"Zukunftsforum Ländliche Entwicklung" auf der Internationalen Grünen Woche

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 23. Januar 2019

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 23. Januar beim "Zukunftsforum Ländliche Entwicklung" auf der Internationalen Grünen Woche in Berlin eine Ansprache gehalten: "Nur dort, wo Menschen eine Arbeit finden, wo sie für ihre Familie sorgen können, nur dort hat das Leben auf dem Land gegen den demographischen Wandel eine Chance. Wo es Arbeit gibt, lebt eine Region. Wir sind und wir bleiben eine Arbeitsgesellschaft, natürlich auch auf dem Land."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Ansprache beim "Zukunftsforum Ländliche Entwicklung" auf der Internationalen Grünen Woche in Berlin

Wie Sie wissen, lebe ich in Berlin und arbeite in Bellevue, aber eigentlich komme ich aus Brakelsiek, einem Dorf im südöstlichen Lipperland, zwischen Teutoburger Wald und Weserbergland. Das ist meine Heimat, hier habe ich meine Kindheit und Jugend verbracht. 750 Meter von einem Ortsende zum anderen, damals eine Stunde zur nächsten Autobahn, 900 Einwohner, inzwischen ein paar weniger. Dort leben meine Mutter und mein Bruder, dort sind viele meiner Freunde aus der Schulzeit. Den Fußballplatz gibt es auch immer noch. Dort habe ich mindestens die Hälfte meiner Kindheit und Jugend verbracht. Später gemeinsam mit Freunden einen Jugendtreff gegründet. Auch wenn ich viel in der Welt herumgekommen bin, gebe ich zu: Im Herzen ist das meine Heimat geblieben.

Deswegen freue ich mich, dass Sie heute aus ganz Deutschland nach Berlin gekommen sind, um sich zu vernetzen und neue Projekte für die ländliche Entwicklung anzustoßen. Denn das hier ist kein Nostalgietreffen, das ist ein Zukunftsforum! Und damit ist die wichtigste Frage schon beantwortet: Ja, das Land hat Zukunft!

Vielleicht geht es Ihnen auch so: Gerade weil ich das Leben auf dem Land gut kenne, wundere ich mich, wie in der Stadt manchmal über das Land gesprochen wird. Dort verfällt die Debatte zu oft in Stereotype. Zwischen Postkartenidylle und – im schönsten Bürokratendeutsch – sich entleerenden Räumen. Zwischen Landlust und Landfrust. Zwischen liebevoll geschmückten Dorfplätzen und menschenleeren Durchfahrtsstraßen. Nichts davon hat viel mit der Realität zu tun. Es gibt auch auf dem Land nicht nur schwarz oder weiß.

Schauen wir doch einmal genau hin. Sehen wir uns an, was wirklich ist. Ich will Sie nicht mit Statistiken langweilen. Die kennen Sie als Experten für ländliche Entwicklung besser als ich: Die Fläche Deutschlands besteht zu 90 Prozent aus ländlich geprägten Gebieten. Auf dem Land wohnt die Mehrheit der Deutschen. Rund die Hälfte unserer Wirtschaftskraft wird hier geschaffen. Und jeder zweite Arbeitsplatz hängt an Betrieben, die außerhalb der Städte den Menschen eine Perspektive geben.

Landwirtschaft und Lasertechnologie; Marktplatz und Weltmarkt sind eben keine Widersprüche. Im Gegenteil: Einige der innovativsten Weltmarktführer sind auf dem Land zu Hause. Es ist also höchste Zeit, die Wahrnehmung in manchen Köpfen geradezurücken: Die Landbewohner sind keine abgehängte Minderheit! Sondern da gibt es viele kreative Köpfe, Lokalhelden, Digitalpioniere und Neulandgewinner. Immer wenn ich auf dem Land unterwegs bin, treffe ich Menschen, die zusammenhalten und sich im Ehrenamt für andere einsetzen. Oder wie mir eine junge Auszubildende bei den Stadtwerken in Prenzlau sagte: Hier ist es einfach schöner zusammen. Und weil das so ist, können wir selbstbewusst sagen: Ja, das Land hat Zukunft!

Ich finde, wir dürfen beides zulassen: den festen Glauben an die Zukunft der ländlichen Räume und den realistischen Blick auf dessen besondere Herausforderungen. Vergangenes Jahr war ich viel in ländlichen Gegenden unterwegs. Land in Sicht habe ich diese Reisen genannt, weil ich das Land in den Blick nehmen wollte, wie es ist. Viel habe ich dort gehört von konkreten Problemen, die das Leben weitab der Zentren, an den Rändern der Republik, mancherorts mit sich bringt. Die wollen wir nicht verschweigen! Viele davon habe ich im Bayerischen Wald, in der Südwestpfalz, der Uckermark und der Oberlausitz mitbekommen: Der Supermarkt macht dicht, der Bus fährt – wenn überhaupt – immer seltener und an stabilen Handyempfang – geschweige denn schnelles Internet – ist nicht zu denken.

In der Pfalz habe ich mich lange mit einem Landarzt unterhalten. Seine Sorge: Wenn er aufhört, gibt es keinen Nachfolger und seine Patienten werden weite Wege auf sich nehmen müssen. Meine Sorge ist, dass sich das nicht nur auf diese eine Praxis bezieht. Auch die ganze Region wird Schaden nehmen, wenn sich die Ärztedichte weiter ausdünnt. Und wer will in eine Gegend ziehen, wo der nächste Arzt 30 Kilometer entfernt ist? Auf den Punkt bringt es hoch im Norden eine nordfriesische Warftbewohnerin, die in einem Zeitungsinterview sagte: Wenn ich alt bin, möchte ich in der Stadt leben, um nicht immer den Rollator in den Kofferraum wuppen zu müssen.

In Ostritz in Sachsen habe ich einen 80-Jährigen getroffen, ein beherzter Mann mit leuchtenden Augen, der seine Mitbürger zum Arzt fährt – im Notfall auch mit Rollator im Kofferraum. Er sagte mir über seine ehrenamtliche Arbeit: Gott braucht dich, auch wenn es dir gerade nicht passt. Und deswegen ist er trotz seines hohen Alters eine der Stützen seines Dorfes. Diese Begegnung hat mich berührt. Nur: Ehrenamtliches Engagement darf keine Entschuldigung für den Staat sein, sich schleichend aus der Daseinsvorsorge zu verabschieden. Dem Staat dürfen seine Bürger nicht weniger wert sein, nur weil sie auf dem Land wohnen!

Ich glaube, das ist den allermeisten bewusst – auch der Bundesregierung. Doch wenn dann in Berlin oder in Landeshauptstädten über ländliche Regionen gesprochen wird, ist mehr von Chancen und Potenzialen die Rede als von Ängsten und Sorgen, von Menschen, die sich abgehängt fühlen. Wie es ja ohnehin in Mode gekommen ist, auf Zeitungsseiten oder in Talkrunden über Gefühlslagen von Menschen zu mutmaßen, mit denen man von Angesicht zu Angesicht vermutlich noch kaum gesprochen hat. Es geht aber nicht um Befindlichkeiten, sondern um ganz konkrete und sehr spezifische Probleme vor Ort. Die müssen gelöst werden! Und dann ist es eigentlich auch ganz einfach: Damit sich niemand abgehängt fühlt, darf unser Land schlichtweg niemanden abhängen! Das ist Aufgabe von Politik, und dann kann sie getrost den Menschen ihre Gefühle lassen.

Das Probleme-Lösen, so habe ich es auf meinen Reisen erlebt, beginnt oft bei sehr grundsätzlichen Bedürfnissen. Auch auf dem Land brauchen Menschen eine gute ärztliche Versorgung. Moderne Technik kann dabei helfen. In Templin habe ich mir ein System für Telediagnose angeschaut, das mich direkt mit einem Neurologen in einem Berliner Krankenhaus verbunden hat. Wie gut zu wissen, dass Spezialisten auch den Menschen weitab der Großstädte helfen können.

Aber auch modernste Telemedizin kann den persönlichen Kontakt nicht ersetzen. Das ist ein Prüfstein für die ärztliche Versorgung in der ganzen Republik. Deswegen war das auch der Schwerpunkt meiner Reisen. In der Uckermark habe ich mich mit einer Krankenschwester unterhalten; AGnES-Schwestern heißt das Projekt. Klingt nach dem gleichnamigen DEFA-Film mit Agnes Kraus, die Ähnlichkeit ist bewusst, bedeutet aber: Arztentlastende Gemeindenahe E-Health-gestützte Systemische Intervention. Oder im Klartext: Wie im Film fahren die Schwestern und Pfleger von Patient zu Patient, um etwa Blut abzunehmen oder einen Verband zu wechseln. Nicht unbedingt mit dem Moped und mit Berliner Schnauze wie Schwester Agnes, aber dennoch nahe dran an den Menschen. Diese Schwestern und Pfleger machen einen großen Unterschied. Nämlich den Unterschied zwischen dem Vertrauen, sich in guten Händen zu wissen, und der Bitterkeit, sich verlassen zu fühlen, wenn niemand kommt.

Für mich ist das eine Lösung für ein Problem des ländlichen Raums, das nicht nur in der Uckermark funktioniert. Auch andere Regionen haben ähnliche oder ganz andere Initiativen gestartet. Deswegen ist dieses Forum heute auch so wichtig. Nicht jedes Dorf kann das Rad neu erfinden. Viel wichtiger ist, voneinander zu lernen oder in kommunaler Zusammenarbeit gemeinsam Probleme anzugehen. Wenn das gelingt, dann können wir mit Zuversicht sagen: Ja, das Land hat Zukunft!

Wenn ich die Menschen in der Uckermark oder der Lausitz, im Bayerischen Wald oder der Pfalz gefragt habe, wo der Schuh drückt am stärksten drückt, dann ging es meist auch um die berufliche Zukunft.

In Görlitz haben die Siemensianer monatelang für ihre Arbeitsplätze gekämpft. Wenn ein großes Werk in einer solchen Region schließt, der größte Arbeitgeber vor Ort, dann trifft es diese Gegend besonders schwer. Ich habe mit den Beschäftigten dort lange gesprochen – auch mit der Unternehmensleitung. Und mir ist ein Stein vom Herzen gefallen, als bekannt wurde: Das Werk und die meisten Jobs bleiben!

Das sind gute Neuigkeiten, denn niemand will – auch wenn Görlitz noch so schön ist – in einem Heimatmuseum leben. Nur dort, wo Menschen eine Arbeit finden, wo sie für ihre Familie sorgen können, nur dort hat das Leben auf dem Land gegen den demographischen Wandel eine Chance. Wo es Arbeit gibt, lebt eine Region. Wir sind und wir bleiben eine Arbeitsgesellschaft, natürlich auch auf dem Land. Wo es Arbeit gibt, ziehen nicht so viele junge Menschen weg oder sie kommen nach ihrer Ausbildung wieder zurück. Dann entstehen soziales Leben, neue Kulturvereine, Kitas – oder der Sportverein bleibt. All das, was ein Dorf lebenswert macht.

Im Bayerischen Wald habe ich einen jungen Firmenchef getroffen. Er ist einer der Rückkehrer. Fürs Studium und erste Berufserfahrung war er weggezogen und ist dann wieder zurück nach Grafenau in den Landkreis Freyung gekommen. Im Familienbetrieb entwickelt er ein neues Geschäftsmodell mit innovativen Produkten. Wenn Sie eine Ladesäule für E-Autos irgendwo in Deutschland sehen, dann kommt die vielleicht aus dem Bayerischen Wald und wenn sie nicht von dort kommt, dann kommt sie aus dem Sauerland. Oder wenn Sie an der Bushaltestelle eine elektronische Werbeanzeige sehen: Genau, dann kommt die vielleicht auch aus dem Bayerischen Wald mit Software aus der Pfalz.

Damit wir häufiger von solchen erfolgreichen Geschichten hören, darf es keinen unüberwindbaren Unterschied machen, ob ein Unternehmen in der Stadt oder auf dem Land sitzt. Dafür muss das Land gut an die Zentren angebunden sein: mit Datenleitungen, Straßen und Schienen. In Görlitz sagten mir die Leute: Mit öffentlichen Verkehrsmitteln von Berlin nach Görlitz kommen zu wollen, das kann man vergessen. Sehen Sie: Das sind reale Sorgen. Der Großstädter fällt ja schon vor Sorge in Ohnmacht, dass der Wagenstandsanzeiger ausgefallen sein könnte oder Kaffee im ICE-Bistro nicht heiß genug ist.

Der Staat muss also deutschlandweit eine gute Infrastruktur gewährleisten. Denn eine gute Infrastruktur ist mehr als Daseinsvorsorge, sie ist Dableibevorsorge. Darauf müssen sich die Menschen auch in ländlichen Gebieten verlassen können. Das ist der Staat ihnen schuldig!

Dazu gehört auch eine leistungsfähige digitale Infrastruktur. Aus eigener Erfahrung weiß ich aber: Zu viele Orte liegen im Funkloch. Das macht einen sprachlos – sogar wortwörtlich. Und wo schon der Handyempfang notleidend ist, da ist das schnelle Internet noch weiter entfernt. Darüber lamentieren wir schon viel zu lange!

Allerdings stehen wir jetzt bei der Vergabe der 5G-Lizenzen vor einer entscheidenden Weichenstellung. 5G allein wird den ländlichen Raum nicht zukunftsfest machen, aber es setzt neue Standards. Deswegen ist jetzt darauf zu achten, dass bei der Einführung von 5G der ländliche Raum nicht weiter von technischen Entwicklungen abgehängt wird. Oder wie ein junger Vater mir sagte: Wie kann ich meine Kinder auf die Zukunft vorbereiten, wenn die Zukunft erst 40 Kilometer weiter anfängt?

Realistisch betrachtet wird sich nicht jeder Unterschied zwischen Stadt und Land einebnen lassen. Das liegt in der Natur der Sache. Gleichwertige Lebensverhältnisse – so heißt es im Grundgesetz – bedeuten nicht gleiche Lebensverhältnisse. Und was gleichwertige Lebensverhältnisse im Einzelfall beinhalten, müssen wir als Gesellschaft immer wieder neu aushandeln und auf die Höhe der Zeit bringen.

Ich finde, zu gleichwertigen Lebensverhältnissen gehört heute: Wo immer Menschen leben und arbeiten, brauchen sie schnelles Internet. Niemand käme bei zu wenigen Menschen in einem Dorf auf die Idee, die Elektrizität oder Wasser abzustellen. Und genauso wie Strom und Wasser gehört schnelles Internet heute zur Grundversorgung! Nur dann können wir mit Zuversicht sagen: Überall hat das Land Zukunft!

Auch wenn ich es jetzt zum Ende meiner Rede sage – es ist der Anfang von allem und so wichtig. Ich bin überzeugt: Das Land hat Zukunft, weil sich dort so viele Frauen und Männer in einem Ehrenamt für ihre Dorfgemeinschaft einsetzten. Ohne die Stunden zu zählen, ohne zu erwarten, dafür mit Orden und Ehrenzeichen ausgezeichnet oder auf den Titelseiten der Zeitungen gefeiert zu werden. Sondern weil es einfach dazugehört, weil andere es auch machen, weil es für sie selbstverständlich ist. Einige von ihnen habe ich getroffen: bei der Feuerwehr in Tantow, im Jugendtreff in Perlesreuth, im Kulturzentrum von Templin und an vielen anderen Orten.

Mir war es wichtig, einfach einmal Danke zu sagen. Deswegen haben wir bei jeder Reise – meistens mit Bürgermeistern und Landräten – einen Empfang für diese engagierten Bürgerinnen und Bürger organisiert. Und weil ich weiß, wie viele Ehrenamtliche auch unter Ihnen sind, wiederhole ich ganz einfach den Satz, der mir am wichtigsten ist: Herzlichen Dank Ihnen allen für das, was Sie für den Zusammenhalt der Gesellschaft tun. Wenn das Land Zukunft hat, dann ganz wesentlich auch dank Ihres Engagements!

Gestern habe ich ein Treffen mit Neulandgewinnern gehabt und bevor ich zu Ihnen gekommen bin, habe ich schon einen kurzen Rundgang durch die Messehalle gemacht. Mir sind dabei einige Ihrer Initiativen aufgefallen, mit denen Sie sich kraftvoll und selbstbewusst für die Zukunft Ihrer Heimat auf dem Land einsetzen. Unglaublich spannend ist die Vielfalt des Engagements, aber immer mit dem gleichen Ziel: lebenswerte Bedingungen auf dem Dorf und der Kleinstadt zu schaffen. Hier wimmelt es vor guten Ideen, und ich wünsche Ihnen, dass Sie möglichst viele davon mit nach Hause nehmen und dass Sie Unterstützung finden, möglichst viele davon in die Tat umzusetzen.

Heute Morgen musste ich an ein Gespräch in der Uckermark denken. In Tantow, an der Grenze zu Polen, einer Lage, die nicht zu den chancenreichsten gehört, haben die Einwohner die Zusammenarbeit über die Grenze hinweg als Chance begriffen und einen deutsch-polnischen Kindergarten aufgemacht. Eine Erzieherin sagte mir: Wir sind nicht das Ende der Welt, wir sind der Anfang! Schön, oder? Mich hat das angesteckt – wie so viele Begegnungen, auch hier und heute mit Ihnen auf dem Forum. Bei allen Problemen, die wir nicht weg reden, können wir guten Mutes sein. Wir können selbstbewusst sagen: Es ist Land in Sicht, das Land hat Zukunft! Arbeiten wir dafür!

Herzlichen Dank!