6. Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie: "Alles Glaubenssache? Über das Verhältnis von Religion und Demokratie"

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 26. Februar 2019

Der Bundespräsident hat am 26. Februar zur Eröffnung des sechsten Forum Bellevue "Alles Glaubenssache?" in Schloss Bellevue eine Ansprache gehalten: "Der Staat ist verpflichtet, in weltanschaulichen Fragen neutral zu sein. Aber gleichzeitig ist es seine Aufgabe, die Freiheit des Glaubens, des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses, zu schützen. Diese Freiheit gilt für alle, für Christen, Muslime, Juden – aber auch für Atheisten. In unserem Land soll niemand seinen Glauben verbergen, verleugnen oder verbiegen müssen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache beim Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie mit dem Titel "Alles Glaubenssache? – Ein Gespräch über das Verhältnis von Religion und Demokratie" im Großen Saal von Schloss Bellevue

Die Kirchen werden leerer, zumindest in Europa. Das Interesse an Religion aber ist ungebrochen. Es wächst sogar. Was auch die heutige Veranstaltung zeigt. Ihre Rückmeldungen waren so zahlreich, dass wir sogar zusätzliche Stuhlreihen aufstellen mussten.

Die Zahlen und Fakten ergeben ein widersprüchliches Bild. Auf der einen Seite verliert die verfasste Religion in ihrer traditionellen, volkskirchlichen Gestalt an Bedeutung. Jeder Dritte fühlt sich keiner Konfession mehr zugehörig. In den deutschen Großstädten hat sich, wie wir vor einigen Tagen lesen konnten, die Zahl der Kirchenaustritte im Jahr 2018 um 17 Prozent erhöht.

Auf der anderen Seite verstehen sich deutlich zwei Drittel der Menschen in unserem Land immer noch als religiös, und für viele spielt der Glaube sogar wieder eine besonders große Rolle. Ich denke an junge Menschen aus Einwandererfamilien, die nach Heimat und Zugehörigkeit suchen. Aber eben nicht nur an die, sondern auch an die vielen, die in unserer rastlosen Zeit nach Orientierung suchen und diese Suche in den unterschiedlichsten Formen von Religion und Spiritualität ausleben.

Wenn einige schon von einer Rückkehr der Religion als grundlegende Tendenz reden, ist das insgesamt noch wenig belegt. Aber eines scheint mir klar: Die These von der unaufhaltsam fortschreitenden Säkularisierung greift jedenfalls zu kurz. Die heutige deutsche Gesellschaft ist nicht areligiös, sondern pluri-religiös geworden. Sie ist geprägt durch eine neue Vielfalt der Religionen und religiösen Ausdrucksformen. Zuwanderung ist eine, wenn auch nicht die einzige Ursache. Die Mehrheit der Deutschen ist zwar nach wie vor katholisch oder evangelisch, aber auch die Zahl der orthodoxen Christen wächst. Jüdische Gemeinden haben wieder ihren festen Platz in Deutschland gefunden – auch wenn es eine Schande ist, dass Synagogen in Deutschland von Polizisten geschützt werden müssen. Vor allem aber wächst die Zahl der Muslime, die in Deutschland das ganze große Spektrum des Islam widerspiegeln.

Hinzu kommen – in geringerem Umfang – Hindus, Buddhisten und viele, viele andere. Gerade auch in Großstädten wie hier in Berlin spiegelt sich die religiöse Vielfalt auch im Alltag wider, treffen Kreuz, Kopftuch und Kippa im selben Viertel oder derselben Straße aufeinander.

Wir alle wissen: Wo Menschen unterschiedlicher religiöser Prägung, Gläubige und Nichtgläubige zusammenleben, da sind Konflikte nicht ausgeschlossen. Nicht alle in unserem Land empfinden religiöse Vielfalt als Bereicherung, nicht wenige fühlen sich bedroht und sehen ihre Lebenswelt, ihre Kultur, ihre Werte in Gefahr.

Religiöse Vielfalt führt aber auch dazu, dass das Verhältnis von demokratischem Verfassungsstaat und Religionsgemeinschaften neue Brisanz erhält. Kruzifix-Urteil und Kopftuchstreit, die Beschneidung von Jungen, das kirchliche Arbeitsrecht, der Bau von Moscheen oder die Sterbehilfe – in den vergangenen Jahren haben wir in Deutschland immer wieder und mit wachsender Heftigkeit gestritten, wenn es um die Grenzen der Religionsfreiheit, um Rechtsansprüche einzelner Gemeinschaften oder um religiöse Symbole im öffentlichen Raum ging.

Die Religion ist als Thema in die öffentliche Auseinandersetzung mit einiger Wucht zurückgekehrt, und ich finde es wichtig, dass wir Konflikte nicht unter den Teppich kehren, sondern sie in der Gesellschaft austragen – so offen wie möglich, aber auch mit Respekt vor anderen Lebensentwürfen, auch vor solchen Lebensentwürfen, die wir in der Sprache des Alltags heute gern als traditionell oder orthodox bezeichnen. Wir müssen gemeinsam nach Lösungen suchen, Regeln unseres Zusammenlebens aushandeln, aber auch Grenzen ziehen, wo Würde und Integrität des Menschen in Frage gestellt werden. Das ist oft anstrengend, und es verlangt uns allen Toleranz und Kompromissbereitschaft ab – manchmal mehr, als wir glauben zu haben. Aber das Miteinander von Menschen unterschiedlichen Glaubens kann nur gelingen, wenn wir einander zuhören und auch respektvoll miteinander streiten! Genau das wollen wir heute hier tun.

Unser Grundgesetz ist der feste Grund, auf dem wir uns als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger begegnen und unsere Konflikte austragen können, ganz gleich, wes Geistes Kind wir sind. Was dabei nicht zur Disposition steht, sind die Grundprinzipien unserer Verfassung selbst: die individuellen Grund- und Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

In seinem Kruzifix-Urteil hat es das Bundesverfassungsgericht noch einmal bekräftigt: Der Staat ist verpflichtet, in weltanschaulichen Fragen neutral zu sein. Aber gleichzeitig ist es seine Aufgabe, die Freiheit des Glaubens, des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses, zu schützen.

Diese Freiheit gilt für alle, für Christen, Muslime, Juden – aber auch für Atheisten. In unserem Land soll niemand seinen Glauben verbergen, verleugnen oder verbiegen müssen. Aber auch die Gretchenfrage – Wie hast du’s mit der Religion? – muss er nicht beantworten, wenn er es nicht will. Jeder soll nach seiner Überzeugung leben können, ohne Angst und ohne Rechtfertigungsdruck. Kein Mensch darf wegen seines Glaubens diskriminiert oder ausgegrenzt werden, so sagt es das Grundgesetz. Und keinesfalls dürfen wir zulassen, dass Menschen beleidigt oder angegriffen werden, weil sie ein Kopftuch, eine Kippa oder ein Kreuz tragen. Dafür darf es in Deutschland keinen Platz geben. Und deshalb müssen wir uns dagegen mit aller Entschiedenheit zur Wehr setzen!

Nicht weniger konfliktreich wird es, wenn wir über das Zusammenleben der Religionen auf internationaler Ebene sprechen. Keine Region der Welt ist von religiösen Konflikten so sehr gezeichnet wie der Nahe und Mittlere Osten. Für die deutsche Außenpolitik gilt dabei zuallererst eines: das Existenzrecht Israels zu schützen und zu verteidigen, lieber Herr Botmann, liebe Charlotte Knobloch, das ist unsere historische Verantwortung, und das ist und bleibt unsere oberste politische Maxime!

Am Wochenende haben mich Bürger angeschrieben und gefragt: Wie ist diese Maxime vereinbar mit einem Telegramm zum Nationalfeiertag im Iran, einem Land mit einem autoritären Regime, das im Namen der Religion Menschenrechte mit Füßen tritt und immer wieder das Existenzrecht Israels angreift?

Ich verstehe diese Frage. Ich verstehe sie sogar sehr gut. Sie hat mich im Fall des Iran buchstäblich über Jahrzehnte meines politischen Wirkens begleitet. Eine Sorge hat mich dabei besonders umgetrieben: Dass die Gefahr für die Region, und gerade für Israel, ungleich größer wäre, hätte der Iran Atomwaffen! Deshalb habe ich, mit vielen Partnern, jahrelang harte und hartnäckige Verhandlungen geführt, bis es uns 2015 gelungen ist, das Nuklearabkommen mit dem Iran abzuschließen. Und ich glaube bis heute, dass die Anstrengung der Bundesregierung richtig ist, dieses Nuklearabkommen auch gegen amerikanischen Druck aufrechtzuerhalten! Dass es nicht besser ist, die festen Vereinbarungen, auch die Sanktionsmittel, einfach aus der Hand zu geben – und den Iran in noch weitere Isolation und Radikalisierung hineinzutreiben.

In einer Welt, in der Spannungen wachsen und in der Konflikte zunehmen, bleibt uns diese eine Frage nicht erspart: Beschränken wir uns gegenüber Staaten, mit denen wir im Konflikt leben, auf Abbruch und Isolierung? Oder versuchen wir, auch im Konflikt, Zugangs- und damit Gesprächsmöglichkeiten zu erhalten?

Ich glaube, wir brauchen beides: Bereitschaft zu Kritik und offener Kontroverse, aber wenn wir gehört werden wollen, auch das Bemühen, den Gesprächsfaden nie völlig abreißen zu lassen! Das ist keine neue Erkenntnis. Sie spiegelt sich in jahrzehntelangen Gepflogenheiten wider, zum Beispiel der, dass sich Staaten, die miteinander in diplomatischen Beziehungen stehen, zum jeweiligen Nationalfeiertag ein höflich formuliertes Glückwunschschreiben übermitteln. Signale dieser Art verkörpern oft nichts anderes als den Wunsch, dass beide Seiten den Gesprächsfaden erhalten wollen. Und dieses Signal steht – wie heute im Fall Iran – natürlich nicht statt, sondern neben vielfältigen Kanälen und Formaten, in denen Kritik geübt wird oder sogar Sanktionen beschlossen werden. Auch ich werde weiterhin Kritik üben. Nicht zuletzt die regelmäßigen Besucher dieser Reihe erinnern sich, dass ich Salman Rushdie als Gast gleich zu meinem zweiten Forum Bellevue eingeladen habe. Jenen Salman Rushdie, gegen den das iranische Regime wegen angeblicher Blasphemie vor dreißig Jahren seine Mordkampagne gestartet hat.

Dort, wie in vielen anderen Fällen, muss unser Kompass klar sein, und unsere Kritik deutlich. Doch in der Außenpolitik – so ist es meine Erfahrung – brauchen wir eine Haltung, die Kritik übt, nicht nur um Recht zu haben, sondern um auf dieser Welt tatsächlich etwas zum Besseren zu bewegen! Diese Haltung wünsche ich mir auch weiterhin.

Hierzulande neigen wir in unserer Diskussion über das Verhältnis von Religion und modernem Verfassungsstaat allzu oft zu einer problematischen Essentialisierung. Wir sprechen von dem Islam, dem Judentum, dem Christentum. Und wir übersehen dabei schnell, wie unterschiedlich Glauben gelebt wurde und wird, wie sehr jede Lehre und Glaubenspraxis geschichtlichen Veränderungen unterliegt. Noch die etwas schlichte Diskussion, ob „der Islam“ nun zu Deutschland gehört oder nicht, zeugt von dieser Tendenz.

Es steht uns Christen gut an, uns daran zu erinnern, wie lange es gebraucht hat, bis die Kirchen ein positives Verhältnis zum modernen Verfassungsstaat gefunden haben. Wie sehr viele Protestanten in der Weimarer Republik der Monarchie nachgetrauert haben, mit wenigen rühmlichen Ausnahmen, um nur Karl Barth und Paul Tillich zu nennen. Wie lange Homosexualität buchstäblich verteufelt wurde. Ja, und auch die ersten Frauenordinationen in den evangelischen Kirchen liegen noch nicht so lange zurück.

Deshalb lautet die Frage nicht, ob der Islam zu Deutschland gehört – die ist angesichts der Millionen von Muslimen, die in unserem Land leben, längst beantwortet. Die eigentlich Frage lautet: Welcher Islam gehört zu Deutschland? Wie sieht eine islamische Lehre und Glaubenspraxis aus, die mit dem Leben in einer modernen, pluralistischen Gesellschaft im Einklang steht? Die Förderung von Kinderehen oder die Missachtung von Frauenrechten tun es sicher nicht!

Klar ist: Die Frage nach der richtigen Glaubenspraxis können nur die Gläubigen selbst beantworten. Und sie tun das, täglich, millionenfach, all die Musliminnen und Muslime, die unsere Mitbürger und Mitbewohner sind, die arbeiten, Steuern zahlen, Kinder erziehen, sich engagieren und dieses Land mit gestalten. Den Islam, der zu Deutschland gehört, gibt es längst, millionenfach gelebt! Aber ich weiß aus meinen Gesprächen auch, wie viel Unsicherheit und Klärungsbedarf es dennoch gibt. Wie viele junge Musliminnen und Muslime nach ethischer und spiritueller Orientierung suchen, die ihnen von den traditionellen Autoritäten nicht in hinreichendem Maße gegeben wird. Auch über dieses Spannungsfeld wollen wir heute reden. Ein Spannungsfeld, das übrigens auch den christlichen Kirchen nicht unbekannt ist.

In einer aufgeklärt-freiheitlichen Gesellschaft wird von jeder Religionsgemeinschaft erwartet, dass sie sich immer wieder selbst befragt: Ob sie den eigenen Ansprüchen an Friedfertigkeit, Moral und Wahrheitsliebe gerecht wird. Und wie sie ihr Verhältnis zu Gesellschaft, Staat und Rechtsordnung bestimmt. Dazu gehört auch, dass sie die respektvolle, aber kritische Befragung durch Anders- oder Nichtgläubige zulässt und gesprächsbereit bleibt.

Nur solches Zweifeln und Anzweifeln-Lassen bewahrt Religionen vor sklerotischer Erstarrung und fanatischer Rechthaberei. Nur solche Reflexion kann verhindern, dass die Kluft zwischen religiöser Lehre und der Lebenspraxis der Gläubigen immer tiefer und am Ende unüberbrückbar wird.

Die Theologie als universitäre Wissenschaft hatte immer den Anspruch, ein privilegierter Ort für diese Selbstbefragung und Dialogfähigkeit zu sein. Ich begrüße es ausdrücklich, dass es heute an deutschen Universitäten Lehrstühle für islamische Theologie gibt und, lieber Herr Khorchide, dort Wissenschaftler unterrichten, die nicht nur unsere heutige Debatte über das Verhältnis von Gesellschaft, staatlicher Ordnung und Religion mit wichtigen Beiträgen bereichern.

Ich freue mich, heute drei Gäste begrüßen zu können, die sich aus ganz unterschiedlichen Perspektiven mit dem Verhältnis von Religion und Demokratie beschäftigen.

Evelyn Finger ist Journalistin bei der Zeit und leitet dort seit einigen Jahren das Ressort Glauben und Zweifeln. Sie plädiert für eine strikte Trennung von Religion und Politik und hat in einem Artikel ein elftes Gebot formuliert, das da lautet: Du sollst mit Gott nicht Politik machen!

Liebe Frau Finger, Sie sind gerade zurück aus Rom, wo der Papst und die Bischöfe am Wochenende über die Fälle sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche beraten haben. Auch die Frage, warum die Kirchen an Glaubwürdigkeit verloren haben und ob dies auch mit den streng von oben vorgegebenen Glaubenslehren zu tun hat, wird uns gleich beschäftigen.

Ich freue mich, dass Sie heute hier sind. Herzlich willkommen, Evelyn Finger!

Hans Joas, mein zweiter Gast, ist Professor für Religionssoziologie an der Humboldt Universität hier in Berlin und an der University of Chicago. Er beobachtet das Handeln religiöser Individuen und Gemeinschaften in konkreten Situationen, statt pauschal von den Religionen zu sprechen. Und er forscht seit Langem zu der Frage, wie Werte in einer Gesellschaft eigentlich entstehen.

Mit ihm wollen wir diskutieren, unter welchen Bedingungen Religionsgemeinschaften zum friedlichen Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft beitragen können und welche religiösen Motive es dafür geben kann, individuelle Freiheitsrechte zu institutionalisieren oder zu schützen.

Lieber Herr Joas, auch Ihnen ein herzliches Willkommen!

Meinen dritten Gast habe ich eben schon genannt: Mouhanad Khorchide. Er ist Professor für Islamische Religionspädagogik an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster, leitet dort das Exzellenzcluster Islamische Theologie und beschäftigt sich unter anderem mit der Frage, wie man den Koran historisch-kritisch liest und wie er sich mit neuzeitlichem Freiheitsdenken verknüpfen lässt.

Seine Thesen zu einer „liberalen“ Auslegung und einer Reform des Islam sind umstritten. Manche Kritiker haben ihm vorgeworfen, sich an die Mehrheitsgesellschaft anzubiedern. Einige werfen ihm sogar vor, seine Haltung sei unislamisch. Angesichts vielfältiger Anfeindungen, denen er ausgesetzt ist, möchte ich hier ganz klar sagen: Sachliche Kritik ist willkommen. Drohungen, gar Morddrohungen können und dürfen wir niemals dulden!

Lieber Herr Khorchide, ich freue mich, dass wir das Gespräch über ihre Thesen heute und hier fortsetzen können. Danke, dass Sie da sind, und unsere Podiumsteilnehmer darf ich nun nach vorn bitten.

Herzlichen Dank!