Matinee "100 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland. Parität in der Politik"

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 15. Januar 2019

Der Bundespräsident hat am 15. Januar bei der Veranstaltung "100 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland. Parität in der Politik" in Schloss Bellevue eine Ansprache gehalten: "Einhundert Jahre Frauenwahlrecht sind Anlass zur Freude – nicht nur für die Frauen. Sie sind Anlass, den mutigen Frauen zu danken, die dieses Recht erkämpft und durchgesetzt haben, denn selbstverständlich gibt es keine Freiheit ohne die Freiheit der Frauen. Kein Menschenrecht, kein Bürgerrecht ist nur einer Hälfte der Menschheit vorbehalten."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Ansprache bei der Matinee "100 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland. Parität in der Politik" gemeinsam mit dem Deutschen Juristinnenbund im Großen Saal in Schloss Bellevue

Herzlich willkommen zu dieser kleinen Matinee, mit der wir an einen großen Tag erinnern wollen: an den 19. Januar 1919, einen Sonntag. Ein Sonntag, an dem die erste tatsächlich freie und allgemeine Wahl zur Deutschen Nationalversammlung stattfand, und damit auch der Tag, an dem die Frauen in diesem Land zum ersten Mal ihr Wahlrecht ausüben konnten.

In vielen Veranstaltungen wird in diesen Tagen landauf, landab daran erinnert. Das ist gut. Aber Erinnern ist nicht genug. Mit dieser Veranstaltung wollen wir – wie man sieht, Frauen und Männer gemeinsam – diesen Tag würdigen und auch feiern.

Louise Otto-Peters, eine der Ersten, die für die Frauen in Deutschland nach diesem Recht verlangte, stellte ihr Engagement unter die Devise: Dem Reich der Freiheit werb‘ ich Bürgerinnen. Deutschlands erste Republik, die Weimarer Demokratie, war dieses Reich der Freiheit und deshalb wurden am 19. Januar 1919 Deutschlands Frauen endlich vollberechtigte Bürgerinnen. Das ist die eigentliche politische Bedeutung dieses Datums – und es ist die Verpflichtung, der gerecht zu werden bis heute unsere Aufgabe ist!

Das sage ich ganz ausdrücklich als Inhaber eines Amtes, das – wenn ich recht darüber nachdenke – tatsächlich das letzte in unserem Land ist, das bisher noch nicht von einer Frau ausgefüllt wurde.

Einhundert Jahre Frauenwahlrecht sind Anlass zur Freude – nicht nur für die Frauen. Sie sind Anlass, den mutigen Frauen zu danken, die dieses Recht erkämpft und durchgesetzt haben, denn selbstverständlich gibt es keine Freiheit ohne die Freiheit der Frauen. Kein Menschenrecht, kein Bürgerrecht ist nur einer Hälfte der Menschheit vorbehalten.

Louise Otto-Peters, Hedwig Dohm, Helene Lange, Minna Cauer und Helene Stöcker hatten das schon vor 1919 angemahnt. Sie taten es klug, ausdauernd und hartnäckig, wie viele Frauen, die sich dann in ihrer Nachfolge für Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit einsetzten. Ich denke an die ersten weiblichen Abgeordneten der Weimarer Parlamente, an Marie Juchacz, Helene Weber oder Clara Zetkin. Sie wussten, dass es dauern kann, Männer und auch viele Frauen von der Idee der politischen Gleichheit zu überzeugen. Und sie wussten, dass es noch einmal länger dauern wird, bis aus den Widersachern Mitstreiter werden, für die eine gemeinsame Sache: die Sache der Demokratie. Aber sie haben in Leidenschaft und Solidarität niemals nachgegeben, und sie haben dem Lauf der Geschichte eine neue Richtung gegeben! Eine wunderbare Erfahrung für alle Demokratinnen und Demokraten.

Frauen haben in diesen einhundert Jahren viel erreicht. Wir haben in Ost- und Westdeutschland große Politikerinnen erlebt. Politikerinnen, die nicht nur Frauen zu Vorbildern wurden: Annemarie Renger, Hildegard Hamm-Brücher, Rita Süssmuth, Christine Bergmann, Regine Hildebrandt. Eine unvollständige Liste, auf der viele noch fehlen, die dazugehören.

Einhundert Jahre nach der Einführung des Wahlrechts für Frauen wird dieses Land von einer Frau regiert, die sich in den Jahren ihrer Regierungszeit große Anerkennung und Respekt verdient hat, in Deutschland und in der Welt. Unsere Streitkräfte werden von einer Frau befehligt und die beiden ältesten Parteien des Landes von Frauen geführt.

Jede einzelne dieser Frauen bekräftigt, wie jede Politikerin und Parlamentarierin, dass es keine Demokratie als Idee von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit geben kann, an der nicht Männer und Frauen gleichermaßen beteiligt wären. Doch was uns heute selbstverständlich erscheint, galt deshalb nicht schon immer. Was Louise Otto-Peters für die Frauen reklamierte, dass ihre Teilnahme an den Interessen des Staates kein Recht, sondern vielmehr eine Pflicht ist, musste gleichwohl hart erkämpft werden.

Und die vergangenen einhundert Jahre zeigen uns, dass die politische Emanzipation der Frauen alles andere als selbstverständlich war. Nichts, auch nicht die Durchsetzung des Frauenwahlrechts, war unumkehrbar. Die Geschichte der Frauenrechte ist, wie die Demokratiegeschichte selbst, keine geradlinige und keine, die ohne Rückschläge geblieben wäre.

Vor einigen Tagen machte eine Fotografie aus den USA die Runde. Sie zeigt die neuen weiblichen Abgeordneten des amerikanischen Repräsentantenhauses, die sich, angeführt von der Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez, zu einem Gruppenbild der Debütantinnen zusammengefunden hatten. Es ist ein besonderes Bild, denn es weist darauf hin, dass es nun deutlich mehr weibliche Abgeordnete im US-Kongress geben wird. 42 neue weibliche Abgeordnete sind es insgesamt im Senat und dem Repräsentantenhaus. 42 Frauen, die der männlichen Dominanz in der gegenwärtigen amerikanischen Administration etwas entgegensetzen wollen.

Das Foto – deshalb erwähne ich es – führt uns mitten hinein in das Thema dieser Matinee. Es erinnert – von den demokratischen Politikerinnen gewollt – an ein Foto, das vor einhundert Jahren hier in Deutschland entstanden ist. Diese historische Aufnahme, die viele von Ihnen kennen, zeigt die weiblichen Abgeordneten der Deutschen Nationalversammlung im Februar 1919.

Die Frauen dieses ersten Weimarer Parlaments stellten neun Prozent der Abgeordneten und damit – mit großem Abstand – bis in die 1920er-Jahre hinein den höchsten Frauenanteil unter den gewählten Abgeordneten in der Welt. 37 Frauen wurden nach der Wahl vom 19. Januar 1919 in die verfassunggebende Deutsche Nationalversammlung gewählt. Das ist eine für damalige Verhältnisse stolze Zahl – vor allem, wenn man bedenkt, dass es danach bis zur Bundestagswahl 1987 gedauert hat, bis der Frauenanteil im deutschen Parlament erstmals mehr als zehn Prozent betrug.

Im Verlauf der Weimarer Republik nahm die weibliche Beteiligung in den Parlamenten allerdings stetig ab, bis den Frauen, unter nationalsozialistischer Herrschaft, schließlich das passive Wahlrecht wieder genommen wurde. Und wie wir wissen, können die deutschen Frauen der späten 1920er-Jahre leider nicht für sich reklamieren, gänzlich unbeteiligt an der Abwahl der Demokratie gewesen zu sein.

Die Zeit des Nationalsozialismus aber wirkte nach. Was unter nationalsozialistischer Herrschaft an einmal Erreichtem preisgegeben wurde, musste dann nach 1945 wieder neu erkämpft werden.

Im Parlamentarischen Rat der Bundesrepublik saßen unter 61 Männern lediglich vier Frauen. Die zahlenmäßig bescheidene weibliche Besetzung trat jedoch glücklicherweise deshalb nicht etwa bescheiden auf. Die Sozialdemokratin Elisabeth Selbert setzte den Passus Männer und Frauen sind gleichberechtigt im Grundgesetz nahezu im Alleingang durch, jedenfalls gegen heftigen Widerstand der Männer, aber auch gegen manche Vorbehalte in den Reihen der Frauen.

Sie wollte sich nicht mit der ursprünglichen Formulierung des Artikels 3 zufrieden geben, der noch aus der Weimarer Verfassung stammte und lautete: Männer und Frauen haben die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten. Elisabeth Selbert wollte mehr, nämlich eine umfassende Gleichberechtigung von Männern und Frauen, die sie als imperativen Auftrag an den Gesetzgeber verstanden wissen wollte.

Dass dieser Auftrag in mancher Hinsicht, etwa was die Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit angeht, auch heute noch besteht, bezeugt, wie klug und weitsichtig die Juristin Elisabeth Selbert vorging. Sie war, wie viele ihrer Mitstreiterinnen, Mitglied des Deutschen Juristinnenbundes, der die Ausgestaltung des Rechts maßgeblich mitgestaltet hat. Ich freue mich sehr, Sie, sehr geehrte Frau Professorin Wersig, heute hier begrüßen zu dürfen. Und ich bin gespannt auf die heutige Podiumsdiskussion darüber, wie wir in Deutschland mehr Teilhabe von Frauen in der Politik und den Parlamenten erreichen können.

Ich kann verstehen, dass Frauen sich in diesen Fragen nicht allein auf die Unterstützung der Männer verlassen wollen. Und selbstverständlich wäre es auch deshalb wünschenswert, wenn sich der stark zurückgegangene Frauenanteil im Deutschen Bundestag wieder erhöhte. Aber ich weiß auch: Das ist leicht dahingesagt. Und deshalb füge ich hinzu, ich bin ebenso davon überzeugt: Gleichzeitig dürfen sich Männer nicht länger in der Komfortzone ausruhen – viele tun es ja auch nicht –, denn Frauenrechte sind nicht die Sache von Frauen allein. Wenn wir die gläserne Decke sprengen wollen, müssen wir sie von beiden Seiten traktieren. Das ist jedenfalls meine Überzeugung. Und je mehr Männer auch mal die Perspektive der Frauen einnehmen, sie dezidiert unterstützen und die faire Beteiligung von Frauen eher als Bereicherung oder Ansporn betrachten, je näher werden wir dann auch der gewünschten Parität kommen.

Demokratie ist Überzeugungsarbeit. Frauen sind nicht immer die besseren Vertreterinnen der eigenen Sache und Männer nicht ihre natürlichen Gegner.

Ich wünsche mir an diesem 100. Geburtstag des Frauenwahlrechts, dass wir alle erkennen, dass Frauenrechte unsere gemeinsame Sache sind und bleiben müssen.