die Zusammenarbeit in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nach dem Zivilisationsbruch von Nationalsozialismus und Holocaust, eröffnete erst diese europäische Zusammenarbeit überhaupt die Rückkehr in die Völkerfamilie. Und für Spanien waren die Beitrittsperspektive und 1985 dann der Beitritt zur EWG ein wichtiger Motor der transición democrática, ein entscheidender Schritt, wenn ich das so sagen darf, auf dem Weg zur Demokratie nach Franco. In diesem europäischen Projekt fanden unsere beiden Länder – so unterschiedlich unsere Geschichte und geographische Lage auch sind – ihren festen Sitz, ihren festen Platz, ihre feste Rolle. Nicht durch Aufgabe ihrer nationalen Identität, sondern durch Hinzugewinnen einer zusätzlichen, einer europäischen Identität.

Wir blicken von Deutschland aus mit großem Respekt auf Spaniens europäisches Engagement. Spanien hat keine einfachen Jahre hinter sich, aber es hat sich immer den klaren Blick auf den Wert der europäischen Einigung bewahrt. Der zurückgelegte Weg der wirtschaftlichen Konsolidierung ist eindrucksvoll, und ich weiß, dass er vielen Menschen hier im Lande vieles abverlangt hat. Aber selbst in schwierigen Zeiten hat man sich hier nicht von Europa abgewandt, sondern die eigene Zukunft in Europa gesucht und gesehen.

Auch im Umgang mit den Herausforderungen von Flucht und Migration kann Europa viel von Spanien lernen. Mir scheint, hier ist es besser als anderswo in der Union gelungen, die angemessene Balance zu finden, zwischen dem selbstverständlichen Schutz für Menschen, die vor politischer Verfolgung, vor Krieg und Bürgerkrieg flüchten, einerseits, und der Notwendigkeit, die Zuwanderung vieler anderer, die auf der Suche nach besserem Leben sind, nach klaren Kriterien zu regeln, andererseits. Dazu gehören auch ein konsequenter Schutz der europäischen Außengrenze und eine pragmatische Zusammenarbeit mit den Staaten Nordafrikas. Nur diese klare Unterscheidung wird uns auch helfen, in ganz Europa die richtige Balance zu finden, zwischen humanitären Schutzverpflichtungen und der Aufnahmewilligkeit und der Aufnahmefähigkeit der Einwanderungsgesellschaft. Und Spanien ist uns da ein gutes Stück voraus.

Wir müssen unseren Blick aber auch in die Zukunft weiten. Majestät, Sie haben es getan. Europas Wohlstand beruht eben nicht auf Bodenschätzen, sondern auf seinem Ideen- und Erfindungsreichtum. Wenn wir heute auf die treibenden Kräfte der digitalen Revolution schauen, dann steht Europa jedenfalls nicht im Zentrum dieser Entwicklung. Ich bin persönlich sehr dafür, die Folgen der Digitalisierung aus beiden Aspekten – gesellschaftlich und wirtschaftlich – zusammenzudenken. Und ich bin skeptisch gegenüber einer Haltung, in der die einen vor allem auf die ökonomischen Chancen von Innovationen schauen und andere – gemeint ist die Politik – für die Bewältigung der gesellschaftlichen Folgen sorgen. Ich glaube, in dieser Art von Arbeitsverteilung wird das nicht funktionieren, sondern wir müssen beides von Anfang an zusammenzudenken.

Natürlich müssen wir bei alldem sehen, dass bei aller Notwendigkeit kluger Regulierung Europa den technologischen Anschluss nicht verpassen darf. Innovation, Folgenabschätzung, wirtschaftliche Dynamik, verantwortliche Regulierung – das muss alles Hand-in-Hand-Gehen und nicht in Zeitabschnitten mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten und der Notwendigkeit, immer wieder neu und nachzusteuern. Auch hier eröffnet uns der größere Rahmen der europäischen Zusammenarbeit überhaupt erst das Gewicht, uns auf der Weltbühne zu behaupten und Gehör zu finden. Mit anderen Worten: Auch die größeren Länder in der Europäischen Union werden auf der sich verändernden Weltbühne mit neuen Schwergewichten nicht gehört, wenn sie nicht ihr ganzes Gewicht als Europa auf die Straße bringen.

Ich freue mich auf morgen, weil ich natürlich weiß, dass Innovation und Modernisierung nicht nur ein Thema für die großen urbanen Zentren sein kann. Wenn wir uns Gedanken und Sorgen machen über wachsende Polarisierung und einen schwindenden Zusammenhalt in unseren Gesellschaften, und das beobachten wir in Deutschland ganz genauso wie in Spanien und anderswo, dann darf uns eben auch gerade die Zukunft der sogenannten ländlichen Regionen nicht gleichgültig sein.

Ich bin derzeit viel in Deutschland unterwegs, auch abseits der Stadtzentren, abseits von dem Leben, in dem Digitalisierung schon den Alltag bestimmt. In diesen ländlichen Gegenden, in denen es oft an einer verlässlichen Internetverbindung fehlt, wo kein Arzt mehr vorhanden ist oder der Weg dahin weit ist, da, wo es auch innovative Ideen schwerer haben als in der Stadt. Gegenden, in denen die Menschen mitunter das Gefühl haben, abgehängt zu sein, oder mit der rasanten Entwicklung, die in Berlin oder in Madrid stattfindet, nichts zu tun zu haben, und die sich deshalb vielleicht selbst eher als Opfer denn als Gestalter ihres Schicksals begreifen.

Hier müssen wir nach Antworten suchen, wenn wir eine weitere Polarisierung unserer Gesellschaft vermeiden wollen. Die Antworten sind nicht einfach zu finden, aber ich glaube, in der Kooperation Deutschland-Spanien werden wir sie dennoch einfacher finden, als wenn jeder nur auf eigene Faust arbeitet. Und natürlich kann auch solche Antworten nicht die Politik ganz alleine formulieren. Ich freue mich jedenfalls darauf, morgen in der Extremadura, in Badajoz und in Mérida, im ländlichen Spanien unterwegs zu sein, und meine Erfahrungen aus Deutschland mit den Ideen und Entwicklungen, die wir morgen sicherlich sehen werden, vergleichen zu können.

Wir müssen uns im Großen wie im Kleinen – in der Europäischen Union wie auch in den ländlichen Kommunen – bemühen, um eine Perspektive auf Zukunft, eine Perspektive, die Mut macht, die Zukunft stiften kann. Der verbreiteten – und gefährlichen, weil irreführenden – Nostalgie, dass die Lösungen in der Vergangenheit liegen. Dieser Nostalgie können wir nur mit überzeugenden Ideen für die Zukunft wirklich wirkungsvoll begegnen. Dazu sind Spanien und Deutschland gemeinsam aufgefordert – gerade weil wir aus unserer eigenen Vergangenheit um den großartigen Wert des geeinten Europas wissen. Und auch deshalb bin ich Ihnen so dankbar für die Veranstaltung dieses Forums und dafür, dass wir eingeladen worden sind. Ich wünsche Ihnen, dass Sie diese Arbeit mit dem Engagement, das Sie hier zeigen, in der Zukunft weiterhin fortsetzen.

Herzlichen Dank.