Gedenkveranstaltung "Pogrom 1938"

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 9. November 2018

Der Bundespräsident hat am 9. November bei der Gedenkveranstaltung "Pogrom 1938" in der Akademie der Künste in Berlin eine Ansprache gehalten: "Antisemitismus darf keinen Raum erhalten in dieser Gesellschaft, die den Schutz der Menschenwürde an die erste Stelle setzt. Dies gilt für alle, die in diesem Land mit uns leben und leben wollen. Dafür stehen wir im Wort. Es ist das Wort unserer Verfassung. Und wir werden es nicht preisgeben. Niemals."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält bei der Gedenkveranstaltung "Pogrom 1938" in der Akademie der Künste in Berlin eine Ansprache

Erst vor wenigen Tagen haben wir von dem schrecklichen Anschlag in Pittsburgh gehört. Bei mir kam zu dem Entsetzen über die hasserfüllte Tat und die Trauer über den Tod so vieler Menschen noch etwas anderes. Es war die Angst um einen Freund, der vor 80 Jahren mit seiner Familie dieses Land verlassen musste, schon damals, um sein Leben zu retten. Ich habe Walter Jacob kennengelernt, als die Synagoge in Augsburg ihr 100-jähriges Bestehen feierte. Sein Vater war Rabbiner der Augsburger Synagoge, er selbst ist unter diesem Dach aufgewachsen – bis zu jenem 9. November 1938. Die Familie konnte fliehen, erst nach London, dann in die USA, und Walter Jacob wurde selbst Rabbiner einer Gemeinde in Pittsburgh, wo er bis heute lebt. Und er lebt. Es ist ihm – Gott sei Dank – nichts geschehen. Aber ich will diese Rede nicht beginnen, ohne ihm und seinen Freunden zu sagen, dass wir den doppelten Schmerz, den dieses Verbrechen für ihn bedeuten muss, mit ihm teilen. Wir alle trauern in diesen Tagen um die Opfer von Pittsburgh und sind mit unseren Gedanken bei ihren Familien und den Menschen dieser Stadt.

Liebe Jeanine Meerapfel,

es ist schwer, schreiben Sie in Ihrem Vorwort zum Buch von Michael Ruetz, es ist schwer, sich die Angst und die Verzweiflung vorzustellen, die diese Nacht ausgelöst hat. Wenn ich versuche, mir das Geschehen vor Augen zu führen, das plötzlich alles in Frage stellte, jede Lebensordnung, jede Gewissheit, jede Selbstverständlichkeit des Alltags, packt mich die blanke Angst. Du bist Jude, schreibt Jeanine Meerapfel, und plötzlich existiert kein sicherer Ort mehr. Keine Tür, keine Mauer schützt dich vor dem Hass. Niemand kommt zur Hilfe. Alle glotzen.

Die Bilder, die Michael Ruetz und Astrid Köppe zusammengetragen, bearbeitet und in einem Bildband herausgegeben haben, zeigen dieses Glotzen, wir können es betrachten: das neugierige Glotzen und das belustigte, das unsichere, das begeisterte und das hämische Glotzen.

Denn die Demütigung der jüdischen Bevölkerung fand hier in Berlin, Hamburg, in München, Frankfurt und anderen Großstädten des Deutschen Reichs, aber auch in kleinen und kleinsten Ortschaften am helllichten Tag und auf offener Straße statt. Heute vor 80 Jahren, am 9. November 1938.

Ruetz‘ Bilder erinnern uns daran, dass die Gewalt und die Plünderung, die Brandschatzung und Zerstörung jüdischen Eigentums vor aller Augen geschahen, nicht im Schutz der Dunkelheit und auch nicht in einer einzigen Pogromnacht. Und aus den Zeugnissen der Zeit wissen wir, dass nicht nur SA-Mitglieder und NSDAP-Funktionäre wüteten. Wir wissen, dass auch Nachbarn zu Plünderern und Tätern wurden.

Es waren Tage. Tage, in denen sehr viel verloren ging: Freunde, Nachbarn, Eigentum, Heimat, Vertrauen, Sicherheit und Schutz. Viele verloren ihr Leben.

Verloren ging auch das, was wir Würde nennen. Den Opfern sollte sie genommen werden. Ihre Peiniger entwürdigten sich durch das, was sie taten.

Fünf Jahre nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten hatte die deutsche Gesellschaft in diesen Novembertagen 1938 die Gelegenheit, sich selbst bei Lichte zu besehen. Was wir heute sehen, sind Bilder einer Deformation. Sie entsetzen uns, weil sie zeigen, was Menschen Menschen antun, oder noch genauer: Was sie bereit sind, hinzunehmen ohne einzugreifen. Und weil deutlich wird, wie ansteckend Hass sein kann.

Die Bilder offenbaren die Schutzlosigkeit der Opfer, ihren Horror und ihre Angst. Diese Bilder geben eine Vorahnung für das, was dieser Entrechtung folgen sollte: Vertreibung, Folter und Mord. Barbarei und millionenfacher Tod, den Nazideutschland über ganz Europa brachte.

Die Bilder aus diesen Tagen entsetzen uns aber auch, weil wir merken, dass Täter und Augenzeugen sich in Sicherheit glauben. Ein Pogrom ist das zu Wut, Hass und Gewalt gesteigerte Ressentiment. Niederste Instinkte werden bedient – Habgier und Grausamkeit angestachelt. Aber wer glaubt, das in den Gesichtern der Zuschauer zu erkennen, der irrt. Eher entdeckt der Beobachter in den Gesichtern der Gaffer ein behagliches Gefühl beim Betrachten des Unglücks anderer.

Und das ist der Abgrund, in den wir blicken. Das erschreckt uns, und zu Recht. Denn jener Zivilisationsbruch ist hier schon erkennbar, der nach Auschwitz führte. Wir Nachgeborenen wissen, dass diese Bilder nicht irgendein Geschehen, nicht längst schon Vergangenes zeigen. Wir wissen, dass es hier geschah, nirgendwo sonst, dass Urgroßväter und -mütter unter den Tätern und Augenzeugen waren. Wir wissen, was danach geschah und dass diese im Bild festgehaltene Vergangenheit zu uns gehört.

Wir wollen gern heraustreten aus dieser Menge, aus diesem oder jenem Bild, aber die Bilder halten uns fest.

Sie halten uns fest, wie sie auch Jeanine Meerapfel festhalten. Sie wurde 1943 in Buenos Aires in eine jüdisch-deutsche Familie geboren, die fliehen konnte. Und sie weiß, dass ein Schrecken, der vergangen ist, deshalb nicht verschwindet.

Wir haben uns daran gewöhnt, im Zusammenhang mit den Pogromen im November 1938 von Ungeist und Unkultur der Nationalsozialisten zu sprechen. Auf diese Weise scheiden wir die Barbarei von dem, was wir Kultur nennen, von dem, was wir sind oder doch sein wollen. Diese Unterscheidung zu machen, ist wichtig. Sie verleitet allerdings auch zu dem Irrtum, man könne die Unkultur von der eigenen Geschichte und Identität abtrennen und sie so dem Vergessen überlassen. Wir hören wieder und immer häufiger, dass das Erinnern an die Verbrechen rückwärtsgewandt und dominierend sei, die glorreiche Vergangenheit verdränge und schon deshalb ein Ende haben müsse.

Doch das Verbrechen an den europäischen Juden gehört zur deutschen Geschichte und Identität unabtrennbar dazu. Deshalb wird es in Deutschland heute und in Zukunft kein Ende des Erinnerns geben!

Es gehört schon deshalb dazu, weil das Menschheitsverbrechen an den Juden einen unersetzlichen Verlust auch für die deutsche Kultur bedeutete. Die Geschichte dieses Hauses, der Akademie der Künste, weiß davon zu erzählen. Ihr Vorgänger, die Preußische Akademie der Künste, verlor zwischen 1933 und 1938 41 Mitglieder – ausgeschlossen, weil sie Juden oder politisch nicht opportun waren.

Jede Erinnerung an die Zeit nationalsozialistischer Herrschaft ist eine Erinnerung auch an diesen Verlust. Sie ist verbunden mit dem Eingeständnis, dass etwas fehlt, uns allen fehlt, in der Kunst, in der Musik und in der Literatur, das nicht gemalt, nicht komponiert und nicht geschrieben wurde.

Der Verlust ist unwiederbringlich. Er ist eine Wunde, die sich nicht mehr schließen wird. Das Erinnern an die Verbrechen, an die Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der Juden rührt deshalb immer auch an diesen Schmerz.

Ihn anzunehmen, gehört zu unserer Identität, gehört zum Grundverständnis unseres Staates und gehört zum Selbstverständnis unserer Verfassung. Dieser Schmerz ist eingegangen in den Satz, mit dem sie beginnt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Jeanine Meerapfel aber fragt in ihrem Vorwort zum Buch von Michael Ruetz auch: Kann man in diesem Land leben? In einem Land, in dem es noch immer antisemitische Übergriffe gibt, in dem Angriffe auf jüdische Mitbürger und jüdische Einrichtungen zahlreicher geworden sind?

Die Frage Kann man als Jude in diesem Land leben? verlangt nach einer Antwort und als Staatsoberhaupt dieses Landes sage ich: Es ist unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass sie kein Jude in Deutschland mit Nein beantwortet. Ich möchte mit Ihnen, liebe Frau Meerapfel, mit den Bürgerinnen und Bürgern an unserer Seite und im Namen unseres Staates bekräftigen, dass dieses Land sich auch in Zukunft erinnern will, dass wir Ausschreitungen, wie sie Michael Ruetz‘ Bilder zeigen, nicht dulden, und dass wir dem Antisemitismus Widerstand leisten, in welcher Form auch immer er sich zeigt!

Denn in einem Land, in dem Juden nicht leben können, können und wollen wir alle nicht leben. Oder anders und besser formuliert: Nur wenn Juden sich in Deutschland sicher und zuhause fühlen, ist auch diese Bundesrepublik vollkommen bei sich.

Antisemitismus darf keinen Raum erhalten in dieser Gesellschaft, die den Schutz der Menschenwürde an die erste Stelle setzt. Dies gilt für alle, die in diesem Land mit uns leben und leben wollen. Dafür stehen wir im Wort. Es ist das Wort unserer Verfassung. Und wir werden es nicht preisgeben. Niemals.