7. Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie: "Die Europäische Union: Was auf dem Spiel steht"

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 14. Mai 2019

Der Bundespräsident hat am 14. Mai die siebte Veranstaltung in der Reihe Forum Bellevue in Schloss Bellevue eröffnet: "Das europäische Projekt ist bedroht, wenn die Zahl der Skeptiker und Gegner weiter wächst, wenn der Druck von außen zunimmt und Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auch im Innern der Union infrage gestellt werden. Durch das Missverständnis, dass alle Vorteile und Errungenschaften der Europäischen Union auf Dauer garantiert sind."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede beim 7. Forum Bellevue unter dem Titel "Die EU: Was auf dem Spiel steht" im Großen Saal von Schloss Bellevue

Wer danach fragt, was auf dem Spiel steht, macht schon in der Frage deutlich, worum es geht: Es geht um einen hohen Einsatz und um ein bedeutendes Ziel. Es freut mich deshalb besonders, dass so viele heute gekommen sind, zeigt es doch, dass Sie Bedeutung und Dringlichkeit der Frage ebenso einschätzen. Herzlich Willkommen Ihnen allen zu einem Forum Bellevue im Rahmen der Reihe Zukunft der Demokratie, das sich mit Europa befassen will.

Denn tatsächlich geht es bei dieser kommenden Europawahl um viel. Es geht um unseren Wohlstand, um Wirtschaft und Arbeit, um unser Sozialmodell im globalen Wettbewerb, um gemeinsame Antworten auf Klimawandel, Digitalisierung und Migration und nicht zuletzt um unsere Grundrechte, um Freiheit und Gleichberechtigung als Erbe der europäischen Aufklärung. Und schließlich steht die Europäische Union auch für das Modell der liberalen Demokratie, das eng mit der europäischen Geschichte verbunden ist.

Wir erinnern uns: Die Europäer hatten gute Gründe, sich nach zwei verheerenden Kriegen auf dem Kontinent zu einer Gemeinschaft zusammenzufinden, und sie hatten gute Gründe, diesen Zusammenschluss zu erweitern. Mit der Osterweiterung der EU – die tatsächlich eine Wiedervereinigung Europas war – haben wir eine Sternstunde der europäischen Integration erlebt.

Die EU will und wollte immer ein Bündnis zum gegenseitigen Nutzen sein, das seine Mitglieder stärkt. Eine Gemeinschaft von Staaten, die entschlossen sind, zugunsten einer gemeinsamen europäischen Souveränität auf einen Teil ihrer nationalen Souveränität zu verzichten und dafür neue Institutionen zu schaffen. Das war und ist die Gründungsidee der Europäischen Union und ihrer Vorläufer. Und diese Idee hat nichts von ihrer Größe verloren!

Im Geist dieses Moments haben sich 21 Staatsoberhäupter der Europäischen Union zu einem gemeinsamen Aufruf entschlossen, der die meisten von Ihnen – so hoffe ich – in der vergangenen Woche erreicht hat. Es ist ein Appell an die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union, diesen Moment der Einigkeit zu bewahren, sich an der Wahl zu beteiligen und Europa zu stärken. Ich bin stolz darauf, dass mit diesem Aufruf ein Brückenschlag gelungen ist zwischen dem Osten und Westen Europas und zwischen Nord und Süd. Nein, wir sind uns nicht in allen Fragen einig, aber wir sind uns einig darin, diese Europäische Union erhalten zu wollen.

Aber wir müssten heute nicht nach der Zukunft der EU fragen, wenn wir nicht auch ihre Schwächen erkennen würden, wenn uns Bruchstellen und der Vertrauensverlust vieler Bürgerinnen und Bürger nicht mit einem möglichen Scheitern der EU konfrontierten.

Um zu erkennen, wo die Ursachen dafür liegen, dass der europäische Einigungsgedanke an Unterstützung und Leidenschaft verloren hat, müssen wir, so glaube ich, einen kritischen Blick auf das Krisenmanagement der EU und ihrer Mitgliedstaaten werfen. Die Folgen der Finanzmarktkrise von 2008 sind zwar ökonomisch zum größten Teil, aber politisch noch nicht bewältigt. Und wir können nicht darüber hinwegsehen, dass die Differenz zwischen steigenden Löhnen und Renten in Deutschland und sinkenden Einkommen in anderen EU-Staaten der ursprünglichen Vorstellung der Europäischen Union widerspricht, dass alle gemeinsam dabei gewinnen und zu ihrem Glück vereint sind! Wird diese Ungleichheit von Lebenschancen und Lebenserfahrungen zum Dauerzustand, verliert auch die Gründungsidee der Europäischen Union an Glaubwürdigkeit. Auch die Freizügigkeit in Europa kann auf Dauer nur Bestand haben, wenn sie sich nicht in einer massiven Abwanderung der jungen, gut ausgebildeten Generation vieler Länder nach Deutschland erschöpft.

Erinnern sollten wir uns auch, dass nicht erst mit dem Brexit ein Referendum gegen die EU Erfolg hatte. Schon 2005 – und damit vor der Wirtschafts- und Finanzkrise – scheiterten die Referenden über den Europäischen Verfassungsvertrag in Frankeich und in den Niederlanden. Viele Bürgerinnen und Bürger misstrauen offenbar dem Gedanken der europäischen Integration; es ist ein Misstrauen gegen Institutionen und politische Prozesse, das sich nicht allein auf die Konstruktion der EU bezieht und das auch weit über die Grenzen Europas hinaus zu beobachten ist.

Das europäische Projekt ist bedroht, wenn die Zahl der Skeptiker und Gegner weiter wächst, wenn der Druck von außen zunimmt und Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auch im Innern der Union infrage gestellt werden. Aber es ist auch bedroht durch Gleichgültigkeit. Durch das Missverständnis, dass alle Vorteile und Errungenschaften der Europäischen Union auf Dauer garantiert sind. Die Gefahr ist real. Darin sind sich die Podiumsgäste des heutigen Nachmittags einig. Und nicht zuletzt deshalb sind Sie sich ebenso einig darin, dass die Frage nach den Schwächen der Europäischen Union gestellt werden muss. Nicht, um ihr Ende herbeizureden, sondern – im Gegenteil – um die richtigen Antworten zu finden, um die politische Union Europas zu erhalten und zukunftsfähig zu machen.

Wenn wir die Strategie der Populisten unterlaufen wollen, lautet die Frage, die wir stellen müssen, nicht: Bist du für oder gegen Europa? Sie muss lauten: Welche Politik wollen wir in der EU und für die EU? Und darüber darf, ja muss leidenschaftlich gestritten werden.

Ich freue mich deshalb sehr, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind, offen und auch kritisch über die Zukunft der Europäischen Union zu diskutieren.

Die Frage danach, was auf dem Spiel steht, setzt eine krisenhafte Situation immer schon voraus. Und Krisen hat die Europäische Union in den vergangenen zwei Jahrzehnten tatsächlich reichlich durchlebt. Angefangen mit der Finanzmarktkrise 2008, von der unser Podiumsgast Adam Tooze sagt, sie sei die erste Wirtschafts- und Finanzkrise globalen Ausmaßes gewesen, über die Griechenland- und die Eurokrise, die russische Annexion der Krim und den Krieg in der Ostukraine bis zur Flüchtlingskrise im Sommer 2015 und dem Brexit-Votum einer knappen Mehrheit der britischen Wähler – ein veritabler Krisen-Parcours.

Ich denke, die verbliebenen 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union tun gut daran, einzugestehen, dass die Entscheidung der Briten, die Union zu verlassen, sie empfindlich trifft. Die Entscheidung der Briten hat die EU erschüttert, aber der Brexit ist für die Union nicht zur Existenzfrage geworden. Die Europäische Union hat in den Abgrund geblickt, aber sie ist nicht gesprungen.

Nicht nur ist kein anderer Mitgliedstaat der EU dem Beispiel Großbritanniens gefolgt, mehr noch sind selbst die erklärten Gegner der EU zumindest in einer Hinsicht zurückhaltender geworden. Mir scheint, Forderungen nach einem EU-Austritt sind derzeit selbst unter Populisten nicht populär.

Und die Austrittsverhandlungen haben den Zusammenhalt der 27 verbliebenen EU-Staaten nicht nur gestärkt, sie haben unter den Vorzeichen der Krise doch noch einmal die größte Stärke dieser Union zutage treten lassen: die Fähigkeit zum solidarischen Handeln – die Fähigkeit, den eigenen Gewinn auch im Gewinn des anderen erkennen; die Einsicht, das eigene Interesse nicht ohne den Blick auf das Interesse des andern überhaupt bestimmen zu können.

Nur: Gelingt uns – auch uns Deutschen – das in Europa immer und überall? Ich bin sicher, unsere Podiumsgäste haben uns einen ehrlichen Blick von außen auf die deutsche Europapolitik mitgebracht. Auf ihre Stärken, aber auch auf ihre Lebenslügen. Wir Deutschen halten uns gern für die besten Europäer. Wir bescheinigen uns besondere Großzügigkeit gegenüber unseren Partnern und besondere Rücksichtnahme auf ihre Interessen. Wir glauben auch gern, dass wir die Lektionen der europäischen Geschichte selbst am gründlichsten, womöglich sogar am besten gelernt haben.

Aber mit den Augen der Anderen betrachtet sehen wir oft ganz anders aus. Handeln wir wirklich immer so, wie es unser Reden von der Schicksalsgemeinschaft Europa nahelegt? In der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik etwa? Oder in der Wirtschafts- und Währungsunion? In vielen dieser Fragen gehen die Eigen- und Fremdwahrnehmung auseinander: Deutschland glaubt oft, hilfsbereit und solidarisch zu handeln, während andere uns vorwerfen, nur nationale Interessen zu verfolgen. Und neigen wir nicht häufig dazu, den Beitrag anderer zu übersehen – etwa bei der Aufnahme von Flüchtlingen?

Das Risiko ist real, dass Deutschland sich in Europa isoliert – wenn auch mit vermeintlich besten Absichten. Das ist in den vergangenen Jahren unübersehbar deutlich geworden. Denn die Krisendynamik hat ja auch zu einer Europäisierung der nationalen Öffentlichkeiten geführt. Die wechselseitige Abhängigkeit aller von allen ist für jede Bürgerin und jeden Bürger der EU erkennbar geworden. Sie können sie auf den Titelseiten ihrer Tageszeitungen studieren, und sie nehmen auch die Differenzen und Konflikte zwischen den Mitgliedstaaten wahr.

Wer aber die nationalen Öffentlichkeiten für eine gemeinsame Sache gewinnen will, wird auch die Widerstände in den Mitgliedstaaten wahrnehmen und um den besten Weg streiten müssen. Auch darüber möchte ich mit meinen heutigen Gästen sprechen.

Ich habe im Vorfeld der kommenden Wahlen insbesondere mit vielen jungen Menschen über Europa gesprochen – hier in Deutschland, aber auch in Slowenien, in der Slowakei, in Kroatien, Österreich, Frankreich oder Bulgarien. Ich habe spannende Initiativen kennengelernt, mit denen junge Leute auf wunderbar kreative Art und Weise für Europa und die Europawahlen begeistern. Schön, dass einige von Ihnen heute im Saal sind. Ihnen ein besonderes Willkommen!

Im Gespräch mit Ihnen ist mir eines wieder besonders deutlich geworden: Eine Begründung der Europäischen Union, die sich ausschließlich auf die Erfahrung der Vergangenheit beruft, wird keine 20-Jährigen überzeugen. Wer die Jungen für Europa gewinnen will, muss sie in der Gegenwart mit einer Politik für die Zukunft überzeugen. Es ist zwar richtig, immer wieder zu betonen, dass kein Land mehr allein die großen Zukunftsaufgaben bewältigen kann. Es ist richtig, aber nicht genug. Hinzutreten muss der konkrete Beweis, dass wir es zusammen in Europa sehr wohl wollen und auch können – in der Klimapolitik, in Migrationsfragen, in der Digitalisierung, beim Schutz gegen die negativen Folgen der Globalisierung! Gemeinsame strategische Ansätze gegenüber China, gemeinsame Antworten auf die Machtkonzentration der Internetgiganten – all das muss eine europäische Politik leisten, die Mut zur Zukunft machen will!

Also, alles in allem, keine kleinen Themen für unsere heutigen Podiumsgäste – deshalb lassen Sie mich mit einer kurzen Vorstellungsrunde enden:

Herzlich Willkommen, Daniela Schwarzer, Direktorin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik; sie kann uns die Frage beantworten, welche Rolle und Verantwortung Frankreich und Deutschland in der Europäischen Union nach dem Brexit zukommt. Frau Schwarzer beschäftigen die deutsche und europäische Außenpolitik, die deutsch-französischen ebenso wie die transatlantischen Beziehungen und die europäischen Institutionen, und – so viel kann ich vorwegnehmen – sie ist überzeugt, dass ein starkes deutsch-französisches Führungsduo für die Selbstbehauptung Europas heute mehr denn je unverzichtbar ist.

Herzlich Willkommen auch Ivan Krastev, Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies in Sofia und Mitbegründer des European Council on Foreign Relations, dem wir eine der letzten Umfragen zur Europawahl verdanken. Sie hat mit einigen Mythen aufgeräumt und Ermutigendes und weniger Ermutigendes erbracht, über das wir sicher noch sprechen werden. Ivan Krastevs letztes Buch After Europe hat viel Beachtung gefunden. Warum er, wie der deutsche Titel nahelegt, eine Europadämmerung heraufziehen sieht, wie sein aktueller Blick auf die Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa ist, werden wir ihn gleich fragen können. Ich freue mich aber, so viel darf ich vorwegnehmen, dass er zum Schluss seines Buches – in interessanter Parallele zu Luuk van Middelaar – mit Blick auf die EU bemerkt, dass die Kunst des Überlebens in der Kunst der Improvisation liege. Es besteht also noch Hoffnung für die Europäische Union.

Luuk van Middelaar hatte bereits in seinem Buch Vom Kontinent zur Union gleich eine ganze Reihe Anregungen dafür entwickelt, wie die Europäische Union noch einmal neu zu denken sei. Ich freue mich sehr auf die Diskussion mit Ihnen, herzlich Willkommen auch Ihnen.

Und schließlich will ich Adam Tooze vorstellen, britischer Wirtschaftshistoriker mit engen Bezügen zu Deutschland und mit einem faszinierten und faszinierenden Blick auf die deutsche und europäische Geschichte. Sein bislang letztes Buch Crashed befasst sich mit der Finanzkrise von 2008 und erklärt sie gleich im Titel für längst noch nicht beendet. Welche Folgen sie für Europa hatte, insbesondere als Auslöser für populistische Bewegungen, und wie diese weiter wirken, werden wir ihn fragen können. Herzlich Willkommen, Adam Tooze.

Meine Damen und Herren, ich danke ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und bitte unsere Gäste zu mir auf das Podium.