Eröffnung des Fontanejahres "fontane.200"

Schwerpunktthema: Rede

Neuruppin, , 30. März 2019

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 30. März das Fontanejahr "fontane.200" mit einer Ansprache in der Kulturkirche Neuruppin eröffnet: "Wenn wir heute die Bücher Theodor Fontanes lesen, dann hören wir auch die Aufforderung, es nicht noch einmal zu einem Untergang Europas kommen zu lassen. Indem wir nämlich miteinander reden – über die Grenzen hinweg, wie er es selbst, der Jahre seines Lebens in Großbritannien verbracht hat, praktiziert hat."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache zur Eröffnung des Fontanejahres 2019 bei einem Festakt in der Kulturkirche Neuruppin

Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker. Sie alle kennen diesen Warnhinweis – keine Arzneimittelwerbung ohne ihn! Der menschliche Kontakt, das beratende Gespräch ist wichtiger als jeder Beipackzettel, sogar unersetzlich

Theodor Fontane war gelernter Apotheker und hat diesen Beruf auch ausgeübt. So kannte er sich aus mit Heilmitteln und Medizin und mit menschlichen Krankheiten. Er wird gewusst haben, dass jeder Mensch auf seine eigene, individuelle Weise krank sein kann, und er wird auch gewusst haben, dass es für jeden einzelnen einer speziellen Zuwendung bedarf, dass es kein Allheilmittel gibt, das für alles und für alle eingesetzt werden kann.

Und er wird auch erfahren haben, dass zum Erkennen eines individuellen Leidens und der möglichen individuellen Heilung nichts so unersetzlich ist wie das Gespräch.

Beide Erfahrungen bestimmen auch das Werk des Schriftstellers Theodor Fontane: die unverwechselbare Individualität und die Kunst des Gesprächs. Glück und Leiden des Einzelnen, Scheitern und Gelingen des individuellen Lebens sind bei ihm zentral – erkennbar nicht zuletzt in der Beschreibung der großen Frauengestalten Jenny Treibel, Effie Briest, Mathilde Möhring, Grete Minde –, und wie kaum ein anderer ist er ein Meister darin, das Gespräch darzustellen, das die Individuen miteinander verbindet. Das Gespräch, das sie einerseits miteinander in Kontakt bringt, das sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede, Übereinstimmungen und Konflikte zum Ausdruck bringen lässt, durch das sie aber auch oft erkennen, wer sie selber sind, welchen eigenen Lebensweg sie zu gehen haben. Manche jenseits von gesellschaftlichen Pflichten und Erwartungen.

Den zweihundertsten Geburtstag dieses Menschenkenners feiern wir in diesem Jahr, den zweihundertsten Geburtstag dieses, heute würde man sagen: Großschriftstellers. Seine Romane und Gedichte werden bis heute gelesen – und ich füge hinzu: freiwillig, nicht nur als verpflichtende Schullektüre. Den zweihundertsten Geburtstag dieses großen Journalisten – und bis zu seiner Todesstunde übrigens leidenschaftlichen Zeitungsverschlingers – und den zweihundersten Geburtstag dieses einzigartigen Autors aus dem Brandenburgischen, der dieser Region nicht nur ein Denkmal gesetzt, sondern der sie in gewisser Weise wandernd und schreibend erfunden hat. Denn er hat uns gelehrt, ihre verborgenen Schönheiten, ihren Glanz und ihre Melancholie, ihre Geschichte und ihre Wirkung auf das menschliche Gemüt zu sehen und zu begreifen.

Zweihundert Jahre: ist das nicht längst abgelegte Vergangenheit, die uns kaum noch etwas angeht? Eine kleine Rechnung, von der ich sicher bin, dass sie auch Fontane gefallen hätte, der oft in Generationenfolgen dachte, zeigt uns etwas anderes: Der erste Bundespräsident, Theodor Heuss, hat noch vierzehn Lebensjahre mit Theodor Fontane geteilt – und der Bundespräsident, der heute mit Ihnen das Fontane-Jahr eröffnet, noch fast acht Jahre mit Theodor Heuss.

Solche Überschneidungen von Lebenszeiten können uns vor Augen halten, dass unser oft von der jeweiligen Aktualität geprägtes Bewusstsein den Blick nur ein wenig weiten muss, um zu begreifen, wie nah uns geschichtliche Ereignisse und Personen sind. Denn es ist alles nicht lang her, heißt einer der zentralen Sätze im Tyll, dem neuen historischen Roman von Daniel Kehlmann, den ich Ihnen sehr ans Herz lege.

Aber gerade weil es nicht lang her ist, gerade weil die Welt, in der Fontane lebte und von der er uns erzählt, nur einen historischen Lidschlag von uns entfernt ist, gerade deswegen sind wir immer wieder erstaunt, wie anders diese Welt war.

Eine Welt, in der man sich noch zum Duell forderte, in der man zu Pferde manchmal noch schneller war als Telegramme, in der feste, seit unvordenklichen Zeiten geprägte Rollen vorgesehen waren für Oberförster, Kutscher, Fräuleins, Landadelige, Offiziere, Pförtner, Lehrer oder Pfarrer, und in denen eine Frau ohne jede Zweideutigkeit Domina hieß – wenn sie denn einem Damenstift vorstand. Wer es nicht glaubt, lese es nach im Stechlin.

Und doch gibt es in dieser Welt Phänomene, die uns so aktuell erscheinen können, als seien sie von heute. Das neunzehnte Jahrhundert war in Europa über weite Strecken eine von den langen Schrecken der vorherigen Kriege befreite Zeit. Zwischen 1815 und 1914 lag die Sterbeziffer für im Krieg gefallene Männer siebenmal niedriger als im Jahrhundert zuvor. Der Historiker Richard Evans gibt in seinem neuesten Buch über das neunzehnte Jahrhundert dafür einen entscheidenden Grund an: den Willen zum Dialog. Er schreibt: Die führenden Vertreter europäischer Staaten […] machten es sich zur Gewohnheit, häufig zusammenzukommen und ihre Differenzen auszudiskutieren. Das Gespräch als friedenserhaltende Maßnahme.

Dieselbe Erkenntnis gilt leider auch in ihrer Umkehrung: Mit dem Versagen des Gesprächs, mit dem Zusammenbruch der Diplomatie in der Julikrise von 1914 beginnt für Europa die tödlichste Zeit seiner Geschichte, die Katastrophe zweier Weltkriege. Von dieser Erfahrung erschüttert und geprägt, beschreibt der Philosoph Karl Jaspers schon am 4. November 1945 die wichtigste Maxime für einen Neubeginn wie folgt: Wir müssen lernen, miteinander zu reden. Das dogmatische Behaupten, das Anbrüllen, das trotzige Empörtsein, die Ehre, die bei jeder Gelegenheit gekränkt die Unterhaltung abbricht, all das darf es nicht mehr geben.

Karl Jaspers ist im vergangenen Monat vor genau einem halben Jahrhundert verstorben, seine Zeilen aber klingen geradezu unheimlich aktuell. Was er beklagt, darunter leiden auch wir heute. Und was er fordert, das gibt es in den Romanen Theodor Fontanes – und zwar überall dort in seinem Werk, wo das Gespräch die Hauptrolle spielt. Ganz besonders deutlich wird das in seinem letzten Roman Der Stechlin, seinem Vermächtnis, wie man wohl sagen kann.

Vom alten Stechlin, der Hauptperson, heißt es dort: Er ließ sich gern was vorplaudern und plauderte selber gern. Plaudern – das halten wir heute gern für eine harmlose, nebensächliche Angelegenheit. Im Stechlinschen Sinne aber – und im Fontaneschen erst recht – ist es eine zutiefst ernste menschliche Beschäftigung. Warum?

Vom gleichen Stechlin heißt es, dass sein schönster Zug eine tiefe, so recht aus dem Herzen kommende Humanität war. Und diese Humanität besteht nicht nur darin, dass er, wie es heißt, seinem ganzen Wesen nach hinter alles ein Fragezeichen machte, sondern auch gerne freie Meinung hörte, gerade auch, wenn es nicht seine Meinung war! Und seine tiefe Überzeugung war: Unanfechtbare Wahrheiten gibt es überhaupt nicht, und wenn es welche gibt, so sind sie langweilig.

Im Roman Der Stechlin passiert fast nichts. Fontane selber fasst seinen Inhalt bekanntlich so zusammen: Zum Schluss stirbt ein Alter, und zwei Junge heiraten sich, das ist so ziemlich alles, was auf fünfhundert Seiten geschieht.

Aber es geschieht eben viel mehr, und es geschieht etwas Wunderbares. Es geschieht das Wunder des Gesprächs, der Plauderei, der Causerie, des Austauschs von Weltsichten: von Einsichten und Aussichten, von Erinnerungen und Hoffnungen. Diese Plaudereien sind oft von urbanem Witz und Ironie, oft aber auch von Ernst und Leidenschaft und festen Überzeugungen geprägt, aber nie von Unbelehrbarkeit oder gar von einem betonschädeligen Besserwissen. Wer würde in unseren Tagen ein solches ziviles, friedliches, leicht schwebendes Gespräch zwischen durchaus unterschiedlichen, ernsthaft-heiteren Menschen nicht tatsächlich fast für ein Wunder halten?

Ja, zugegeben, es war noch eine Standesgesellschaft, und ja, es gab noch starke Rollengrenzen zwischen Männern und Frauen. Aber hier, im Stechlin, da reden sie alle miteinander, die Kutscher mit den Grafen, die Offiziere mit den Stiftsdamen, die Lehrer mit den Oberförstern, die Pförtner mit den Adligen, die Männer mit den Frauen, und was ganz besonders wichtig ist: die Generationen untereinander.

So kommt jeder im Gespräch aus seiner eigenen, beschränkten Welt immer ein Stück weit heraus, so wird die eigene Subjektivität immer an der Subjektivität des anderen gebrochen, vielleicht korrigiert. Jeder hat ja nur seine Perspektive, und erst im Austausch mit den anderen entsteht so etwas wie eine objektivere Weltsicht. Das Gespräch ist auf diese Weise für den Einzelnen gesellschaftsdurchdringend und gesellschaftserklärend – für alle zusammen aber gesellschaftsbildend.

Daran sollten wir auch im dreißigsten Jahr der Deutschen Einheit denken. Auch hier gilt: Es ist nie zu früh für ein Gespräch, es ist aber auch nie zu spät. Nichts ist so belastend wie das Ungesagte und das Ungehörte. Also: Wir brauchen das Gespräch zwischen Ost und West mehr und intensiver, als wir das lange gedacht haben.

Übrigens: Nicht jedes Gespräch bringt umstürzende Einsichten. Wie sagt Komtesse Armgard: Es braucht ja, wenn man plaudert, nicht alles absolut neu zu sein. Man darf sich wiederholen. Papa hat auch einzelnes, das er öfter erzählt. Ja, es geht im Gespräch manchmal auch nur darum, sich seines und des Anderen Daseins zu vergewissern.

Natürlich gilt auch dies, in Fontanes Romanen wie in der Gesellschaft: Das Gespräch allein löst natürlich nicht alle Probleme – wir kennen die Geschichte von Effie Briest, um nur dieses eine Beispiel zu nennen. Und doch ist in Fontanes Werk eine tiefe Humanität des Mit-Einander-Sprechens zu besichtigen, die wohl in der Literatur ihresgleichen sucht.

Diese Kultur des Gesprächs schließt dem Einzelnen so viele andere Schicksale und Weltsichten auf und relativiert so – zum Glück! – das eigene Dasein. Ganz in diesem Sinn kann am Ende, in der Ansprache zu seinem Tod, vom alten Stechlin gesagt werden: Nichts Menschliches war ihm fremd, weil er sich selbst als Mensch empfand und sich eigner menschlicher Schwäche jederzeit bewusst war.

Und dann fasst Fontane, beziehungsweise im Roman der Pfarrer, in einem wunderbar kurzen Satz zusammen, was wir alle sein sollten und könnten, wenn wir die richtige Mischung aus klarem Selbstbewusstsein und immer neuer Lernbereitschaft gefunden hätten:

Er war das Beste, was wir sein können, ein Mann und ein Kind.

Theodor Fontanes Romane sind auch eine Antwort auf die Frage, warum wir überhaupt alte Bücher längst verstorbener Autoren lesen sollten. Die geistvolle Unterhaltung, die gelehrte oder heitere Konversation: die können wir im Lesen dieser wunderbaren, unsterblichen Romane jederzeit und immer wieder neu beginnen. Wir sind dann nämlich mit uns selber, mit unserer eigenen Vergangenheit und Herkunft im Gespräch, und wir erfahren, was wir in Anbetracht der alten Zeiten zum Glück überwunden oder zu unserem Unglück verloren haben; und wo wir heute – zu unserem Glück oder Unglück – angekommen sind.

Vor dem Sturm hieß der erste Roman Fontanes, es gibt darin Episoden aus den Napoleonischen Kriegen. Vor dem Sturm hätte auch sein letzter Roman, der so stille, friedliche Stechlin heißen können. Denn nur wenig später, beim Kriegsbeginn 1914, ist die Welt, die Fontane so liebte und die er so eindringlich beschreiben konnte, für immer versunken. Als hätte er es geahnt.

Wenn wir heute die Bücher Theodor Fontanes lesen, dann hören wir auch die Aufforderung, es nicht noch einmal zu einem Untergang Europas kommen zu lassen. Indem wir nämlich miteinander reden – über die Grenzen hinweg, wie er es selbst, der Jahre seines Lebens in Großbritannien verbracht hat, praktiziert hat. Das ist seine Mahnung.

Aber seine Kunst ist natürlich viel mehr als politisch-moralische Mahnung. Fontane war ein Ausnahmeschriftsteller, eine Ausnahmeerscheinung unter den Schriftstellern des neunzehnten Jahrhunderts. Seine Romane spiegeln weniger das alte Preußen als vielmehr den Konflikt zwischen Tradition und Moderne und sind vielleicht gerade deshalb so unverändert aktuell. Und was mir gefällt: Er schreibt ohne Schaum vorm Mund – mit Großzügigkeit gegenüber Fehlern und Vorurteilen von Menschen, die ein anderes Leben als das eigene nie kennengelernt haben.

Der deutsche Literaturkritiker Rolf Vollmann, der vielleicht mehr Romane gelesen hat als alle anderen unter uns Lebenden, schreibt über Fontanes Stechlin und seine hinreißende Lockerheit der Sprache:

Man nimmt das alles in einem großen Sinne zur Erholung, wie man das von Kunst so gar nicht erwartet: man liest ein paar Sätze, und man hat das, was einem alten Analphabeten ein guter Whisky wäre: Abstand, Ruhe, ja so etwas wie Glück.

Vielen Dank.