Fritz Stern Lecture 2019 "Geht der Demokratie die Vernunft aus?"

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 5. März 2019

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 5. März die Fritz Stern Lecture 2019 "Geht der Demokratie die Vernunft aus?" in der American Academy gehalten: "Sein Argumentieren, sein Werben, sein leidenschaftliches Streiten für eine Politik der Vernunft speisten sich aus der tiefen Überzeugung, dass mit dem Verlust der Vernunft auch die Demokratie und die Freiheit selbst auf dem Spiel stehen. Und heute? Man wird sagen dürfen: die Vernunft hat nicht gerade Konjunktur. Und die Demokratie steht unter Druck."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache in der American Academy in der Reihe der Fritz Stern Lectures unter dem Titel "Geht der Demokratie die Vernunft aus?"

Ich freue mich, wieder einmal in der American Academy zu Gast zu sein. Noch dazu in Würdigung eines Mannes, dem wir Deutsche und die transatlantischen Beziehungen so unendlich viel zu verdanken haben: Fritz Stern. Vielen Dank für die Einladung!

Zugleich bin ich sicher, dass auch Fritz Stern es als besondere Herausforderung empfunden hätte, gerade zum Höhepunkt der Narrenzeit über Vernunft zu sprechen. Aber ich habe die Einladung dennoch gern angenommen, denn in den USA kennt man ja keine närrische Zeit – sagt man jedenfalls!

Aber im Ernst: Morgen ist Aschermittwoch, also genau der richtige Zeitpunkt, sich um die richtige Balance von Leidenschaft und nüchterner Vernunft zu bemühen. Eine Balance, um die auch Fritz Stern sein Leben lang gerungen hat. Wenige Stellen in seinem großen Werk sind berührender als die Szene zum zehnten Jahrestag des Attentats auf Hitler, in der er beschreibt, wie seine Abneigung, ja sein Hass auf die Deutschen sich in der Begegnung mit den Nachkommen der hingerichteten Verschwörer des 20. Juli verwandelte. Er, der im Oktober 1938 Deutschland verließ, verlassen musste, und in New York eine neue Heimat fand, wurde nicht nur zu einem der größten Historiker unserer Zeit. Er, der in Deutschland geborene amerikanische Jude, wurde diesem Deutschland, das ihn einst hinausgetrieben hatte, buchstäblich zu einem Weggefährten, wie es kaum einen zweiten gab. Ich erwähne das auch deshalb, weil bei aller Schärfe seines Verstandes und seines Urteils Fritz Stern niemand war, der Emotionen geringschätzte. Er wusste auch, dass man sie nie unterschätzen darf.

Und doch war der Verlust der Vernunft das zentrale Thema seines ersten großen Werkes The Politics of Cultural Despair – auf Deutsch erschienen unter dem Titel Kulturpessimismus als politische Gefahr. Wie war es möglich, dass das Deutschland seiner Vorfahren, dass das demokratische Deutschland, das auf das Kaiserreich gefolgt war, in Irrationalität und Barbarei versank und Europa und weite Teile der Welt mit in einen Abgrund aus Gewalt und Verbrechen zog? Das war die große, die ungeheure Frage, die er als junger Doktorand an der Columbia University in Angriff nahm.

Er beendet dieses Buch, das seinen Aufstieg als Historiker, als scharfsinniger Denker und als brillanter Stilist markiert, mit einer rhetorischen Frage: Aber, so müssen wir uns fragen, konnte es denn überhaupt ein anderes ‚drittes Reich‘ geben? Konnte man bei diesem wilden Sprung aus der politischen Wirklichkeit heraus irgendwo einen sicheren Halt oder Ruhepunkt finden? Kann man der Vernunft abschwören, die Gewalt verherrlichen, das Zeitalter des unumschränkten Machthabers prophezeien, alle bestehenden Institutionen verdammen – ohne damit den Triumph der Verantwortungslosigkeit vorzubereiten? All dies haben die völkischen Kritiker getan und dadurch bewiesen, welch schreckliche Gefahren eine aus Kulturpessimismus geborene Politik in sich birgt.

Für Fritz Stern war dieses Ergebnis seines Forschens nie allein eine Einsicht in die Ursachen und Ursprünge einer vergangenen Katastrophe. Sein Argumentieren, sein Werben, sein leidenschaftliches Streiten für eine Politik der Vernunft speisten sich aus der tiefen Überzeugung, dass mit dem Verlust der Vernunft auch die Demokratie und die Freiheit selbst auf dem Spiel stehen.

Und heute? Man wird sagen dürfen: die Vernunft hat nicht gerade Konjunktur. Und die Demokratie steht unter Druck.

Als ich im vergangenen Juni das Thomas-Mann-Haus in Los Angeles als neuen Ort der transatlantischen Debatte einweihen durfte, stieß ich auf eine Bemerkung von Thomas Mann über die Verdunkelung der Realität im Mystisch-Irrationalen der späten 1920er Jahre; eine Bemerkung, die auch Fritz Stern aufgreift: Diese Art von Verdunkelung, dieser Obskurantismus, schreibt Thomas Mann, ist sentimentale Rohheit, insofern sie ihre brutale und unvernünftige Physiognomie ‚unter der imposanten Maske‘ des Gemütes, der Germanentreue etwa, zu verstecken sucht.

Sentimentale Rohheit – das scheint mir eine treffende Beschreibung für ein mehr als aktuelles Phänomen, das wir im politischen Diskurs in unserem eigenen Land, aber auch auf der anderen Seite des Atlantiks und in vielen Gesellschaften weltweit heute beobachten können.

Wir beobachten das, und wir beklagen es. Aber das reicht nicht. Wir müssen versuchen, es zu verstehen: Woraus speist sich der grassierende Verlust an Vernunft? Was treibt die wütende Sehnsucht nach Sündenböcken? Warum findet der Appell an unsere niedrigsten, nicht an unsere besten Instinkte so viel Gehör? Fritz Sterns scharfsinniger Geist fehlt uns heute, um Antwort auf diese Fragen zu geben. So müssen wir uns ohne ihn darum bemühen, immer mit seiner Mahnung im Ohr, dass wir es uns nicht zu leicht machen dürfen bei der Suche nach den Ursachen.

Ich sehe vier große, miteinander verwobene Herausforderungen, vor denen wir stehen. Herausforderungen unserer Zeit, in denen doch alte Gefahren anklingen. Erstens die schiere Überforderung des menschlichen Verstandes und der Emotion angesichts der objektiv wachsenden Komplexität unserer vernetzten Welt. Zweitens die Herausforderung neuer Antworten auf die wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen, die die Globalisierung in den letzten Jahrzehnten in vielen unserer Gesellschaften verursacht hat. Drittens die kommunikative Herausforderung, das politische Handeln einer demokratisch verfassten Politik in dieser Unübersichtlichkeit überzeugend zu vermitteln. Ein Handeln, das mit Widersprüchen und Vieldeutigkeit zurechtkommen muss, während andere gleichzeitig radikal einfache Antworten anbieten. Viertens schließlich die Herausforderung einer sich dramatisch verändernden Aneignung von Information und Wissen in unserer digitalisierten Welt, durch die Evidenz und Vernunft zu einer Option unter vielen werden.

Beginnen wir mit der ersten Herausforderung. Die wachsende Komplexität und Vernetzung ist vielfach beschrieben. Vernetzung bedeutet eben nicht nur mehr Austausch, mehr Wahlmöglichkeiten und mehr Wohlstand. Sie bedeutet auch, dass politische Krisen kaum mehr regional und zeitlich eingegrenzt sind, sondern immer stärker aufeinander wirken, ineinander übergehen, sich wechselseitig sogar verstärken. Das Navigieren dieser Krisen – von Brexit über Kaschmir bis Venezuela – ist schon für sich genommen eine enorme Herausforderung. Aber wieviel schwieriger ist es, gleichzeitig einen klaren Blick auf das zu behalten, was nicht nur im Augenblick drängend ist, sondern langfristig wichtig? Damit meine ich nicht nur, in das dauerhaft gute Verhältnis zwischen Staaten zu investieren, wie das gerade etwa mit dem Aachener Vertrag zwischen Deutschland und Frankreich gelungen ist, sondern auch, Innovationen für übermorgen zu fördern, die Chancen der Digitalisierung zu nutzen, aber zugleich ihre Risiken klug zu regulieren.

Diese Komplexität ist dabei nicht allein eine Herausforderung für den Verstand, sondern auch für unsere Fähigkeit zur Empathie. Die Erwartungen der Menschen sind mit dem direkten Blick in andere Welten enorm gestiegen – sowohl bei uns wie in weit entfernten Ländern. Unsere Fähigkeit, uns in andere Wirklichkeiten und Wahrnehmungen einzufühlen, kann damit kaum Schritt halten. Wir werden oft genug auch emotional überfordert. Diese Überforderung produziert Gegenreaktionen: Angst vor Identitätsverlust, Rückzug in vermeintlich vertraute Bezugsräume, Rückbesinnung auf Nation, Ethnie, Religion oder Region. Ein Gefühl von Heimat und Zugehörigkeit ist für den Menschen lebenswichtig. Das ist kein Nebenbei-Bedürfnis. In der Entgrenzung der globalisierten Welt gewinnt es ja spürbar an Bedeutung. Aber wenn es sich zurückzieht in Abgrenzung, in Ausgrenzung, in Ablehnung des Fremden, erst recht in Angst vor der Zukunft, und sich verengt zum Bild einer nur imaginierten, vermeintlich großartigen Vergangenheit, dann wird es gefährlich. Mit dem Verlust der Offenheit verliert eine Gesellschaft auch den Blick für die Wirklichkeit und womöglich die Fähigkeit zum friedlichen Ausgleich. Sie verliert jene Zuversicht für die Zukunft, aus der die Fähigkeit und der Wille zur Gestaltung erst entspringen.

Zweite Ursache: Ohne Zweifel gehört unser Land, Deutschland, zu den Gewinnern der Globalisierung. Das steht außer Frage. Wir verdanken unseren Wohlstand und unsere Sicherheit unserer weltweiten Vernetzung und unseren Partnern und Verbündeten. Aber das darf im Angesicht vielfach wachsender Ungleichheit und verbreiteter Sorgen um den Verlust kultureller Heimat und Identität kein abstraktes Argument bleiben. Was in der Summe gelten mag, hat im Einzelnen viele, zu viele Verlierer zurückgelassen. Auch darin steckt eine der Ursachen für die gesellschaftliche Polarisierung, die wir bei uns, aber auch in vielen anderen Gesellschaften beobachten. Wir müssen die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technologischen Umbrüche besser in humane Bahnen lenken, ihre Verwerfungen abfedern. Es bleibt die politische Herausforderung unserer Zeit, die Globalisierung menschenwürdig zu gestalten. Und diese Herausforderung ist diesseits des Atlantik nicht geringer als jenseits des Atlantik.

Neben der kognitiven und der politischen Herausforderung unserer immer komplexeren Welt gibt es aber auch eine kommunikative Herausforderung, deren Wandel ich in den Jahrzehnten meines politischen Wirkens auch persönlich beobachtet und erlebt habe. Wenn wir die Komplexität künftiger Entwicklungen, denen wir uns gegenübersehen, nur noch unter großer Anstrengung intellektuell und politisch verarbeiten können, dann ist es erst recht schwerer geworden, diese Komplexität überzeugend in unseren Gesellschaften zu kommunizieren.

Wie verträgt sich das von nüchternen Zahlen gezeichnete Bild, dass wir heute in der historisch betrachtet besten aller Welten leben, mit dem subjektiven Gefühl einer aus den Fugen geratenen Welt, in der eine Krise die nächste jagt? Wie soll ich die täglichen Schreckensbilder des Nahen Ostens oder in Teilen Afrikas abwägen gegen die unbestreitbaren Fortschritte in Bildung, Gesundheit und Armutsbekämpfung in vielen Ländern der Welt? Was ist das Weltklimaabkommen von Paris wert für die Zukunft unserer Kinder angesichts des vielfach nicht nachhaltigen Ressourcenverbrauchs und der Verheerungen, die ein Ozean von Plastikmüll in unseren Weltmeeren verursacht?

Wie schließlich kann ich die unterschiedlichen Traditionen, Interessen und Wahrnehmungen vieler Gesellschaften – und ihrer Regierungen – in Einklang bringen mit den Maßstäben unserer offenen Gesellschaft, die wir so rasch wie möglich universell verwirklicht sehen wollen?

Gerade Außenpolitik ist in unserer offenen Gesellschaft elementar darauf angewiesen, dass es in der eigenen Öffentlichkeit ein Verständnis gibt für die Notwendigkeit, für die Chancen, aber auch für die Grenzen der Diplomatie. Dafür, dass es eben nicht auf das Alles-oder-nichts ankommt, sondern auf den Ausgleich widerstreitender Interessen. Dafür, dass differenzierende Sichten und Kompromisse nicht notwendig die Preisgabe der eigenen Maßstäbe bedeuten müssen, sondern eher die Einsicht in die Unmöglichkeit, diese jetzt, überall und sofort durchzusetzen. Dafür, dass nicht jede Krise gleichbedeutend ist mit dem Scheitern der eigenen Politik. Die Herausforderung, die Komplexität unserer Welt nicht nur zu durchdringen und politisch zu gestalten, sondern ihre Widersprüche und Ambivalenzen auch erfolgreich zu vermitteln, ist heute wohl größer denn je. Die Welt ist nicht bloß Wille und Vorstellung, auch nicht nur schwarz oder weiß. Ein realistisches Bild der Wirklichkeit muss auch anerkennen, dass es Konflikte geben kann innerhalb der eigenen Politik; zwischen den politischen Schwerpunkten und Zielen, die wir verfolgen: Frieden, Menschenrechte, Sicherheit, wirtschaftlicher Erfolg, Bündnissolidarität oder Abrüstung. Wenn wir vernünftige Lösungen nicht nur aushandeln, sondern auch auf breiten gesellschaftlichen Rückhalt stützen wollen, muss es uns gelingen, diese Zielkonflikte und die daraus folgenden Abwägungen überzeugend zu kommunizieren.

Dies führt mich zur vierten Herausforderung: der rasanten Veränderung unserer Kommunikation und unseres Informationsverhaltens. Das Internet verschafft uns Zugang zu einer nie gekannten Fülle von Informationen aus den unterschiedlichsten Quellen. Aber mehr als das, es ermöglicht hunderten von Millionen Menschen den direkten Zugang zu Informationen, die bis dahin für sie unerreichbar waren. Darin steckt ein großer Fortschritt. Gleichzeitig hat Henry Kissinger in seinem Werk Weltordnung präzise unterschieden, dass diese Flut an Information nicht zu einfach mit Wissen verwechselt werden darf, und schon gar nicht mit Weisheit. Wissen braucht nachprüfbare Fakten und gesicherte Zusammenhänge. Weisheit braucht Erfahrung und Urteilskraft. Insbesondere in der Ausprägung vieler sozialer Medien liefert uns die Informationsmaschine Internet aber genau das Gegenteil. Ein Dauerregen von Informationen wäscht entscheidende Standards der Objektivität aus. Jedenfalls scheint es derzeit so.

Das Entscheidende an einer Debatte ist nicht immer der persönliche Bezug zu einem Thema. Die persönliche Erfahrung eines Einzelnen ist ein Argument, aber noch nicht die ganze Wahrheit. Wenn man das verwechselt, glaubt man auch, dass eine Zeitung lügt, wenn sie berichtet, was sich nicht mit den persönlichen Erfahrungen deckt. Anlass für tägliche Entgleisungen in den sozialen Medien ist es oft genug. Häme, Hass und Härte vieler Online-Kommentare gehen an unserer Gesellschaft nicht spurlos vorüber, auch wenn sie nur einen kleinen Teil der Internetkommunikation ausmachen und nur von einer Minderheit verbreitet werden. Sie tragen bei zu einer Radikalisierung zunächst nur im Reden, doch durch Dauergewöhnung auch im Denken, zu einer Radikalisierung in unseren Demokratien.

Hinzu kommt das Phänomen einer durch technische Hilfsmittel oder auch von außen manipulierten Debatte. Sogenannte Trolle, die im Auftrag ausländischer Regierungen Desinformation verbreiten, oder automatisierte Social Bots, die die öffentliche Meinung beeinflussen, bewirken das genaue Gegenteil jener Offenheit, die sich die Pioniere des World Wide Web erhofften und die das Medium ja gerade zu einem aufklärerischen machen sollte. Sie stören absichtsvoll den offenen demokratischen Diskurs, der mithilfe des eigenen Verstandes, mit dem scharfen Instrument der Vernunft nach den besten Lösungen sucht. Diesen demokratischen Diskurs, das ehrliche Ringen um Lösungen dürfen wir uns niemals wieder nehmen lassen!

Die digitale Revolution schafft unendliche neue Möglichkeiten und Chancen. Sie wird neue Formen der Arbeit und des Wirtschaftens hervorbringen. Um den enormen Gewinn an Informationsoffenheit zu bewahren, müssen wir die Qualität und Integrität der öffentlichen Debatte wiederherstellen. Denn die bloße Abbildung und Verstärkung von Stimmungen – ob aus individueller Neigung oder aus manipulativen politischen Interessen – ist eine wirkliche Gefahr unseres digitalen Zeitalters. Der Preis dafür ist hoch, zu hoch. Die Zersetzung der Vernunft ist der Anfang der Zersetzung der Demokratie. Dafür liefert die Geschichte des 20. Jahrhunderts, insbesondere unsere eigene, reichlich Belege. Wir haben daraus gelernt. Doch was wir gelernt haben, dürfen wir uns nicht kaputtmachen lassen – nicht durch Trolle und nicht durch Twitter-Meldungen im Minutentakt.

Die digitale Revolution verspricht noch immer einen historischen Fortschritt der globalen Zivilisation, in der Entfaltung menschlicher Kreativität und der Lösung von sozialen wie ökologischen Problemen. Die Kraft der Vernunft, die Überzeugung, dass man für eine gerechtere, friedlichere, bessere Welt versuchen muss, den Möglichkeitsraum der Politik immer neu zu vermessen und nicht nur den Augenblick zu inszenieren, ist ja gerade das, was uns über den Atlantik so lange verbunden hat und hoffentlich weiter verbinden wird. Deshalb ist ein Ort wie die American Academy in Berlin so wichtig – nicht nur heute, sondern auch und gerade mit Blick auf unsere gemeinsame Zukunft. Deutschland braucht die transatlantische Partnerschaft! Deutschland will diese Partnerschaft! Eine Partnerschaft mit engem Austausch und gewiss auch leidenschaftlicher Auseinandersetzung, vor allem aber gegründet auf gegenseitiges Vertrauen.

Die Dimensionen dieser vier Herausforderungen – im Weltmaßstab, in unseren eigenen Gesellschaften und für jeden einzelnen von uns – verstärken das Gefühl, dass unsere Gegenwart brüchig geworden ist, um es mit einem Wort von Hans Ulrich Gumbrecht zu sagen. Der Zukunftsoptimismus und die Konvergenzerwartung aus der Zeit des Mauerfalls sind verflogen. Der Vorrang des eigenen nationalen Interesses rückt wieder in den Vordergrund. Vielfach macht sich eine neue Faszination des Autoritären breit. Dieser Versuchung müssen wir uns – im Wissen um die Einsichten und um das große Erbe eines Fritz Stern – mit aller Entschiedenheit entgegenstellen.

Das Nachdenken darüber führt uns mit Fritz Stern zur Frage nach der Zukunft der Vernunft im digitalen Zeitalter. In der Antwort auf diese Frage, davon bin ich überzeugt, steckt auch die Antwort auf die Frage nach der Zukunft der Demokratie – und der Demokratie der Zukunft. Hüten wir uns davor, unsere Regierungsform allzu statisch zu sehen. Es reicht nicht, nur defensiv den Status quo zu beschreiben. Alles um uns herum verändert sich. Auch politische Systeme. Wenn wir sie erhalten wollen, müssen wir die Demokratie auch im Futur denken.

Umgekehrt gilt: Wenn uns heute der Nationalismus als Zukunftsmodell angepriesen wird, dann kann unsere Vernunft wissen, was das bedeutet. Wir können wissen, welche Dynamik ausgelöst wird, wenn jedes Land nur sich selbst für wichtig hält, wenn nationale Interessen ohne Rücksicht und auf Kosten anderer verfolgt werden, kurzfristig und eng.

Es ist wahr: Politik wird nicht allein von Vernunft bestimmt, sondern auch von Emotionen, von Leidenschaften, von Auseinandersetzungen um Ideen und vom Kampf um Mehrheiten. Fritz Stern wusste um die Fragilität des Friedens und darum, dass die Vernunft beileibe nicht die einzige Triebkraft des Menschen ist. Der legitime, ja notwendige politische und emotionale Streit aber darf die Vernunft als Maßstab nicht aufgeben. Er braucht die Bereitschaft, zu zweifeln, zu überprüfen und infrage zu stellen. An Themen für diese Auseinandersetzung mangelt es nicht. Wie soll ein geeintes Europa verfasst sein? Welche Zukunftsentwürfe für unseren Kontinent stehen bei den Europawahlen Ende Mai zur Wahl? Können wir das Zukunftsversprechen Europas für Frieden, Sicherheit und Wohlstand auch für die junge Generation erneuern? Welchen Entwurf können wir anbieten für eine digitale Zukunft, in die wir mit Zuversicht blicken können – damit sich die Menschen nicht zurückwenden in eine nur vorgestellte Vergangenheit? Wie kann Teilhabe und Repräsentation ausgestaltet werden in der Demokratie des digitalen Zeitalters?

Ich erinnere mich an die Mahnung des weisen, alten George Shultz bei einer Diskussion mit mir und amerikanischen Wissenschaftlern in Stanford im vergangenen Jahr, der nach all den enthusiastisch von jungen Forschern präsentierten Zukunftsentwürfen ganz am Ende der Diskussion schlicht daran erinnerte, dass all die neuen Technologien auch daraufhin zu prüfen seien, wie sie einer Gesellschaft das politische Zusammenleben und Demokratie noch ermöglichen. Ein Satz, leise gesprochen – mit der Autorität von Alter und politischer Erfahrung, der völlig quer lag zum sonstigen Diskussionsverlauf. Vielen dort war die deliberative Demokratie, wie wir sie kennen, zu langsam und zu schwerfällig, eine Art Galapagosschildkröte. Trotzdem bleibt richtig: Wir dürfen nicht die Geduld verlieren mit der Demokratie. Sie ist eine langsame, bedächtige, aber eben auch eine nachhaltige Staatsform, vielleicht die einzige, die Freiheit ermöglicht und Freiheit schützt.

Wir müssen im Angesicht wachsender Komplexität bewusst in unsere Urteilskraft und Unterscheidungsfähigkeit investieren. Jeder einzelne von uns und die Gesellschaft als ganze! Die überragende Bedeutung der Bildung für das Gedeihen der Demokratie war die vielleicht wichtigste Erkenntnis Alexis de Tocquevilles in seinen Studien über die Demokratie in Amerika vor bald 200 Jahren. Bildung braucht Angebote, braucht Chancen, sie braucht aber auch die Anstrengungsbereitschaft des Einzelnen. Es ist gerade eine der Versuchungen der modernen Welt, fehlenden Sachverstand durch Radikalität des Urteils zu ersetzen. Aber politisches Urteil und geistige Anstrengung gehören in unserer komplizierten Welt notwendig zusammen. Sonst drohen wir in die Irre zu gehen. Der geschärfte Verstand ist die beste Versicherung gegen Manipulation und Manipulierbarkeit.

Zu den Institutionen, die für die Fruchtbarkeit unserer gesellschaftlichen Debatten und für die Qualität unserer Urteilskraft eine entscheidende Rolle spielen, gehören auch die Medien. Die Medienlandschaft steht in einem dramatischen Umbruch. Aber ein unabhängiger professioneller Journalismus hat eine große Verantwortung für die Kraft der Vernunft in unserer Gesellschaft. Damit meine ich nicht jene Medien, die Nachrichten selbst fabrizieren und inszenieren, sondern einen Journalismus, der die politische Urteilskraft unserer Gesellschaften durch Objektivität, Kontextualisierung und Weitblick stärkt.

Die Verachtung der Vernunft, vor der Fritz Stern Angst hatte und die wir heute in vielen Teilen der Welt und auch bei uns zuhause beobachten, ist ein Warnsignal. Jenes völkische Denken, das unser historisches Gedächtnis noch erinnert, brüstete sich mit dem Ende des Geredes, in meiner Sprache: mit der Aufkündigung des Dialogs. Kritiker wurden nur noch als Repräsentanten eines feindlichen Systems wahrgenommen. Dann gibt es nur noch die eigene Wahrheit und die Lügen der anderen. Fritz Stern hat hellsichtig wie kein Zweiter den verhängnisvollen Zusammenhang herausgearbeitet zwischen der Geringschätzung der Vernunft, ja einer bewussten, von vielen geradezu gefeierten Irrationalität, und dem Zusammenbruch der deutschen Demokratie in den 1930er Jahren. Daran fühlt man sich heute gelegentlich erinnert, wenn man den Propheten des kurzsichtigen, aber enthusiastisch gefeierten Kampfes gegen das sogenannte Establishment lauscht. Nur wer vom katastrophalen Scheitern der autoritären Irrwege der Vergangenheit nichts mehr weiß, hält sie womöglich wieder für die Zukunft.

Der Glaube an eine bessere Welt kann Berge versetzen, aber nur die Vernunft vermag uns vor gefährlichen Um- und Irrwegen zu bewahren. Wir brauchen keinen Kulturpessimismus, sondern Neugier und Kreativität! Wir brauchen Zuversicht und Mut und einen genauen, prüfenden Blick, der um die Kraft der Vernunft weiß, um in der Überfülle unserer Welt den Weg in eine demokratische Zukunft immer wieder neu zu gestalten. Ich bin aus vielen Gesprächen und Begegnungen zuversichtlich, dass wir – und die kommende Generation – gute Antworten auf die Fragen finden werden. Dass wir deshalb auch mit Zuversicht in diese offene Zukunft gehen können.

Um es zum Abschluss noch einmal mit den Worten Fritz Sterns zu sagen: Der Glaube an die Vernunft und an die Möglichkeiten menschlichen Fortschritts […] scheint heute ungültig geworden zu sein, und doch muss die Vertiefung unserer historischen Erfahrung nicht dazu führen, dass man diesen Glauben aufgibt. Vielmehr kann sie ein stärkeres Gefühl für das Gefährdetsein der menschlichen Freiheit und eine noch größere Hingabe an sie zur Folge haben. So schrieb er vor über 60 Jahren in seiner Einleitung zum Buch Varieties of History in Erinnerung an die Katastrophen des 20. Jahrhunderts.

Warum also sollten wir heute verzagen?

Vielen Dank.