Zentrale Abschiedsveranstaltung für den deutschen Steinkohlenbergbau

Schwerpunktthema: Rede

Bottrop, , 21. Dezember 2018

Der Bundespräsident hat am 21. Dezember bei der Abschiedsveranstaltung für den deutschen Steinkohlenbergbau in Bottrop eine Rede gehalten: "Es gibt hier viele Voraussetzungen für eine gute Zukunft. Das wichtigste sind die Menschen, die sich nicht unterkriegen lassen. Menschen, die gewohnt sind, ihr eigenes Leben in die Hand zu nehmen und die in jedem Abschied auch einen neuen Anfang sehen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede bei der zentralen Abschlussveranstaltung für den deutschen Steinkohlenbergbau in der Schachtanlage Prosper-Haniel in Bottrop.

Glückauf!

Consolidation und Friedlicher Nachbar,
Wolfsbank, Concordia und Minister Stein,
Friedrich Ernestine und Gottessegen und Fröhliche Morgensonne,
Graf Bismarck, Nordstern, Auguste Victoria.

Wer, außerhalb des Ruhrgebietes, könnte sagen, was diese manchmal schönen, manchmal seltsamen Worte miteinander zu tun haben?

Sie hier wissen das: Es sind alles Namen von Zechen oder Schächten, in denen hier im Ruhrgebiet zweihundert Jahre lang Kohle gefördert wurde. Manche sind vergessen, manche werden bis heute erinnert. Wie viele das waren, haben alle hier nochmal mit eigenen Augen sehen können, als im Mai 2010 bei der Aktion SchachtZeichen 311 gelbe Heliumballons die Standorte ehemaliger Bergbauschächte markierten. Tausende Menschen im Ruhrgebiet hatten ihre Freizeit geopfert, um die Ballons aufzulassen und nachts zu sichern. Was für ein großartiges Bild. Was für eine Demonstration von Geschichtsbewusstsein, von Heimatgefühl, von selbstbewusster Identität.

Schon damals hätten die zwei Worte über dieser Aktion stehen können, die Sie alle hier in den letzten Wochen oft gehört und gesagt haben. Die Worte, die heute Abend, beim letzten Spiel des Jahres, die Spieler von Borussia Dortmund auf dem Trikot tragen, und mit denen auch ich heute hier anfangen will:

Danke Kumpel!

Wir sind heute, hier auf Prosper-Haniel, Zeugen eines historischen Augenblicks. Die letzte Schicht wurde verfahren und das letzte Stück Steinkohle – hier liegt es – in Deutschland gefördert. Das geht nicht nur das Ruhrgebiet an. Und es geht auch nicht nur die anderen Bergwerksregionen an, in denen Steinkohle gefördert worden ist.

Nein, es geht alle in Deutschland an. Denn hier geht ein Stück deutscher Geschichte zu Ende. Ein wichtiges und wesentliches Stück deutscher Geschichte. Eines, das hier im Ruhrgebiet jeden einzelnen geprägt hat. Ohne das aber auch unser ganzes Land und seine Entwicklung in den letzten zwei Jahrhunderten nicht denkbar wäre.

Deswegen bin ich als Bundespräsident heute dabei und deswegen sage ich Ihnen an diesem geschichtsträchtigen Tag im Namen aller in unserem Land:

Glückauf und danke Kumpel.

An diesem Tag wissen wir noch nicht genau, was die Zukunft bringen wird. Vor der Hacke ist es duster, sagt der Bergmann. Also: Was der nächste Schlag, der nächste Tag, das nächste Jahr bringen wird, können wir erst wissen, wenn wir angefangen haben zu arbeiten. Vor der Hacke ist es duster.

Ich weiß aber – und ich bin sehr froh darüber –, dass es gerade hier im Ruhrgebiet von tatkräftigen Menschen und cleveren Ideen wimmelt, dass man entschlossen nach vorne schaut. Einzelne Pioniere tun das, Stadtteile tun das; Vereine, Unternehmen, Start-ups, Kirchengemeinden tun das. Und – auch das ist besonders wichtig: Lange hier Verwurzelte tun das und Migranten tun das – und oft genug ganz bewusst sie alle zusammen.

Nein, hier ist nicht nur Melancholie und Sentimentalität. Hier ist vielmehr – und das macht für mich den Geist des Ruhrgebietes seit jeher aus –, hier ist sehr viel Mut und sehr viel Wille und Können und noch mehr Ideen, auch für morgen und übermorgen. Und das Motto, das Sie sich gemeinsam ausgedacht haben, das halte ich für eine ungemein glückliche Formulierung. Sie ist so einfach und verbindet fast genial Tradition und Orientierung nach vorn: Glückauf Zukunft!. Möge aus dem, was heute zu Ende geht, Neues wachsen, eine lebenswerte Zukunft für die Generationen, die kommen.

Glückauf Zukunft!

Wir müssen nach vorn schauen und wir schauen nach vorn. Aber niemand kann es uns auch verdenken, wenn wir in dieser Stunde Erinnerungen an uns vorbeiziehen lassen. Dankbare Erinnerungen an glückliche und erfolgreiche Jahre und Jahrzehnte. Aber auch Erinnerungen an schwere Zeiten, an hartes Leben und an die Last eines Alltags, den sich viele heute gar nicht mehr vorstellen können.

Was ich jetzt über das Ruhrgebiet sage, das gilt natürlich so oder so ähnlich auch für die anderen Bergbaureviere. Aber hier war nun einmal das größte Steinkohlerevier auf dem Kontinent. Hier sind, wie sonst kaum irgendwo, die Menschen geprägt von der Kohle. Sie fühlen sich noch immer auf Kohle geboren, wie es schon längst auf den Fanschals von Schalke 04 heißt. Und hier, im Ruhrgebiet, nehmen wir heute Abschied von einer ganzen Epoche.

Schauen wir also ruhig ein bisschen zurück. Bevor der Bergbau, bevor die Steinkohle die Welt so rasant verändert haben, da war das Gebiet, das wir heute Ruhrgebiet nennen, eine Ansammlung kleiner, bescheidener Städtchen und Dörfer. Idyllisch flossen Ruhr und Emscher und Lippe durch grünes Land in den Rhein. Ackerbau trieben die Menschen. Auch Handel: Immerhin ging die große West-Ost-Verbindung Europas, jene Straße die seit Jahrhunderten Brügge mit Nowgorod verband, als der Hellweg mitten hindurch. Ein Stück davon heißt heute A 40.

In Essen regierten noch, wie seit 1000 Jahren, Fürstäbtissinnen. Frauen hatten 1000 Jahre lange in einem kleinen Teil dieser Ecke das Sagen. Uralte Gründungen wie die Werdener Abtei oder das Essener Münster, zeugen von einer langen Geschichte. Ihre großartigen Kunstschätze hat man vielleicht nie schöner gesehen als in der Ausstellung Gold vor Schwarz, 2008 in der Kohlenwäsche auf Zollverein, an die sich wahrscheinlich noch viele hier erinnern.

Nein, die Geschichte des Reviers hat nicht erst im 19. Jahrhundert begonnen. In Essen nicht, aber auch nicht in Duisburg und auch nicht in Bottrop oder Bochum. Und auch Gelsenkirchen gab es schon lange, bevor es die Stadt der tausend Feuer wurde. Das ist eine Zeitlang in Vergessenheit geraten. Denn dann kam die Kohle und sie hat eine ganze Region von Grund auf verändert und die Welt revolutioniert.

Aber die Kohle kam nicht von selbst. Dieser unterirdische Schatz, seit Millionen von Jahren vergraben – er musste von Menschen mühselig nach oben befördert werden. Von Menschen, denen keine Arbeit zu hart war und die vom Traum eines besseren Lebens angetrieben wurden. Sie kamen aus allen Teilen Deutschlands, das es ja als einiges Land bis 1871 noch gar nicht gegeben hatte. Immerhin gab es seit 1834 den Zollverein, der erste ökonomische Schritt zur Einigung Deutschlands. Die Zeche, die jetzt UNESCO Welterbe für Industriekultur ist, erinnert daran mit ihrem Namen bis heute.

Die Menschen kamen aus den Ostprovinzen Preußens, aus Masuren und Schlesien, darunter zahlreiche Polen; andere wanderten aus Bayern, Hessen und weiteren Regionen Deutschlands zu, aber auch aus Italien, Belgien und Großbritannien, später aus ganz Südeuropa, aus der Türkei, aus Nordafrika und, wie einige hier wissen: aus Korea.

Und sie blieben hier, sie fingen an zu arbeiten und sie wurden Kumpel!

Kennt ein anderer Beruf ein solch wunderbares Wort? Ein Wort, das ursprünglich den Arbeitskameraden in der selbständigen Arbeitsgruppe unter Tage meint, in der man sich auf Gedeih und Verderb, auf Leben und Tod, auf den anderen verlassen können musste. Und verlassen konnte.

Und darum ist Kumpel in den Sprachgebrauch des Alltags eingekehrt: Jemand, auf den ich mich hundertprozentig verlassen kann, das ist mein Kumpel. Und heute gilt das überall: Auf dem Spielplatz und im Labor, auf dem Schulhof und auf dem Bau, in der Uni und im Verein. Aber vor Kohle ist das Wort in diesem Sinn geboren. Vor Kohle wurden aus Fremden Kumpel. Vor Kohle war unbedingte Solidarität die erste Währung. Und alles andere kam danach: Der gute Lohn, der Erfolg, der Stolz auf das, was man zusammen hart erarbeitet hat.

So etwas prägt über die Jahrzehnte die Mentalität einer ganzen Region. So etwas zieht man auch nicht aus, wenn man, wie heute, zum letzten Mal die Arbeitsklamotten in der Waschkaue hochzieht.

Nein, sowas bleibt nicht im Trikot, wie man so sagt. Was ein Kumpel ist, weiß im Ruhrgebiet jeder. Unter und über Tage.

Denn sowas färbt schließlich auch auf die anderen ab, die hier – tief im Westen – nicht unter Tage gearbeitet haben: Die oben, über Tage, geplant und gedacht haben, die Kinder erzogen und Häuser gebaut haben, Musik gemacht und Theater gespielt, Gewerkschaften organisiert, Politik gemacht und Zeitungen geschrieben haben, die begeistert und begeisternden Fußball gespielt haben.

Alles das gehört zum Revier. Und jeder hat auf seine Weise mit dafür gesorgt, dass man hier nicht nur hart arbeiten, sondern auch wirklich gerne und gut leben kann.

Und wenn wir noch einmal von den eigentlichen Kumpeln, den Bergleuten reden, dann dürfen wir auch nicht die Frauen vergessen. Wer von den Bergleuten und ihrer harten Arbeit erzählen will, der muss auch erzählen von der nicht weniger harten Arbeit der Frauen. Für die meisten von ihnen war das in den letzten zweihundert Jahren die tagtägliche Mühe, die Wohnung und die Fenster und die Kleidung sauber zu halten, inmitten des ewigen allgegenwärtigen schwarzen Staubs und Ruß. Und auch des gelben Drecks einer Zinkhütte. Noch bis in die frühen Siebzigerjahre mussten die Bergleute für ihre Arbeitskleidung und deren Sauberkeit selber sorgen – und das machten also in den zurückliegenden Jahrzehnten meistens die Frauen. Unbesungene Heldinnen, an die wir heute mit Dankbarkeit erinnern.

Männer wie Frauen wurden und waren hier Kumpel. Und das ist nicht verloren gegangen. Und weil das so ist, ist mir für die Zukunft des Ruhrgebiets nicht bange. Der Zusammenhalt, die wichtigste Voraussetzung, um auch in Zukunft etwas auf die Beine zu stellen, über das die Welt staunen kann und staunen wird. Diesen Zusammenhalt, den findet man hier. Und darauf können Sie alle stolz sein.

Der Bergbau hat die Mentalität dieser ganzen Region geprägt. Und das konnte und kann man auch in Bereichen spüren, wo man es vielleicht am wenigsten erwartet hätte. Der erste Ruhrbischof, der unvergessene Franz Hengsbach, hatte in seinem Bischofsring ein Stück Steinkohle. Er hat keinen jungen Mann zum Priester geweiht, der nicht wenigstens einmal unter Tage war. Und bei der ersten Messe zum Start des neuen Bistums in der Münsterkirche sagte der neue Bischof: So wollen wir denn in Gottes Namen die erste Schicht verfahren. Bis in die Kanzelsprache hat der Bergbau seine Spuren gelegt!

Und er, Bischof Hengsbach, hätte es sicher auch gut gefunden, dass gestern Abend viele katholische und evangelische Kirchenglocken zum Abschied vom Bergbau geläutet haben. Und die heilige Barbara, Schutzpatronin der Bergleute, hat im Himmel dazu vermutlich ein leises Glückauf gesagt.

Nicht nur die Verehrung der Schutzpatronin erinnert uns an die besondere Gefahr, mit der dieser Beruf immer und bis zuletzt verbunden war. Nie konnten die Mütter, die Frauen, die Kinder sicher sein, ob ihr Sohn, ihr Mann, ihr Vater heil und gesund von der Schicht zurückkommen würde.

An den Bergbau zu erinnern, heißt nämlich auch, an die ständige Angst vor Unfällen zu erinnern. Es heißt, an die vielen Verletzten und Berginvaliden zu erinnern, die der Knappschaftsarzt kaputtgeschrieben hat, wie man das hier so schlicht und drastisch ausdrückt. Es heißt, an die großen Bergunglücke zu erinnern, aber auch an die vielen einzelnen Grubentoten, die mitten in der Arbeit aus dem Leben gerissen wurden.

Ich war, glaube ich, gerade sieben – knapp – Jahre alt, als ich mit meinen Eltern damals die dramatischen Bergungsarbeiten nach dem Grubenunglück in Lengede am Radio verfolgt habe. Jeden Tag, über viele Tage hinweg.

Das Thema ist nicht zu Ende. Vor ein paar Tagen erst kam ein junger Mann bei den Rückbauarbeiten in Ibbenbüren ums Leben. Wir betrauern den Verstorbenen und sprechen allen Angehörigen, Freunden und Kollegen unser Beileid aus. Und genauso gilt unsere Anteilnahme den Angehörigen der polnischen und tschechischen Bergleute, die heute beim Grubenunglück in Karviná ums Leben gekommen sind. Auch ihrer wollen wir gedenken.

Es bleibt dabei, bis zum Schluss: Jeder, der einfährt, riskiert Gesundheit oder gar das Leben. Diese andauernde Gefahr gehörte immer zur Realität unter Tage – aber machte vielleicht auch einen Teil des Mythos aus. Als ein Steiger in dem Film Der lange Abschied von der Kohle gefragt wird, worauf es bei seiner Arbeit vor allem ankomme, da sagt er: Dass alle meine Jungs nach der Schicht heil wieder nach oben kommen. Das ist der Ausdruck existenzieller Verantwortung, die für einen Vorgesetzten unter Tage typisch ist. Und die es nicht überall im Arbeitsleben gibt. Dafür, dass es Menschen gab, die diese Verantwortung übernommen haben und getragen haben und weiter tragen werden. Auch dafür wollen wir heute herzlich Danke sagen!

Dabei wollen wir auch die andauernden gemeinsamen Anstrengungen nicht vergessen, die Kumpel, Steiger, Ingenieure, Gewerkschaft und Werksleitungen unternommen haben, um die Arbeit unter Tage immer sicherer zu machen. Nicht nur die Abbautechnologie ist immer raffinierter und moderner geworden. Man kann inzwischen, wer hätte das früher gedacht, vom Bergbau als von einem echten Hochtechnologieunternehmen sprechen, mit High-End-Maschinen und -Verfahren. Dieses Know-how, diese Erfindungen und Technologien, die werden weiter in der ganzen Welt begehrt sein. Auch das kann man ruhig heute noch einmal mit Stolz feststellen.

Der Stolz des Bergmanns – das ist nicht nur der Stolz auf die persönlich geleistete Arbeit oder die in der Kameradschaft oder die auf der einen Zeche. Nein, bei ganz vielen ist es auch der Stolz auf die Leistung des Bergbaus insgesamt und auf seine Bedeutung für die Geschichte unseres Landes. Die große Wirtschaftsmacht, die Deutschland vom Ende des 19. Jahrhunderts an wurde: Ohne die Kohle, ohne den Bergmann völlig undenkbar. Und auch die Wurzeln der Europäischen Gemeinschaft liegen hier, durch die Gründung der Montanunion.

Wir dürfen allerdings hier in unserem Land nicht vergessen: Vor dem Aufbruch in Europa, da war Tod, Vernichtung und Zerstörung – durch einen Krieg, mit dem Deutschland ganz Europa überzogen hatte, und durch eine Kriegsmaschinerie, die befeuert war von Kohle und Stahl. Am Ende brachte dieser Krieg die Zerstörung ins eigene Land. Im Ruhrgebiet wird die Erinnerung wachgehalten an den fürchterlichen Bombenkrieg, der das Herz der deutschen Industrie und ganz bewusst auch seine Arbeiterviertel treffen sollte und dabei tausende Menschen das Leben kostete. Oft radierte er das Letzte aus, was in manchen Städten des Ruhrgebiets noch schön war.

Nach dem zweiten Weltkrieg kam dann die bedeutendste Zeit der Kohle. Mehr als eine halbe Million Bergleute waren Tag und Nacht auf Schicht, um die Grundlagen des Wohlstands zu produzieren; eines Wohlstandes, von dem wir – und nicht nur hier im Ruhrgebiet – immer noch leben. Jede Stadt hier war the city, that never sleeps. Kohle wurde gebraucht wie nie, Kohle war der Motor des Wiederaufbaus, Kohle war jetzt wirklich schwarzes Gold. Und das schlagende Herz des sogenannten Wirtschaftswunders, das war hier: im Ruhrgebiet.

Man könnte dazu viele Statistiken, Zahlen und Tabellen anführen. Aber Herbert Grönemeyer hat das alles in dem kurzen Satz an seine Heimatstadt Bochum ausgedrückt: Dein Grubengold hat uns wieder hochgeholt. Und diesen Satz kennt man in ganz Deutschland und das ist auch richtig so. Denn keiner sollte diesen Satz und die Bedeutung des Ruhrgebiets für den Wiederaufbau in ganz Deutschland vergessen!

Vor einem Vierteljahrhundert hat Grönemeyer das geschrieben. Damals hatte der lange Abschied von der Kohle schon längst begonnen. Heute, wo dieser unvermeidliche Abschied endgültig wird, darf man sagen: Diesen Abschied haben alle zusammen doch sehr gut hinbekommen.

Dank der starken Gewerkschaften, dank der verantwortungsvollen Werksleitungen konnte man im Rahmen der Mitbestimmung gemeinsame Interessen finden. Und letztlich mit dem Staat gemeinsam und partnerschaftlich ein friedliches, sozialverträgliches Auslaufen der Steinkohlenförderung gestalten. Ein Blick in andere Regionen Europas zeigt, dass auf diese Weise hier bei uns viel Unheil und Not, viel Zorn und Verelendung vermieden werden konnte.

Solidarität also auch am Ende einer langen Geschichte. Dass niemand ins Bergfreie fallen sollte, ist eingetreten. Das ist eine große, eine historische Leistung. Zugegeben: Auch eine Leistung, die gekostet hat und für die wir alle bezahlt haben. Aber drückt sich in den Milliarden Steuergeldern nicht am Ende doch so etwas wie der Dank des Vaterlandes aus für die, die 1.000 Meter unter der Erde in Hitze, Dreck und ständiger Gefahr Gesundheit und Leben riskiert haben? Ich finde: An einem Tag wie heute darf soviel Pathos einmal sein!

Und wenn jetzt über den endgültigen Ausstieg aus der Kohleförderung in Deutschland, also auch der Braunkohle, gesprochen wird, werden sich auch hier Solidarität und Partnerschaftlichkeit zeigen müssen. Auch hier geht es um die Lebensfähigkeit ganzer Regionen. Auch hier geht es darum, den Menschen vor Ort Zukunftsperspektiven zu schaffen. Erst die Perspektive, dann das Auslaufdatum, darum ringt in diesen Tagen die Kohlekommission. Die Art, wie man das hier im Revier hinbekommen hat, kann dafür ein Beispiel sein.

An einem Tag wie heute erinnern wir an historische Leistungen. Wir schauen aber auch mit großen Hoffnungen und Erwartungen nach vorne. Es gibt Aufgaben, die aus dem schwierigen Erbe der Kohle selber erwachsen. Mancher Dichter hätte vermutlich gerne das Wort Ewigkeitslasten erfunden. Das ist aber keine Poesie, sondern knallhartes Faktum: Solange Regen auf die Erde fällt und Menschen hier leben wollen, muss gepumpt werden. Aber wie viel Kreativität und wie viel auch anderswo verwertbare Erkenntnisse im neuen Forschungsgebiet Nachbergbau anfallen, das hat mich in Erstaunen versetzt. Ein schwieriges Erbe kreativ nutzen: Das ist doch schon einmal ein guter Weg. Leidenschaft und Können, das ist das Geheimnis, oder, wie Stoppok singt: Beweg dein Herz zum Hirn, schick beide auf die Reise.

Es gibt hier tatsächlich überall gute Ansätze zu Neuem: Eine dichte Hochschullandschaft von Dortmund bis Duisburg. Universitäten, Fachhochschulen, Forschungsinstitute, die zur 1. Liga in Deutschland gehören und jede Menge Gründer, die daraus herauswachsen. Die Gründerallianz hilft ihnen, aus ihren Ideen Produkte, Arbeitsplätze und Geschäfte zu machen; sie bringt sie mit etablierten Industrieunternehmen der Region zusammen. Und mit der Initiative Data Hub Ruhr haben sie Zugang zu einer Datenbasis, die heute Voraussetzung für erfolgreiches Wirtschaften ist.

Mit dem Ende der Steinkohlenförderung kommt die Rolle des Ruhrgebiets in der Energiewirtschaft keineswegs zu einem Ende. Die Unternehmen der Energiewirtschaft haben sich verändert, aber sie bleiben – und mit ihnen das in Generationen angewachsene Wissen. Auf Zollverein entsteht gerade ein neuer Verbund von Forschungseinrichtungen und Unternehmen, ein integrierter Forschungscampus für die Zukunft der Energieversorgung. Optionen für eine energiepolitische Zukunft sollen hier erarbeitet werden, die stabil, nachhaltig und auf weitere Dekarbonisierung der Energieversorgung ausgerichtet ist.

Wie vieles hier im Ruhrgebiet ist auch dieses Großprojekt von jemandem angestoßen worden, der dieser Region mit Kopf und Herz verbunden ist. Lieber Werner Müller, Du glaubst gar nicht, wie sehr wir uns freuen, dass Du heute bei uns bist.

Als 1997, in der Zeit der Stahlkrise und der großen Demonstrationen, die Fans bei den Fußballderbys nicht mehr nur ihren Vereinsnamen, sondern gemeinsam Ruhrpott, Ruhrpott skandierten, da war das ein Zeichen dafür, dass ein gemeinsames Heimatbewusstsein in dieser Region entstanden war.

Und wenn ich richtig sehe, hat sich das seither noch verstärkt. Wo man sich früher oft geschämt hat, aus dem Kohlenpott zu sein, da ist man jetzt stolz darauf geworden.

Heinrich Böll hatte 1958 noch im Vorwort zu dem berühmten Fotoband über das Ruhrgebiet geschrieben: Das Ruhrgebiet ist noch nicht entdeckt worden. Das stimmt nicht mehr. Es ist entdeckt worden. Und zwar vor allem und endlich von seinen Menschen selber. Die Menschen hier haben sich selbst entdeckt, ihren Wert, ihren Humor, ihre Unterschiede und ihre Gemeinsamkeiten, ihre Kraft, ihr Können, ihre Identität. Das ist vielleicht das größte Wunder der letzten Jahrzehnte.

Dazu hat ganz wesentlich die Kultur beigetragen, die sogenannte große und die sogenannte kleine: Die großartigen Theater und Opernhäuser von Duisburg bis Dortmund, das Lehmbruck- und das Folkwang-Museum und das Quadrat hier in Bottrop, Schloss Oberhausen, die Knappenchöre, die Cranger Kirmes, Adolf Winkelmanns Filme und Max von der Grüns Bücher, Herbert Knebel und Helge Schneider, die Missfits, Fritz Eckenga und Doktor Stratmann, die Lichtburg, die Galerie Cinema und die anderen Kinos, die Gruga und der Revierpark Vonderort und das Kloster Stiepel und so vieles andere. Besonders auch die Initiativen, die sich um die Rettung der weltweit einzigartigen Industriekultur verdient gemacht haben, wie das Bürgerengagement für den Erhalt der Arbeitersiedlungen und der Industriebauten oder der Klartext-Verlag oder die Ruhrtriennale und vieles mehr.

Und so ist hier im Laufe der Jahre etwas entstanden, das man in anderen Gegenden der Welt für selbstverständlich hält: Heimatliebe. Ich weiß, dass diese Heimatliebe sich oft einen Ausdruck gibt, dessen große Wärme man im Rest Deutschlands gar nicht versteht. Ich denke an den sprichwörtlichen Satz von Frank Goosen: Woanders is‘ auch …, naja, Sie wissen schon. Selbstbewusstes Understatement ist vielleicht die größte Stärke hier. Mir san mir, sagt man woanders. Sie hier denken das vielleicht auch, aber Sie sagen es nicht so laut.

Heimatgefühl, ja: Heimatliebe, eine eigene Identität. Das sind wesentliche Voraussetzungen, um hoffnungsvoll eine neue Zeit anzugehen. Vor allem bei der Integration. Integration ist der Schlüssel zur Bewältigung der Zukunft. Das gilt für unser ganzes Land. Aber hier im Ruhrgebiet weiß man das seit jeher. Hier weiß man, dass es nicht so wichtig ist, woher einer kommt, sondern wie einer und eine vor Ort angenommen wird und wie man sich vor Ort verhält und bewährt. Aber dieses Wissen muss man auch jeden mühsamen Tag wieder neu in die Tat umsetzen.

Es gibt hier viele Voraussetzungen für eine gute Zukunft. Das wichtigste sind die Menschen, die sich nicht unterkriegen lassen. Menschen, die gewohnt sind, ihr eigenes Leben in die Hand zu nehmen und die in jedem Abschied auch einen neuen Anfang sehen.

Sie haben hier zwei Jahrhunderte lang buchstäblich Berge versetzt. Warum sollte das nicht auch in Zukunft gelingen? Lasst uns gemeinsam eine neue Schicht verfahren!

Danke Kumpel! Und Glückauf!

Glückauf Zukunft!