Soiree zur Kunst und Kultur der Weimarer Republik

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 2. April 2019

Bundespräsident Steinmeier hat am 2. April zu einer Soiree eingeladen, die der Kunst und Kultur der Zeit der Weimarer Republik gewidmet war: "Was da vor einhundert Jahren komponiert, inszeniert und geschrieben wurde, ist nicht einfach alt, ist nicht einfach Geschichte. Es hat uns etwas zu sagen. Die Kultur und Ideen dieser Zeit, ihr Rhythmus sind uns geläufig und auch noch vertraut. Wir sind nicht nur passive Betrachter, wir gehen mit ihnen um."

Soiree zur Kunst und Kultur der Weimarer Republik im Großen Saal von Schloss Bellevue.

Was für eine Zeit, die Jahre der Weimarer Republik! Was für eine explosive, exzessive, expressive Zeit, auf die wir zurückblicken wollen. Der Krieg ist zu Ende, die Monarchie ist untergegangen, die Republik wird geboren. Und noch ist nichts davon Geschichte. Alles ist Gegenwart. Und alles, was geschieht, geschieht gleichzeitig: Straßengewalt und Massenprotest, Elend und Hunger, aber auch Aufbruch, Befreiung, Moderne – ein ganz neues Lebensgefühl.

Wir, die wir zurückblicken, kennen das Ende. Für die Akteure der Weimarer Zeit aber war die Geschichte offen. Sie war Gegenwart. Und vielleicht muss, wer verstehen will, warum die Filme, Theaterstücke, die Literatur, Architektur und Kunst der Weimarer Zeit uns noch heute faszinieren, begreifen, dass es nie zuvor in der deutschen Kulturgeschichte so viel Gegenwart gab wie in den 20er Jahren.

Nie zuvor sind das Theater, die Musik und das Musiktheater so unmittelbar aus der Zeit heraus geboren, in der sie entstanden sind. Und mehr noch der Film, der als Medium noch so jung war, dass Thomas Mann 1928 in seiner Ansicht über den Film geschrieben hat: Ich sprach von einer Lebenserscheinung – denn mit Kunst hat, glaube ich, verzeihen Sie mir, der Film nicht viel zu schaffen.

1928 ist auch die Entstehungszeit des Blauen Engels, nach dem Roman seines Bruders Heinrich. Es ist der Film, den wir eben in einem kleinen Ausschnitt gesehen haben und der heute fast auf den Tag genau vor 89 Jahren uraufgeführt wurde, nicht weit von hier, im alten Gloria Palast am Kurfürstendamm. 1930, das Jahr, in dem er in die Kinos kam, war das Jahr einer Reichstagswahl, aber eben nicht irgendeiner. Es war das Jahr der Reichstagswahl, aus der die Nationalsozialisten als zweitstärkste Partei hervorgingen, der Wahl, die Thomas Mann zu seiner Deutschen Ansprache animierte, dem Appell eines Literaturnobelpreisträgers an die Vernunft seiner Landsleute. Einen Auszug daraus werden wir später noch hören, gelesen von Matthias Brandt. Ich freue mich, lieber Matthias Brandt, dass Sie hier sind! Herzlich willkommen!

Auch wenn ich bereits beim Jahr 1930 gelandet bin: Diesen Abend mit dem Blauen Engel zu beginnen, folgt nicht der Neigung, die Geschichte der Weimarer Republik von ihrem Ende her zu erzählen. Das ist die Perspektive, von der wir uns vielleicht nie ganz lösen werden, mit der wir heute Abend aber absichtsvoll ein wenig brechen wollen.

Meine Damen und Herren, liebe Gäste, ich freue mich über Ihr Interesse, ich freue mich über Ihr Kommen und darauf, mit Ihnen eine Zeit Revue passieren zu lassen, die uns große Kunst und große Fragen hinterlassen hat. Eine Zeit, die der unseren auf eine Weise nah ist, die uns fasziniert, aber auch beunruhigt.

Dass wir uns immer wieder, und zurzeit besonders, mit den Jahren der Weimarer Republik beschäftigen, dass sie als Epoche nichts von ihrer Bedeutung für die Geschichte und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts verloren hat, das hat, denke ich, viel mit ihrer Dynamik zu tun, dem ungeheuren Aufbruch, den diese Zeit bedeutete.

Das, was wir Moderne nennen, hatte schon zuvor, noch im Kaiserreich, Anlauf genommen. In der Malerei, in der Architektur. Aber den Durchbruch erlebte sie erst nach 1918. Überall dort, wo wir auf ihre Zeugnisse stoßen, auf das geistige und kulturelle Erbe der Weimarer Republik, kommt uns, was wir da lesen oder sehen, im Guten wie im Bösen, ganz und gar nicht gestrig vor. Wir schauen dieser Tage auf einhundert Jahre Bauhaus und bemerken: Es war stilbildend. Wir (und nicht nur die Berliner) gehen durch Siedlungen von Bruno Taut und sehen urbane Architektur, die Antworten finden will auf die Enge und die Zumutungen der Hinterhofquartiere, die Licht will, Luft und Freiheit.

Wir hören die Musik der 20er Jahre, sehen Filme – gleich im Anschluss eine Metropolis-Suite mit Frank Strobel und Olav Lervik am Klavier –, wir lesen Bücher, gehen ins Theater, erleben nachher noch einen kleinen Auszug aus der Dreigroschenoper, dem wohl prägendsten Stück jener Zeit, mit Angela Winkler, Christopher Nell und Hans-Jörn Brandenburg. Wir freuen uns, dass Sie da sind! Wir lesen Bücher, wir gehen ins Theater, und wir spüren bei alledem: Was da vor einhundert Jahren komponiert, inszeniert und geschrieben wurde, ist nicht einfach alt, ist nicht einfach Geschichte. Es hat uns etwas zu sagen. Die Kultur und Ideen dieser Zeit, ihr Rhythmus sind uns geläufig und auch noch vertraut.

Wir sind nicht nur passive Betrachter, wir gehen mit ihnen um. Und nicht nur in Zeiten, in denen wir, mit Blick auf den Kalender, 100 Jahre zurückschauen.

Die Dynamik der Roaring Twenties, ihre Rastlosigkeit, Beschleunigung, angetrieben von Automobilen, von der Elektrischen, von neuen Übertragungstechniken, all das ist uns nicht fremd – auch nicht das Wesensmerkmal dieser Epoche: ihre ins Extreme gesteigerte Widersprüchlichkeit, das Mehrdeutige, Schillernde, Ambivalente, Androgyne. Wir sind konfrontiert mit Formen und Ideen, die sich an eine freie, eine demokratische Gesellschaft richten. Zu einem Zeitpunkt aber, als es die noch nicht gab. Die im Ringen zwischen restaurativen Kräften und den Kräften der Veränderung erst im Entstehen begriffen war. Für viele in den zwanziger Jahren war der kulturelle Aufbruch eine Offenbarung, für viele andere aber auch eine Zumutung und für die meisten mindestens eine Herausforderung.

Glotzt nicht so romantisch!

Dieser Satz – er hing, wie viele von Ihnen wissen werden, 1922 in den Münchner Kammerspielen zur Uraufführung von Brechts Trommeln in der Nacht –, dieser Satz war durchaus nicht nett gemeint. Er ist keine freundliche Aufforderung, er ist eine Handlungsanweisung, ein Dekret. Und Brecht konnte seinen Anweisungen Nachdruck verleihen! Das wissen wir spätestens, seit Heinrich Breloer ihm die Stimme von Burghart Klaußner gab. Herzlich willkommen auch Ihnen, lieber Burghart Klaußner!

Glotzt nicht so romantisch – dieser Satz hat sein Potenzial bewahrt, über ein ganzes Jahrhundert hinweg. Er richtet sich an uns, und er verfehlt sein Ziel nicht. Er provoziert noch immer.

Ich will mit dieser unvollständigen Betrachtung sagen: Kunst, die an eine offene, demokratische Gesellschaft adressiert ist, findet idealerweise eine solche Gesellschaft tatsächlich vor. Sie ist fordernd, ironisch, provokant.

Eine gefestigte Demokratie wird die Herausforderungen der Moderne nicht fürchten. Doch die Weimarer Republik war eben das nicht. Was sie kennzeichnete, war Fragmentierung; eine Zersplitterung in unterschiedlichste Milieus – politisch, gesellschaftlich, sozial und kulturell. Die Republik war fragil. Ihre Krisen erzeugten Angst und Eskapismus. Längst nicht alle Künstler, Intellektuellen, Freigeister, die zum kulturellen Reichtum jener Jahre beitrugen, waren zugleich Unterstützer von Republik und Demokratie. Viele von ihnen standen zwar gegen die Restauration, aber deshalb noch lange nicht für die Realität der Republik.

Und schließlich, das zeigt die erwähnte Reichstagswahl vom September 1930: Schutz vor der Zerrissenheit einer modernen Gesellschaft, vor ihrer Offenheit, ihrer anstrengenden Vielfalt und Beliebigkeit, kurz: Schutz vor den Zumutungen der Freiheit versprachen am Ende die mit den einfachen Antworten, die Volksgemeinschaft, die Unterwerfung unter rechte wie linke Ideologien.

Vielleicht rührt auch daher ein Teil der ungebrochenen Faszination jener Zeit und jener Kunst. Sie fordert uns zu der Frage heraus: Wie gefestigt ist eigentlich unsere Demokratie heute? Was provoziert oder spaltet uns? Auch solche Fragen schwingen heute Abend mit im Raum, und wir gehen diesen Fragen in einer anderen Veranstaltungsreihe über die Zukunft der Demokratie hier regelmäßig nach.

Am Anfang wie am Ende des Weimarer Aufbruchs in die Moderne lag ein Abgrund – das Elend des Krieges, der Einbruch von Gewalt, Zerstörung und Vernichtung. Ein unbeschwerter, unkritischer Blick zurück ist schon deshalb nur schwer möglich, weil dieser Blick auch nach dem Verbleib all jener Schriftsteller, Philosophen, Maler, Regisseure, Schauspieler und Musiker dieser Zeit fragen muss, nach den Männern und Frauen, die eben noch bewundert und kurz darauf verachtet und vertrieben wurden, weil sie Juden waren oder politisch unerwünscht. Kein Blick zurück, der nicht auch die Leerstellen wahrnehmen muss, den Verlust. Keine Erinnerung ohne das Eingeständnis, dass etwas fehlt, uns allen fehlt, in der Kunst, in der Musik und in der Literatur, das, was nicht mehr gemalt, nicht mehr komponiert und nicht mehr geschrieben wurde.

Ja, mit der Faszination für dieses kulturell so ungemein produktive Jahrzehnt verbindet sich immer auch ein Unbehagen. Das Unbehagen an dieser Zeit ist ebenso nachhaltig wie die Faszination, die von ihr ausgeht.

Zweimal in seiner Geschichte war Berlin absolut modern, schrieb DIE ZEIT unlängst. So modern, dass die ganze Welt hinsah: in den Zwanzigern – und heute. Und gerade dafür steht Tom Tykwers Fernsehserie Babylon Berlin. Sie wirft eben keinen dokumentarischen, sondern einen emphatischen Blick auf die zwanziger Jahre: Wir fiebern mit im Fieber der Zeit. Die Krise, heißt es in der ZEIT, ist Lebensgefühl. Für die existenziellen Bedrohungen der Weimarer Republik, für Revolution, Bürgerkrieg, Inflation, Massenarbeitslosigkeit, Hunger und politische Gewalt finden sich, glücklicherweise!, keine Entsprechungen im Deutschland der Gegenwart. In der Welt dagegen schon. Und die ist mit der Globalisierung kleiner geworden.

Die Angst vor krisenhaften Veränderungen, die viele heute umtreibt, die Angst vor einem Kontrollverlust – diese "German Angst" gilt nicht zu Unrecht auch als das Erbe dieser Zeit.

Aber muss uns der Rückblick in die Zeit der Weimarer Republik deshalb ängstigen oder beunruhigen? Er muss es keineswegs.

Aus dem Rauschen dieser Zeit ist unendlich viel hervorgegangen: Mitreißendes, Widersprüchliches, Provokatives. Ich selbst wurde erst kürzlich wieder mitgerissen und hingerissen – vom Ball im Savoy des jüdischen Komponisten Paul Abraham nämlich, jenem furiosen Tanz auf dem Vulkan, eindrücklich und unvergesslich zu erleben, lieber Barrie Kosky, an der Komischen Oper in Berlin.

Und so soll es auch heute Abend sein: Zurückzublicken und zurück zu hören, macht uns reicher und, sofern es ein kritischer Rückblick ist, gewiss nicht dümmer. Einen solchen Blick sollten wir uns nicht nur zutrauen, wir dürfen ihn, und das wünsche ich Ihnen, heute Abend sogar genießen.