Ansprache zum 90. Gründungsjubiläum der Freunde der Nationalgalerie

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 18. März 2019

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 18. März zum 90. Gründungsjubiläum der Freunde der Nationalgalerie in Berlin eine Ansprache gehalten: "Die freiheitliche Demokratie insgesamt lebt vom Engagement ihrer Bürger. Und dieses Engagement umfasst ehrenamtliche Arbeit ebenso wie ein gemeinsames Mäzenatentum, das sich in den Dienst einer öffentlichen Einrichtung stellt, wie es die Freunde der Nationalgalerie tun."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei der Mitgliederversammlung zum 90. Gründungsjubiläum der Freunde der Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof

Ich danke Ihnen für die freundliche Einladung hierher, in dieses ganz besondere Museum, zu diesem ganz besonderen Abend: zur Mitgliederversammlung der Freunde der Nationalgalerie. Ich freue mich auf Begegnungen und Gespräche später an den Tischen.

Das Wort Freunde hat viel zu dieser Vorfreude beigetragen. Es nimmt einem kunstinteressierten Laien wie mir die Scheu; man fühlt sich freundlich aufgenommen. So, wie man es auch in den Häusern und Räumen der Nationalgalerie erfahren kann. Museen sind offene Häuser. Hierher sind alle eingeladen. Man geht hin, um alte Freunde aufzusuchen oder um neue zu gewinnen. Und wenn ich heute Abend in Ihre Runde schaue, dann darf man ein wenig mit der Frage spielen, wer könnte wohl mit Caspar David Friedrich und wer mit Lovis Corinth befreundet sein? Wer mit Hannah Höch, Max Liebermann oder Oskar Kokoschka?

Sie alle werden unterschiedliche Vorlieben haben – auch Abneigungen und Leidenschaften. Und doch ist Ihnen allen eines gemeinsam: dass Sie für dieselbe Sache brennen, für die bildende Kunst; denn das muss man, wenn man hier mittun will.

Freundschaft heißt ja, dass man etwas teilen will, und das gelingt Ihrem Kreis auf eine ebenso großzügige wie gewinnbringende Weise. Kunstvereine und Freundeskreise von Museen leisten Unschätzbares für die bildende Kunst in Deutschland. Doch auch in diesem Kreis von Kunstfreunden sind die Freunde der Nationalgalerie etwas Besonderes. Sie haben mit viel Geld, viel Arbeit und viel Kennerschaft dafür gesorgt, dass die Nationalgalerie heute wieder das ist, was sie schon einmal war: ein international bedeutendes Museum. Sie haben angeknüpft an eine Tradition, die Ludwig Justi und der erste Freundeskreis begründeten, und sie für die Gegenwart adaptiert – auch indem sie Justis Überzeugung folgten, dass Kunst, wenn sie uns etwas sagen soll, nie nur national sein kann.

Davon hatten nicht nur die Kunstfreunde etwas. Viele sind durch Ihren Einsatz und Ihr Engagement erst zu Kunstfreunden geworden.

Dafür dürfen wir Ihnen dankbar sein – für den kreativen wie für den unternehmerischen Erfolg des Vereins. In 42 Jahren 306 Erwerbungen und 115 Ausstellungen mit über zehn Millionen Besuchern! Darunter die Schönsten Franzosen und Goya, zweimal Gerhard Richter und natürlich: MoMA in Berlin. Gibt es Berliner, die nicht in der Schlange um die Neue Nationalgalerie standen? Allein die Ausstellungen erwirtschafteten einen Überschuss in zweistelliger Millionenhöhe – und der floss zu einhundert Prozent zurück an die Nationalgalerie.

Meine Sympathie aber gilt nicht nur Ihrer Sache, der Kunst, sie gilt auch der Institution, der demokratischen Verfassung dieses Freundeskreises. Sie wollen etwas ermöglichen, tun sich zusammen, bündeln Kräfte und Talente für die eine gemeinsame Sache: Kunst zu zeigen, sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen – das ist es, was zählt.

Was gezeigt wird, ob klassische oder zeitgenössische Kunst, ob erfolgreich etablierte oder noch unbekannte junge Künstler, das bleibt den künstlerisch Verantwortlichen überlassen. Dieses Grundgesetz des Vereins setzt jeder Einflussnahme enge Grenzen. Niemand will, niemand kann sich durch sein Mittun profilieren. Alle sind gleich, sofern sie den – zugegeben, nicht geringen – Jahresbeitrag aufbringen wollen.

Sie sind gute und sehr großzügige Freunde – nicht nur der Kunst! Ihr Engagement macht Sie auch zu Freunden der Stadt und des Landes, in dem Sie leben.

Und wenn ich Ihnen heute dafür danke, dann will ich das mit der Bitte an alle Kunstinteressierten, Kunstbegeisterten oder -besessenen im Land verbinden, die diese großartige Institution unterstützen können und wollen: Schließen Sie sich den Freunden der Nationalgalerie an! Die Projekte, Ausstellungen und Initiativen des Freundeskreises verdienen es.

Wenn ich Sie aber nun aus vollem Herzen preise, Ihr Engagement lobe und zu seiner Unterstützung aufrufe, dann werde ich mir auch die Frage gefallen lassen müssen, warum der Staat, als dessen Vertreter ich hier stehe, Aufgaben und Ausgaben, die er für so sinnvoll erachtet, nicht vollständig selbst leistet. Immerhin gehören die sechs Häuser der Nationalgalerie zu den Staatlichen Museen Berlins und werden von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, dem Bund und den Bundesländern gemeinsam getragen.

Ludwig Justi, der 1929 den Vorgängerverein der Freunde der Nationalgalerie gründete, gibt darauf eine – wie ich finde – bis heute gültige Antwort. Der Nationalgalerie wird mit den Mitteln eines kollektiven Mäzenatentums ein größtmögliches Maß an kreativer Freiheit erkauft. Justi wollte Kunstwerke erwerben, für die ihm staatliche Mittel zu verwenden nicht geraten schien, also ausländische oder besonders teure.

Eben das wollte auch Dieter Honisch, der frühere Direktor der Nationalgalerie und Mitbegründer des heutigen Freundeskreises. Er rief seine kunstinteressierten Freunde zusammen, um Kunstwerke erwerben zu können, auch gegen den Zeitgeist, auch mit einem höheren Risiko verbunden, als es staatlicherseits vertretbar schien. Auch das Beuteschema Justis behielten die Freunde bei: ihre Opfer sollten nach Möglichkeit über Kunstverstand verfügen und nicht mittellos sein. Ludwig Justi ist das ebenso gelungen wie dem Kreis um Dieter Honisch und Peter Raue.

Die Freiheit, die die Nationalgalerie auf diese Weise hinzugewann, ist eine im ursprünglichen und besten Sinn des Wortes bürgerliche Freiheit. Denn auch darum ging es den sieben Männern, die den Freundeskreis 1977 wiederbelebten. Sie wollten die Lücken schließen, die Nationalsozialismus und Krieg in den Bestand der Nationalgalerie gerissen hatten, und ein neues bürgerschaftliches Engagement für die Kunst in Berlin und darüber hinaus begründen.

Nicht nur die Kunst braucht ein solches bürgerschaftliches Engagement. Nicht nur die Museen in Berlin oder anderswo können mit dieser Hilfe freier und unabhängiger agieren. Die freiheitliche Demokratie insgesamt lebt vom Engagement ihrer Bürger. Und dieses Engagement umfasst ehrenamtliche Arbeit ebenso wie ein gemeinsames Mäzenatentum, das sich in den Dienst einer öffentlichen Einrichtung stellt, wie es die Freunde der Nationalgalerie tun.

Wie die Kunst ist die Demokratie angewiesen auf das Interesse und die praktische Mitarbeit ihrer Bürger, nicht nur einmal alle paar Jahre in der Abgeschiedenheit einer Wahlkabine, sondern hier, mitten unter uns, wenn Demokratie als eine Gesellschaft von tätigen Bürgern gelebt wird.

Das Museum, wie es sich Hugo von Tschudi, Ludwig Justi und Dieter Honisch vorstellten, kann nur durch ein solches bürgerschaftliches Engagement existieren. Ankäufe zeitgenössischer, noch nicht klassisch gewordener Kunst bedeuten immer auch eine Stellungnahme zum geistigen Leben der Gegenwart, so hat es Ludwig Justi gesagt. Das ist Ihr Beitrag, liebe Gastgeber und Freunde der Nationalgalerie, und es ist kein marginaler Beitrag, denn ohne ihn wäre das geistige Leben unseres Landes im buchstäblichen Sinn ärmer! Dass wir sehen können, erleben und erkennen können, was die Kunst über uns und unsere Zeit zu sagen hat – das ermöglichen Sie. Und dafür danke ich Ihnen.