Verleihung des Großen Verdienstkreuzes mit Stern und Schulterband an Rudolf Seiters

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 13. November 2018

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 13. November bei der Verleihung des Großen Verdienstkreuzes mit Stern und Schulterband an Rudolf Seiters in Schloss Bellevue eine Ansprache gehalten: "Sie haben tiefe Spuren hinterlassen. Wie nur bei wenigen anderen verbindet sich Ihr Name mit großen zeitgeschichtlichen Ereignissen. Mehr noch: Sie haben Zeitgeschichte geschrieben. Dafür möchte ich, dafür möchten wir alle Ihnen heute unseren großen Dank sagen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei der Verleihung des Großen Verdienstkreuzes mit Stern und Schulterband an Rudolf Seiters im Langhanssaal von Schloss Bellevue

Ein Großes Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband: Diese hohe Stufe des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland vergeben wir nicht jeden Tag – meine Ordenskanzlei wacht darüber mit Argusaugen. Ich habe es in diesem Jahr bisher nur ein einziges Mal verliehen. Heute ist es wieder so weit. Falls es also noch eines Beweises bedurft hätte: Allein das zeigt, welch besonderen Gast wir heute hier in Bellevue begrüßen – herzlich willkommen, lieber Rudolf Seiters!

Abgeordneter, Parlamentarischer Geschäftsführer, stellvertretender Fraktionsvorsitzender, Vizepräsident des Deutschen Bundestages, Chef des Bundeskanzleramtes und Minister für besondere Aufgaben, Bundesinnenminister und zuletzt – 14 Jahre lang – Präsident des Deutschen Roten Kreuzes – es gibt nur wenige Menschen, die die politischen Geschicke unseres Landes maßgeblich mitgestaltet und zugleich in herausragender Weise soziale Verantwortung übernommen haben.

Sie haben tiefe Spuren hinterlassen. Wie nur bei wenigen anderen verbindet sich Ihr Name mit großen zeitgeschichtlichen Ereignissen. Mehr noch: Sie haben Zeitgeschichte geschrieben. Dafür möchte ich, dafür möchten wir alle Ihnen heute unseren großen Dank sagen.

Die Schwierigkeit einer Laudatio auf einen so verdienstreichen Staatsmann wie Rudolf Seiters besteht darin, einerseits Vollständigkeit in Bezug auf seine Ämter zu wahren, andererseits die Geduld der Zuhörer und – in erster Linie – des zu Ehrenden nicht mit einer halbstündigen Rezitation der Vita zu beanspruchen.

Für mich ist das einfacher, lieber Herr Seiters. Wir haben uns gar nicht auf der großen Bonner oder Berliner Bühne kennengelernt, sondern bei Ihnen zu Hause. Bei Kaffee und Kuchen in Ihrem schönen Wintergarten. An diesen schönen Tag und das entspannte Gespräch mit Ihnen und Ihrer Frau erinnere ich mich bis heute. Damals ging es um so praktische Dinge wie die Wirtschaft und Arbeitsplätze im Emsland, auch um die A31. Und darum, was zu tun ist, um einer großen Schiffswerft, die unglücklicherweise 50 Kilometer im Inland liegt und über die kleine Ems mit der Nordsee verbunden ist, die wirtschaftliche Zukunft zu sichern und sie als wichtigen Arbeitgeber in der Region zu halten. Das, lieber Herr Seiters, hat uns immer verbunden – über alle Themen hinweg, die in den Jahren danach hinzugewachsen sind.

Lieber Herr Seiters, ich zitiere einen Zeitgenossen von Ihnen: Er sagt nicht viel, aber er macht viel, dieser Ruf eilte Ihnen seit Beginn Ihrer politischen Tätigkeit voraus. Und begonnen hat es natürlich im Emsland. 33 Jahre haben Sie diesen Wahlkreis, nach der Wahlkreisreform den der Unterems, im Deutschen Bundestag vertreten. Parlamentarier mit Leib und Seele – das waren Sie. Und Sie haben sich in diesen vielen Jahren über die Fraktionsgrenzen hinweg höchste Anerkennung erworben. Vor allem – was wahrscheinlich eine noch größere Leistung ist, das darf ich als ehemaliger Fraktionsvorsitzender sagen – waren Sie auch innerhalb ihrer eigenen Fraktion sehr beliebt. Von Ihrer Wahl zum Fraktionsgeschäftsführer im Jahr 1984 ist jedenfalls überliefert, dass Ihr Vorgänger im Amt scherzhaft mahnte, man solle aufpassen, dass Sie nicht mehr Stimmen bekämen, als die Fraktion überhaupt Mitglieder habe.

Im Frühjahr 1989 wurden Sie Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Kanzleramts. Als Bundeskanzler Kohl Sie persönlich anrief und Ihnen dieses Amt antrug, mähten Sie gerade im heimischen Papenburg den Rasen und waren, so beschreibt es Ihre Tochter Sarah, von oben bis unten mit Gras übersät. Rudi Seiters, was machen Sie gerade?, schallte es aus dem Hörer. Sie antworteten: Herr Bundeskanzler, ich mähe den Rasen. Daraufhin der Bundeskanzler: Das ist eine sehr verdienstvolle Tätigkeit, aber wir haben auch verdienstvolle Tätigkeiten in Bonn.

Bei Ihrem Pflichtbewusstsein und Staatsverständnis überrascht es nicht, dass Sie nicht lange zögerten, die eine verdienstvolle Tätigkeit gegen die andere einzutauschen. Als einer Ihrer Nachfolger im Amt kann ich in etwa nachvollziehen, welche Verantwortung Sie als Kanzleramtschef auf ihre Schultern geladen haben.

Sie allerdings konnten sich, damals im Frühjahr 1989, vermutlich noch nicht vorstellen, welch monumentale Aufgaben Sie in den nächsten Monaten zu bewältigen hatten – quasi im Stundentakt Entscheidungen und Reaktionen darauf, keine freien Tage, 16 Stunden Arbeit, wenig Schlaf. Ein Beobachter Ihres politischen Lebens beschrieb diese Zeit – sehr eindrucksvoll, wie ich finde – mit diesen Worten:

Es war die Zeit […] des schnellen Beschlusses und des rastlosen persönlichen Einsatzes. Da waren keine Bahnen und Gleise vorgegeben, die man befahren konnte, sondern hier musste Politik gemacht werden abseits der Pisten, fast im politischen Niemandsland. […] Man musste durch die Dunkelheit des Tunnels hindurch in der Hoffnung, dass irgendwann Licht erscheine.

Am 30. September 1989 sahen Sie zum ersten Mal ein Licht der Hoffnung. Im Garten der Prager Botschaft hatten 5000 Bürgerinnen und Bürger der DDR Schutz gesucht. Auf dem Balkon des Palais Lobkowitz überbrachten Sie zusammen mit Hans-Dietrich Genscher die erlösenden Worte von der Ausreise in die Bundesrepublik. Dieser Tag wurde zum prägenden Moment Ihres politischen Lebens.

Nur wenige Wochen später, abends am 9. November, drang eine andere Nachricht – unglaublich aber wahr – nach Bonn durch: Die Mauer ist offen. Sie standen am Rednerpult des Bundestages und gaben eine Regierungserklärung ab, die heute Teil der Zeitgeschichte geworden ist. Sie sagten, und ich weiß nicht, ob Sie sich damals erträumen konnten, diese Worte jemals auszusprechen: Die vorläufige Freigabe von Besuchs- und Ausreisen ist ein Schritt von herausragender Bedeutung. Damit wird erstmals Freizügigkeit für die Deutschen in der DDR hergestellt. Später erhoben sich die Abgeordneten und stimmten spontan die Nationalhymne an.

An diesem Tag setzte sich eine politische Dynamik in Bewegung, die am 3. Oktober 1990 in die Wiedervereinigung mündete. Auch Ihrem Wirken haben wir es zu verdanken, dass aus dem Traum von der Deutschen Einheit endlich Wirklichkeit wurde.

Lieber Herr Seiters, Ihre politischen Maximen, so berichten Sie in Ihrer Autobiografie, verdanken Sie zum Teil dem ehemaligen Kölner Kardinal Joseph Höffner. Der forderte von Politikern Charakterfestigkeit und Unabhängigkeit, aber auch die Bereitschaft zum Miteinander, zur Versöhnung und zum Kompromiss. Das sind Tugenden, die auch heute der politischen Auseinandersetzung gut tun. Man könnte auch sagen: gut tun würden.

Das gilt insbesondere für ein Thema, das die politische Debatte in den vergangenen Monaten und Jahren maßgeblich geprägt hat: Migration und Asyl. Wenn wir heute wieder über dieses Thema diskutieren, dann sehen wir viele Parallelen zu den Herausforderungen, die Sie als Innenminister Anfang der 1990er-Jahre zu bewältigen hatten. An die schwierigen Beratungen in einer erhitzten öffentlichen Stimmung erinnere ich mich noch gut. Ihr damaliger Leitspruch Das Asylrecht muss den Verfolgten dienen gilt fort – und sollte uns auch heute Maßstab sein.

Ganz nebenbei finde ich es gut, dass sich die Bundesregierung nach der Koalitionsvereinbarung auf den Weg gemacht hat, ein neues Zuwanderungsgesetz zu schaffen und damit den Zugang von denjenigen zu regeln, die aus anderen als politischen Gründen nach Deutschland kommen.

Ihr Amt als Innenminister haben Sie 1993 aus freien Stücken zur Verfügung gestellt. Mit Blick auf die Ereignisse in Bad Kleinen, bei denen zwei Tote zu beklagen waren, sagten Sie damals: Es gibt in Deutschland zu Recht den Begriff der politischen Verantwortung. Wer soll diese politische Verantwortung übernehmen, wenn nicht ein Minister? Ihr Rücktritt war für Sie persönlich schmerzhaft, aber für die politische Kultur in Deutschland haben Sie mit Ihrer persönlichen Entscheidung Maßstäbe gesetzt. Dadurch haben Sie sich höchsten Respekt erworben und dafür gilt Ihnen auch heute unser Dank.

Nach Ihrem Ausscheiden aus dem Bundestag haben Sie sich 2003 als Präsident des Deutschen Roten Kreuzes in die Pflicht nehmen lassen. Und erneut haben wir viele Berührungspunkte gehabt. Neben vielen anderen internationalen Krisen wurde Ihre Amtszeit maßgeblich durch die Herausforderungen der Flucht- und Migrationsbewegungen infolge des Bürgerkriegs in Syrien geprägt. Ich erinnere mich gut an meine Außenministerzeit, in der wir häufig gemeinsam darum gerungen haben, Spenden und öffentliche Mittel einzuwerben, um dringend notwendige Soforthilfe zu leisten.

Aber auch hier in Deutschland haben wir den zehntausenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, sowie den Freiwilligen des DRK viel zu verdanken. In unzähligen Überstunden haben sich Ihre Kolleginnen und Kollegen für die bestmögliche Betreuung der zu uns Geflüchteten eingesetzt. Ohne das Deutsche Rote Kreuz wäre diese Aufgabe nicht zu meistern gewesen!

Besonders bewegt haben Sie auch die vielen Naturkatastrophen in den vergangenen Jahren: der verheerende Tsunami in Südasien 2004, das schreckliche Erdbeben in Haiti und der Wirbelsturm auf den Philippinen, die Not und Verzweiflung von tausenden Menschen im Jemen, in Bangladesch, oder am Horn von Afrika – und bewegt hat Sie die Spendenbereitschaft der Deutschen, diese Not zu lindern.

Dem Leid und der Not in der Welt etwas entgegenzusetzen, mit Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe – daran hatte das DRK unter Ihrer Präsidentschaft großen Anteil.

Rudolf Seiters hat in seinem politischen Leben und in der Zeit, in der andere den Ruhestand genießen, Beeindruckendes für die Bundesrepublik Deutschland geleistet. Und so bewahrheitet sich, was der Bonner FAZ-Korrespondent Walter Henkels bereits im April 1973, wenige Jahre nach Ihrem Einzug in den Bundestag festhielt: Wir müssen diesen Herren im Auge behalten, wir werden noch auf ihn zurückkommen. Was für eine schöne Gelegenheit, das mit Ihnen, Herr Seiters, und Ihnen allen heute zu tun!

Herzlichen Dank!