Kulturabend mit Musik, Kunst und Literatur der Roma, Sinti und Jenischen

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 22. Januar 2019

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 22. Januar bei einem Kulturabend mit Musik, Kunst und Literatur der Roma, Sinti und Jenischen im Großen Saal in Schloss Bellevue eine Ansprache gehalten: "Und wir sind uns heute Abend auch bewusst, dass in vielen Teilen Europas heute neu Ressentiments gegen Minderheiten, besonders auch gegen Sinti und Roma, geschürt und für politische Zwecke instrumentalisiert werden."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei einem Kulturabend mit Musik, Kunst und Literatur der Roma, Sinti und Jenischen im Großen Saal von Schloss Bellevue

Ich freue mich, dass Sie alle heute Abend hier ins Schloss Bellevue gekommen sind. Es ist ein Abend, wie es ihn in diesem Haus noch nicht gegeben hat – und es soll eine ganz besondere Veranstaltung werden.

Vielleicht hat sich mancher von Ihnen gewundert, als er die Karte gelesen hat, auf der zu einem Kulturabend mit Musik, Kunst und Literatur der Roma und Sinti und der Jenischen beim Bundespräsidenten eingeladen wurde. Vielleicht hat sich mancher gefragt, ob es dazu einen besonderen Anlass geben würde.

Ja, den gibt es – wenn auch nicht in Gestalt von Jahrestagen oder Jubiläen.

Ich wollte mit diesem Abend vielmehr ein deutliches und – wie ich finde – überfälliges Zeichen setzen. Denn es gibt in Europa und es gibt in Deutschland eine oft bewusst oder unbewusst übersehene, vernachlässigte, ja verdrängte oder sogar unterdrückte Kultur, die gerade hier, am Sitz des Staatoberhauptes unseres Landes sichtbar gewürdigt werden sollte. Die Kultur der Roma und Sinti, also die Kultur der größten Minderheit in Europa, sollte gerade hier im Mittelpunkt stehen.

Dieser Ort nämlich, das Schloss Bellevue, liegt nur wenige hundert Meter Luftlinie entfernt von der Zentrale des Terrors, von wo im Nationalsozialismus auch die planmäßige Vernichtung der Sinti und Roma organisatorisch geleitet wurde – gemäß dem Willen des damaligen deutschen Staatsoberhauptes.

Es ist gut, dass nun endlich mehr und mehr auch der mit Recht von Romani Rose und vielen anderen so genannte vergessene Holocaust an den Sinti und Roma ins allgemeine Bewusstsein gelangt. Viele haben dazu beigetragen. An erster Stelle Sie, die Sinti und Roma selber, die unermüdlich auf das schreckliche Schicksal einer halben Million Mordopfer in Europa, davon mehr als 20.000 deutsche Sinti und Roma, hingewiesen haben – und auf den dauernden Schmerz, der in fast allen Ihren Familien bis heute lebendig ist.

Mein Amtsvorgänger Roman Herzog war es, der zur Eröffnung des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg am 16. März 1997 in aller Klarheit und mit bleibender Gültigkeit festgestellt hat: Der Völkermord an den Sinti und Roma ist aus dem gleichen Motiv des Rassenwahns, mit dem gleichen Vorsatz und dem gleichen Willen zur planmäßigen und endgültigen Vernichtung durchgeführt worden wie der an den Juden. Da ich weiß, wie wichtig Ihnen gerade diese Feststellung war und ist, wiederhole ich sie heute hier ganz bewusst.

Sie gehört ja auch zum Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas, das nach so langer Vorbereitungszeit endlich am 24. Oktober 2012 hier in Berlin eingeweiht werden konnte.

Das Bewusstsein für die lange Geschichte des Antiziganismus und für die vielfach noch immer andauernde Diskriminierungs- und Verfolgungsgeschichte der europäischen Roma wurde aber sicher auch geweckt und geschärft durch die Rede, die der niederländische Überlebende Zoni Weisz als erster Sinto am Holocaust-Gedenktag 2011 im Deutschen Bundestag gehalten hat. Wohl niemand, der dabei war oder die Rede im Fernsehen gesehen hat, wird sie je vergessen. Und wir sind uns heute Abend auch bewusst, dass in vielen Teilen Europas heute neu Ressentiments gegen Minderheiten, besonders auch gegen Sinti und Roma, geschürt und für politische Zwecke instrumentalisiert werden.

Wenn es heute Abend um die Kultur der Roma geht, diese alte europäische Kultur – die Sinti sind im Übrigen seit 600 Jahren im Gebiet des heutigen Deutschlands zu Hause –, dann darf dieser dunkle und düstere Hintergrund der Geschichte nicht vergessen werden. Denn diese Kultur wurde ja oft gerade nicht als eine besondere und eigenständige wahrgenommen oder anerkannt – ja oft nicht einmal überhaupt als Kultur. Und wenn, dann als eine gleichermaßen bedrohliche wie faszinierend-exotische Lebensweise, was oft nur zwei Seiten derselben Medaille waren und sind.

Deswegen bin ich mir der Empfindlichkeiten nur allzu sehr bewusst, die berührt werden, wenn Nicht-Sinti und -Roma über diese Kultur sprechen oder sie präsentieren oder sie gar selber künstlerisch thematisieren. Allzu oft ist sie dann nämlich von lauter Vorurteilen, Stereotypen und Klischees bis zur Unkenntlichkeit verdeckt. Selbst dann sogar, wenn es in bester Absicht geschieht. Die eigene Kultur selber zu artikulieren, ihren Wert zum Ausdruck zu bringen, die Selbstdarstellung gegen jede, oft diskriminierende Fremdbestimmung und Fremdbeschreibung zu setzen: Dazu sind die Künstler des heutigen Abends eingeladen.

Bis in die jüngste Gegenwart wird und wurde die Kultur der Sinti und Roma – auch bei besten Absichten – verzerrt dargestellt. Man könnte viele Beispiele dafür finden. Vielleicht erinnern Sie sich noch an Spiel Zigan von Udo Jürgens aus dem Jahre 1971.

Das durchaus selbstkritisch gemeinte Lied benennt zwar die dunklen Seiten der Mehrheitsgesellschaft, bemüht aber eben auch die allzu bekannten Faszinationsklischees. Drei Verse daraus:

Spiel, Zigan, spiel,
du kannst das Glück nur geben,
das in deinem Leben
diese Welt dir vorenthält.

Spiel deine Sehnsucht,
die sie nie besaßen,
sie, die die Kunst, zu träumen,
längst vergaßen.

Spiel, Zigan, spiel,
schenk denen deine Lieder,
die dich morgen wieder
lieber geh‘n als kommen seh‘n.

Das Lied atmet noch etwas den Geist der Nach-68er-Jahre, lässt durchaus Gesellschaftskritik aufscheinen, bringt aber doch, gerade wo es positiv sein will, jene Perspektive einer Außensicht auf die sogenannte Zigeunerkultur, die uns hier in Deutschland seit der Romantik bestens vertraut ist.

Heute Abend soll also nicht die Fremdbeschreibung den Blick auf die Kultur der Roma und Sinti bestimmen, sondern die eigene Darstellung. Das passt sicher auch zum baldigen Stapellauf des von Isabel Raabe und Franziska Sauerbrey initiierten und von der Kulturstiftung des Bundes geförderten RomArchive. Übermorgen wird es mit einem dreitägigen Festival in der Akademie der Künste eröffnet.

Dieses großartige Pionierprojekt, das größte jemals aufgelegte Kulturprojekt von, mit und über Sinti und Roma, baut erstmals ein digitales Archiv auf, in dem die Selbstrepräsentation im Zentrum steht und der Reichtum und die Vielfalt der Künste und Kulturen der Sinti und Roma präsentiert werden. Ich hoffe, dass dadurch ein wichtiger Beitrag geleistet wird, dass nach 600 Jahren der Fremdpräsentation, Kunst und Kultur von Sinti und Roma als integraler Bestandteil der Europäischen Kulturgeschichte anerkannt wird.

Der Abend passt auch dazu, dass der Wunderhorn Verlag sich schon seit Langem für die Geschichte und Literatur der Sinti und Roma engagiert. Sowie auch dazu, dass Wilfried Ihrig und Ulrich Janetzki vor einem halben Jahr in der Anderen Bibliothek unter dem Titel Die Morgendämmerung der Worte zum ersten Mal einen modernen Poesie-Atlas der Roma und Sinti herausgegeben haben. Wenn man bedenkt, dass darin Gedichte aus der Romanes-Sprache und aus 21 weiteren Sprachen und Dialekten vorgestellt werden, sieht man, wie allgemeineuropäisch die lange Zeit nur mündlich überlieferte sprachliche Kultur der Sinti und Roma ist.

In ihrem Vorwort stellt Dotschy Reinhardt dort zu Recht heraus, wie wichtig für Sinti und Roma das Bekenntnis zur eigenen Kultur auch für ihren Kampf um die Menschenrechte ist. Und Klaus-Michael Bogdal betont in seinem Nachwort noch einmal, wie die Beziehung zwischen den Mehrheitsgesellschaften und der Minderheit in Europa vor allem durch Angst und Misstrauen geprägt ist – und wie sich das gerade in der Kultur der Mehrheitsgesellschaft zum Ausdruck bringt und wie schwer die Selbstbehauptung der eigenen Kultur der Rom-Völker dagegen ankam.

Dieser heutige Abend passt deswegen schließlich auch zu der ersten, dem Thema Heimat gewidmeten Kulturwoche des Dokumentations- und Kulturzentrums der deutschen Sinti und Roma vom 24. bis 27. Juni 2019, für die ich gern die Schirmherrschaft übernommen habe.

Wer zeigt uns heute Abend nun Ausschnitte aus der Kultur der europäischen Roma und Sinti?

Gehört haben wir gerade schon:

Tayo Awosusi-Onutor. Die in Karlsruhe geborene Sängerin, Autorin, Regisseurin. Sie bezeichnet sich selbst als Afro-Sintezza. Ihre Musik ist Soul, Jazz, R´n´B, Musik der Sinti und Roma. Sie engagiert sich darüber hinaus politisch in verschiedenen Communities of Colour. Tayo wird am E-Piano begleitet von Ernie Schmiedel. Schön, dass Sie da sind, herzlich willkommen!

Wir freuen uns auch auf die anderen Musiker: David Peña Dorantes aus Sevilla entstammt einer der ältesten spanischen Flamencodynastien, der der Peña-Perrate-Bacán-Pinini, und ist eine Schlüsselfigur des neuen Flamenco. Dorantes wird am Schlagzeug begleitet von Isidro Suarez. Herzlich willkommen!

Ich freue mich auf den Gitarristen und Komponisten Ferenc Snétberger, aus Nordungarn stammend und seit Langem auch in Berlin beheimatet. 2011, da habe ich ihn zum ersten Mal gesehen, trat er gemeinsam mit anderen beim Holocaust-Gedenktag im Deutschen Bundestag auf. Ferenc Snétberger ist besonders für seine Improvisationskunst und sein die Genregrenzen überschreitendes Spiel bekannt. Sein Repertoire ist inspiriert von der Roma-Tradition seiner Heimat, der brasilianischen Musik und dem Flamenco ebenso wie der klassischen Gitarre und dem Jazz. Herzlich willkommen!

Inspiriert haben die musikalischen Traditionen der Roma und Sinti ebenso übrigens die Meister der europäischen Klassik, wie wir von Haydn, Beethoven und Brahms wissen. Django Reinhardt etwa oder – gerade in Berlin unvergessen – Coco Schumann haben dem Jazz neue Farben und Ausdrucksmöglichkeiten gegeben.

Ich freue mich dann auf die Kunsthistorikerin und Kuratorin Tímea Junghaus, die aus Budapest stammt und Geschäftsführerin des European Roma Institute for Arts and Culture ist. Das ist 2017 auf Initiative des Europarats, der Open Society Foundations und der „Allianz für das European Roma Institute for Arts and Culture“ gegründet worden. Tímea Junghaus‘ kuratorisches Werk umfasst unter anderem 2007 den ersten Roma-Pavillon auf der Biennale in Venedig.

Ich freue mich auf die bildende Künstlerin Delaine Le Bas aus Worthing, Großbritannien. Sie arbeitete mit ihrem verstorbenen Ehemann, dem Künstler Damian Le Bas, an ihren Installationen. Es gibt eine enge Zusammenarbeit mit der Galerie Kai Dikhas und dem Berliner Maxim Gorki Theater. Dort ist nicht nur seit 2017 das Stück Roma Armee zu sehen, dort wurde auch 2018 die erste selbstorganisierte Roma-Biennale ausgerichtet. Herzlich willkommen!

Und zum Schluss: Ich hätte mich sehr gefreut auf die Schriftstellerin Mariella Mehr, die aber wegen Krankheit heute nicht selber kommen kann. Wir werden aber einen ihrer Texte hören. Die Schweizerin ist Angehörige der Minderheit der Jenischen, die zwar nicht zu den Sinti und Roma gehören, aber als nach Zigeunerart umherziehende Landfahrer diskriminiert und verfolgt wurden. Sie wurde, wie viele andere, von ihrer fahrenden Familie, ihren Eltern zwangsweise getrennt, wuchs in 16 Kinderheimen und drei Erziehungsanstalten auf. In Romanen und Gedichten entwickelte Mariella Mehr eine bilderreiche, expressive Sprache für existenzielle Erfahrungen wie Fremdheit und Zugehörigkeit, Verletzung und Schmerz.

Sie sehen: Unsere Besetzung ist international. Und dazu gehört auch die Schauspielerin Sophie Rois, die den Text von Mariella Mehr liest. Sie ist aus Linz, jetzt aber schon lange in Berlin, wo sie viele Jahre mit Frank Castorf gearbeitet hat. Jetzt ist sie Ensemblemitglied des Deutschen Theaters. Dass diese herausragende Schauspielerin uns heute Abend die Ehre gibt, freut mich wirklich sehr. Herzlich willkommen, Frau Rois!

Ich verspreche Ihnen einen aufregenden und spannenden Abend! Und ich hoffe, dass wir mit diesem Abend nicht nur ein hörbares, sondern auch ein sichtbares Zeichen setzen.