Ordensverleihung zum Tag des Ehrenamtes: "Zukunft braucht Erinnerung"

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 4. Dezember 2018

Der Bundespräsident hat am 4. Dezember bei der Verleihung des Verdienstordens unter dem Motto "Zukunft braucht Erinnerung" eine Rede gehalten: "Geschichte wiederholt sich nicht. Aber es bleibt dabei: Geschichte ist eine wichtige Ressource unserer Gesellschaft. In einer Zeit, in der Freiheit und Demokratie erneut verächtlich gemacht werden, da ist es wichtig, sich wieder daran zu erinnern, welche Kämpfe und Opfer die Durchsetzung demokratischer Werte in Deutschland einst gefordert hat. So kann Demokratiegeschichte auch zur Demokratiestärkung beitragen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zeichnet unter dem Motto "Zukunft braucht Erinnerung" Alexander Fried und Dorothea Woiczechowski-Fried mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland im Großen Saal in Schloss Bellevue aus

Herzlich willkommen hier im Schloss Bellevue! Ich grüße Sie alle ganz herzlich – und mein ganz besonderer Gruß gilt natürlich Ihnen, den künftigen Ordensträgerinnen und Ordensträgern.

Es gehört zu meinen schönsten Aufgaben, die dieses Amt mit sich bringt, Menschen auszuzeichnen, die nicht nur an sich selbst denken, sondern die sich engagieren für unser Land, die sich um unser Land verdient gemacht haben.

Sie alle, die hier in der ersten Reihe sitzen, haben sich in ganz unterschiedlicher Form um die Erinnerungskultur große Verdienste erworben. Von den Wissenschaftlern und ihrer akademischen Arbeit über die Träger der lokalen Geschichtsarbeit bis hin zu den Zeitzeugen, die weitergeben, was sie erlebt und erlitten haben.

Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts ist ohne die Erinnerung an das Leid der Gewaltopfer nicht zu begreifen. Erinnern müssen wir an den nationalsozialistischen Völkermord, an den Vernichtungskrieg. Wir müssen erinnern, um die Bedeutung des Nie wieder! zu erfassen, das unser Land nach 1945 geleitet hat. Erinnern müssen wir an die kommunistische Gewaltherrschaft, an die vielen Menschen im Osten Deutschlands, die ihrer Freiheit und Würde beraubt worden sind. Wir müssen erinnern, wir müssen begreifen, um das Glück der friedlichen Revolution überhaupt zu verstehen.

Ich freue mich ganz besonders, dass ich auch zwei Gäste aus Frankreich und Tschechien heute hier auszeichnen kann. Fanatischer Nationalismus und deutscher Rassenwahn haben Menschen und Nationen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in verheerende Kriege getrieben und grausames Leid über die Opfer von Verfolgung und Vernichtung gebracht. Heute kann uns das gemeinsame Erinnern wieder zusammenführen – nicht um historische Verantwortung zu verwischen, sondern um das Verbindende noch deutlicher zu erkennen. Gemeinsame Geschichte sollte viel öfter auch gemeinsam erzählt werden. Sie, verehrte Gäste, tragen mit Ihrem Engagement dazu bei und dafür sind wir Ihnen hier in Deutschland ganz besonders dankbar!

Trotzdem: Jede Gesellschaft hat natürlich auch ihren eigenen, ihren spezifischen Blick auf die Vergangenheit. Für die Erinnerungskultur in Deutschland sind mir mindestens zwei Aspekte besonders wichtig.

Erstens: Es gibt kein Ende des Erinnerns! Gerade wenn es um das Leid und das Unrecht geht, das von Deutschen begangen wurde, gerade wenn es um die Verantwortung geht, die daraus erwächst, darf es keinen Schlussstrich und auch keine Wende zu einem neuen Nationalismus geben. Diese Erinnerung, von der ich spreche, ist weder Schande noch Schwäche. Im Gegenteil: Sie macht uns stärker, sie stärkt unsere Sensibilität für die Demokratie und die Würde des Menschen!

Die Erinnerung an die Shoah und die Opfer gehört heute zur Identität unseres Landes. Die Erkenntnis aus der Vergangenheit bedeutet, den bis heute virulenten Antisemitismus entschlossen zu bekämpfen. Zugleich stimmt es, was ein kluger Kopf jüngst geschrieben hat: Die Lektion ist erst begriffen, wenn die Diskriminierung aller Minderheiten, ganz gleich, ob wegen ihrer Religion oder Kultur, ihrer Herkunft, ihrer sozialen Situation oder ihrer sexuellen Orientierung oder Identität geächtet ist. Ein solch umfassendes Lernen aus der Geschichte erfordert aber auch, dass wir uns all ihren Facetten stellen. Auch jenen, die lange vergessen waren. Zum Beispiel dem deutschen Kolonialismus – dem Leid, das er vor allem Menschen in Afrika angetan hat; aber auch seinen ideologischen Fernwirkungen zurück auf den Rassismus hier in Deutschland. Ich glaube – und Sie sehen es täglich bei der Zeitungslektüre –, da liegt noch manche Arbeit vor uns.

Mir ist noch ein zweiter Aspekt wichtig: Wir sollten auch der positiven Erinnerung, also auch der Erinnerung an die Freiheits- und Demokratiebewegungen in der deutschen Geschichte unsere Aufmerksamkeit schenken. Ich habe es schon am 9. November im Bundestag gesagt, als wir an die Ausrufung der Deutschen Republik erinnert haben: Ich wünsche mir, dass wir mehr Aufmerksamkeit, mehr Herzblut und auch mehr finanzielle Mittel den Orten und Protagonisten unserer Demokratiegeschichte widmen. Und – das ergänze ich heute: Die, die sich in herausragender Weise für Demokratiegeschichte einsetzen, auch denen sollten wir mehr Aufmerksamkeit zeigen – und sie auszeichnen für das, was sie für unser Land tun.

Ich freue mich deshalb sehr, dass ich heute auch Menschen auszeichnen kann, die die Erinnerung pflegen an den Vormärz und die frühen Vorkämpfer unserer Grundrechte; die dafür sorgen, dass der Matrosenaufstand 1918 und die Demokratinnen und Demokraten der Weimarer Republik nicht vergessen werden; die die Erfolgsgeschichte der Emanzipation von Frauen und Homosexuellen erzählen; und die als Bürgerrechtler in der damaligen DDR selbst mutig für Freiheit und Demokratie gestritten haben.

Ich bleibe dabei: Wir können stolz sein auf diese Traditionen von Freiheit und Demokratie, ohne den Blick auf den Abgrund der Shoah zu verdrängen. Und wir können uns der historischen Verantwortung für den Zivilisationsbruch bewusst sein, ohne uns die Freude über das zu verweigern, was geglückt ist in unserem Land.

Sie alle, meine Damen und Herren, tragen mit Ihrem Engagement zu einer Freiheits- und Demokratiegeschichte bei, die der Quell eines aufgeklärten, eines demokratischen Patriotismus ist. Deshalb ist Ihr Einsatz so wertvoll und dafür danke ich Ihnen von Herzen!

Ein Orden ist nicht nur Dank und Anerkennung. Wer einen Orden bekommt, der kann auch Vorbild und Inspiration für andere sein.

Seit einiger Zeit lade ich zu jeder Ordensverleihung auch junge Leute ein. Heute Morgen haben bereits einige der künftigen Ordensträger mit Berliner Schülerinnen und Schülern diskutiert. Sie kommen aus Schulen, deren Namensgeber für wichtige Aspekte unserer Geschichte stehen: Georg Herwegh, Hans und Hilde Coppi, Robert Havemann.

Natürlich ist die Geschichte nicht die Lehrmeisterin des Lebens, wie Cicero glaubte. Geschichte wiederholt sich nicht. Aber es bleibt dabei: Geschichte ist eine wichtige Ressource unserer Gesellschaft. In einer Zeit, in der Freiheit und Demokratie erneut verächtlich gemacht werden, da ist es wichtig, sich wieder daran zu erinnern, welche Kämpfe und Opfer die Durchsetzung demokratischer Werte in Deutschland einst gefordert hat. So kann Demokratiegeschichte auch zur Demokratiestärkung beitragen. Deshalb möchte ich gerade Euch Schülerinnen und Schüler ermuntern, dass Ihr Euch – ganz so wie unsere künftigen Ordensträger – mit der Vergangenheit befasst. Nicht um sie zu glorifizieren, sondern um sie zu hinterfragen. Und nicht abstrakt, sondern ganz konkret. Vielleicht nach der Devise, mit der vor vielen Jahren einmal Geschichtswerkstätten erfolgreich gestartet sind: Grabe dort, wo du stehst.

In diesem Zusammenhang ist mir eines noch sehr wichtig. Wenn ich höre, dass heute einzelne Lehrer und Schulen politisch verdächtigt und bedrängt werden, wenn sie an den modernen Internetpranger gestellt werden, weil sie Shoah und Rassismus zum Thema machen, dann kann es eigentlich nur eine Konsequenz geben: Das dürfen wir nicht zulassen! Demokratie kann nur wachsen und gedeihen mit selbstbewussten jungen Menschen. Deshalb muss Schule frei bleiben von Einschüchterung und Denunziation, zu der neuerdings manche wieder auffordern.

Wenn es um die Vergangenheit geht, dann gilt das, was mein Amtsvorgänger Gustav Heinemann einmal gesagt hat: Deutschland ist ein schwieriges Vaterland. Aber ich bin überzeugt: Der kritische Blick zurück, der macht unser Land wacher, selbstbewusster und stärker. Und er stärkt einen freundlichen, einen demokratischen Patriotismus. Einen Patriotismus, der sich nicht über andere erhebt, der sich nicht im Triumph über andere suhlt, sondern einer, der Zusammenhalt stärkt, der nicht ausgrenzt, sondern der für eine bessere Zukunft für alle hier Lebenden arbeitet. Ein Patriotismus, der übrigens auch die historischen Symbole deutschen Freiheitsstrebens nicht jenen überlässt, die diese Werte heute verächtlich machen. Nicht die Farben Schwarz-Rot-Gold und auch nicht das Lied der Deutschen von Hoffmann von Fallersleben.

Aber jetzt freue ich mich darauf, mehr zu hören über die 28 Männer und Frauen, die wir heute ehren und die sich in herausragender Weise um unser Land verdient gemacht haben.

Ihnen allen, die Sie heute hier sind, die Sie heute gekommen sind, nochmal ein ganz herzliches Willkommen!