Empfang für Aktive der politischen Bildung und Podiumsdiskussion zum Thema "Demokratie ganz nah – Wie gelingt aufsuchende politische Bildung?"

Schwerpunktthema: Rede

Krefeld, , 2. Februar 2019

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 2. Februar bei einem Empfang für Aktive der politischen Bildung zum Thema "70 Jahre Grundgesetz sollten uns mehr wert sein als Verlegenheitsveranstaltungen, mehr wert als reine Pflichterfüllung. 70 Jahre Grundrechte sollten den Bürgerinnen und Bürgern etwas sagen, etwas mit ihnen zu tun haben. 70 Jahre Grundgesetz zu beachten und öffentlich sichtbar zu würdigen, ist gerade in dieser Zeit von Bedeutung."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Ansprache beim Empfang für Aktive der Politischen Bildung in der Fabrik Heeder in Krefeld

Vor einem Jahr um diese Zeit war ich mir ziemlich sicher, dass es schwierig werden würde, alle Landeszentralen beziehungsweise den Landesbeauftragten und die Bundeszentrale für politische Bildung unter einen Hut – oder sagen wir passender: unter einen Schirm – zu bekommen. Denn das hieß ja: 17 politisch unabhängige Häuser, 17 unterschiedliche Konzepte und Vorstellungen davon, was Demokratie ganz nah bedeuten kann. Liebe Frau Springenberg-Eich, lieber Herr Krüger: Ich habe mich geirrt – und das mit großer Freude!

Unser gemeinsamer Ideenwettbewerb zum 70. Jubiläum des Grundgesetzes war schon auf dem Papier sehr dynamisch, und heute hier in Krefeld wurde greifbar: Politische Bildung ist so viel mehr als ihr Image! Die meisten denken doch an Regalmeter Bücher, Bücher, Bücher oder an den – leider oft erfolglosen – Versuch des Lehrers in der Schule, die Definition von Erst- und Zweitstimme in die Köpfe zu kriegen.

Ich glaube, hier im Saal sind wir uns einig: Das alles ist wichtig, aber es reicht nicht! Es reicht nicht, um in einer Zeit wie der unseren, wo die Demokratie spürbar unter Druck gerät, zu vermitteln, was unser politisches Modell und sein Fundament – das Grundgesetz – so wertvoll macht. Vor allem reicht es nicht, um in allen Altersgruppen, auch jenseits der Schulen, Mitstreiter im wahrsten Sinne des Wortes zu finden.

Politische Bildung muss sich auf den Weg machen, muss hingehen zu den Menschen, ganz gezielt auch zu denen, die bisher von solchen Angeboten nicht erreicht werden oder nicht erreicht werden wollen: weil sie sich der Politik fern, entfremdet oder abgehängt fühlen, weil sie sozial benachteiligt sind oder weil sie aus ihren Herkunftsländern politische Partizipation oder einen Ansprechpartner, der sich als überparteilich versteht, einfach nicht kennen. Diese Gruppen sind deshalb nicht gleich Verächter der Demokratie, aber sie fehlen der Demokratie. Demokratie braucht alle!

Zur nüchternen Realität gehört auch: Kontaktaufnahme in diese Richtungen funktioniert nicht oberlehrerhaft. Wenn ich meine Briefpost oder die Kommentare auf meiner Facebook-Seite lese, dann möchten die meisten Bürgerinnen und Bürger in unserem Land alles andere als belehrt werden. Was sie sich wünschen, das ist: gehört werden, ernstgenommen werden, beteiligt werden.

Allerdings glauben viele von ihnen nicht daran und vermuten, dass die Politik ihre Anliegen nicht versteht oder überhaupt nicht wahrnehmen will. Es gibt ganz offenkundig einen Vertrauensverlust bis hin zu den aggressiven Stimmen, die das System als solches infrage stellen oder sich von den Hetzern gegen die da oben, gegen das Establishment mitreißen lassen. Für politische Bildung geht es derzeit also nicht nur um Formenvielfalt oder Reichweite, es geht offenkundig wieder um ihren inhaltlichen Kern, um die Substanz der Demokratie.

Als ich mich entschieden habe, den Ideenwettbewerb auszurufen, war der Geburtstag unserer Verfassung nur der Anlass. Es ging mir um mehr. Der Befund zu den eklatanten Defiziten in unserer demokratischen Streitkultur sagt mir: 70 Jahre Grundgesetz sollten uns mehr wert sein als Verlegenheitsveranstaltungen, mehr wert als reine Pflichterfüllung. 70 Jahre Grundrechte sollten den Bürgerinnen und Bürgern etwas sagen, etwas mit ihnen zu tun haben. 70 Jahre Grundgesetz zu beachten und öffentlich sichtbar zu würdigen, ist gerade in dieser Zeit von Bedeutung, mehr als vor zehn, 20 oder 30 Jahren. Politisch Verantwortliche landauf, landab sind gerade dabei, ihr Verhältnis zu den Bürgerinnen und Bürgern, ihre Zielgruppen und eigenen Programme neu zu überdenken, ganz besonders die Frage: Wie lässt sich Vertrauen in der und für die repräsentative Demokratie neu stiften? Um dafür parteiübergreifend eine Grundlage zu schaffen, brauchen wir das große Netzwerk der Bundes- und Landeszentralen mehr denn je. Und wir brauchen Mut! Mut, Demokratie nicht nur zu ertragen, sondern ein Teil von ihr zu sein, Demokratie zu gestalten – im Großen wie im Kleinen!

Mit Mut meine ich zum Beispiel: alte Versprechungen mit neuem Leben füllen, etwa die viel zitierte Begegnung auf Augenhöhe. Als Außenminister habe ich lange Jahre erlebt, wie schnell sich das sagt und wie schwer es im Alltag einzulösen ist. Bei meinen Inlandsterminen als Bundespräsident empfinde ich es ähnlich. Wenn die Politik zu Gast ist, steht da meistens eine Bühne mit Rednerpult, Sender- und Empfängerrolle sind festgelegt. Und selbst wenn ausdrücklich zum Dialog eingeladen wird, glückt er nur ausnahmsweise.

Gerade vor diesem Hintergrund hat mir der Beitrag der Landeszentrale Nordrhein-Westfalen bei unserem Ideenwettbewerb so gut gefallen: Demokratie im Quartier, ein Werkstatt-Tag, bei dem ganz unterschiedliche Teilnehmer gleichberechtigt an einem Tisch oder an einer Pinnwand zusammenkommen. Jeder kann alles sagen, solange die Grundregeln konstruktiver Kommunikation eingehalten werden.

Wenn es der Emmaus-Gemeinde auf diese Weise gelingt, Menschen mit und ohne Obdach ins Gespräch zu bringen, ist das schon ein Wert an sich. Wenn Anwohner sich sogar entscheiden, im Viertelsrat mitzuwirken, um gemeinsam mit Vertretern der Stadt das nächste Straßenfest zu planen oder wilde Müllplätze in den Griff zu bekommen, dann hat unser demokratisches Miteinander mehr gewonnen, als eine perfekte Definition von Erst- und Zweitstimme wohl je bewirken könnte. Ja, vielleicht wird dann auch deutlich, dass wir – wir alle als Bürgerinnen und Bürger einer Demokratie – unsere Gesellschaft gestalten können und dass unser Wahlrecht ein Ausdruck von Bürgerstolz sein kann, selbst die Richtung der Politik zu bestimmen – nicht völlig eigenständig, doch jedenfalls mitzubestimmen.

Wir werden auf dem Podium gleich mehr darüber hören, wie die sogenannte aufsuchende politische Bildung mit Leben gefüllt wird. Aber ich möchte Sie, liebe Gäste – auch für die Saaldiskussion – herzlich bitten, die Probleme nicht zu verschweigen, vor denen Sie bei Ihrer täglichen Arbeit stehen. Wie funktioniert es beispielsweise an den Schnittstellen, wenn Haupt- und Ehrenamt kooperieren müssen? Oder – der Gedanke kam mir heute Nachmittag bei den Projektbesuchen – wenn politische Bildung sich so weit hinein in die Gesellschaft bewegt, dass sie sich mit der Sozialarbeit kreuzt: Wie gehen Sie damit um?

Was mich umtreibt, ist außerdem die Frage: Mit welchen Worten beschreibt man solche Initiativen? Die Bundeszentrale wird dankenswerterweise eine kleine Publikation herausbringen, um die Projekte aller Landeszentralen zu sammeln und zu dokumentieren. Ist darin dann vom sogenannten Problemviertel Krefeld-Süd die Rede, um Außenstehenden klar zu machen, warum die Demokratie-Werkstatt genau dort entstand? Oder findet sich eine andere Formulierung, die Fakten nicht schönfärbt, aber trotzdem ein wichtiges Ziel erreicht: Differenzieren statt Diffamieren?

Dieser Balanceakt ist mir so präsent, weil mich mein nächster Besuch auf Einladung der Landeszentrale Sachsen-Anhalt nach Halle-Neustadt führen wird. Ein Wunsch ist mir schon im Vorfeld übermittelt worden: Es wäre gut, wenn der Bundespräsident mal einen Tag lang alles vergessen könnte, was er über Halle-Neustadt gelesen hat, und sich vor Ort anhört, wie es dort wirklich ist. Genau das habe ich vor.

Zuhören können, vor allem: zuhören wollen, das setzt eine Bereitschaft voraus, die wir in vielen Teilen unserer Gesellschaft öfter und deutlicher einfordern müssen. Oder neu entwickeln, in sozialen Medien beispielsweise. Bei allen Vorzügen, die sich dort für den Austausch eröffnen: Soziale Medien verführen auch dazu, permanent zu senden. Zuweilen Dinge, die man im persönlichen Gespräch nie über die Lippen bringen würde. Ich möchte die Digitalisierung unserer Kommunikation aber deshalb nicht rückabwickeln, im Gegenteil. Ich will eine Diskussionskultur beflügeln, bei der gewisse Grundregeln der Auseinandersetzung von allen geachtet werden – online wie offline. Und wenn wir uns über diese Regeln nicht einig sind, dann müssen wir eben die Regeln selbst zum Gegenstand der Diskussion machen. Ich glaube, hier liegt gerade für politische Bildung ein riesiges Arbeitsfeld, eines der wichtigsten für unsere Demokratie überhaupt, um kompromissfähig zu bleiben: Zu wissen, dass nicht alle 82 Millionen Deutschen jeden Tag Recht haben können. Und dass selbst der, der sich zweifellos im Recht fühlt, auf Verständigung mit anderen angewiesen ist.

Ein erster Schritt wäre, dass wir uns alle in diesem Prozess als Lernende verstehen. Ich jedenfalls werde das heute tun und nachher nicht auf diesem Podium sprechen, sondern Zuhörer sein.

Lieber Herr Bremer, es freut mich sehr, dass Sie gekommen sind, um uns einige wissenschaftliche Einblicke zum Thema Demokratie ganz nah zu geben, insbesondere zur Perspektivumkehr bei der Ansprache von Erwachsenen: Nicht warten, wer nachfragt. Anbieten, anbieten, anbieten! Frau Menke vom Bundesausschuss Politische Bildung e. V. wird aus der Warte des Ehrenamts sicher viele praktische Beispiele ergänzen. Frau Springenberg-Eich und Herr Meyer haben heute im Tagesprogramm schon bewiesen, dass sie sehr genau wissen, wovon sie sprechen. Und auch unsere Moderatorin bringt eigene Erfahrungen zur politischen Bildung mit: Liebe Frau Boysen, Ihr Stichwort Vagabundenakademie hat meine Frau und mich neugierig gemacht.

Nicht nur wir beide, im besten Fall der ganze Saal soll von der versammelten Expertise etwas mitnehmen und in Bund, Länder und Kommunen weitertragen. Geschätzte Partner: Vielen Dank für die tolle Zusammenarbeit bisher – und nun Bühne frei!