Matinee "Demokratie ganz nah – 16 Ideen für ein gelebtes Grundgesetz" und Ordensverleihung zum Tag des Grundgesetzes

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 22. Mai 2019

Am 22. Mai hat der Bundespräsident 16 Aktive der politischen Bildung aus allen Bundesländern mit einer Einladung ins Schloss Bellevue geehrt und ihnen den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Über die Projekte sagte er: "Das Grundgesetz macht uns zu freien und gleichberechtigten Menschen, aber wie wir auf dieser Basis als Gesellschaft zusammenleben wollen, das kann nur durch Dialog, durch Erklären und Zuhören, durch Bereitschaft zum Kompromiss und zur Zusammenarbeit ausgelotet werden."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede vor der Ordensverleihung zum 70. Jahrestag des Grundgesetzes im Großen Saal von Schloss Bellevue

Libertango, so heißt das Stück von Astor Piazzolla, das wir eben gehört haben. Kann man am Vortag des Jubiläums 70 Jahre Grundgesetz etwas Schöneres vortragen als eine Liebeserklärung an die Freiheit? Herzlichen Dank an das Saxophonquartett clair-obscur für die gefühlvolle Einstimmung zu unserer Matinee und Ordensverleihung!

Kann man Gefühle für eine Verfassung haben? Das habe ich den nüchternen Deutschen nicht zugetraut. Und doch habe ich es wahrgenommen an den vielen Orten, die wir besucht haben im Laufe des Projektjahres, das wir heute feierlich abschließen.

Demokratie ganz nah – 16 Ideen für ein gelebtes Grundgesetz: Zu Beginn dieses Ideenwettbewerbs ahnte ich noch nicht, was die Landeszentralen und der Landesbeauftragte für politische Bildung einbringen würden. Natürlich hätte man vorher schon nachlesen können – nicht zuletzt bei der Bundeszentrale, bei Ihnen, lieber Thomas Krüger –, dass wir Hirn und Herz zugleich ansprechen müssen, damit Demokratievermittlung gelingen kann. Solche pädagogischen Selbstverständlichkeiten werden aber plötzlich alles andere als trivial, wenn man – wie wir es bei Vor-Ort-Terminen getan haben – ganz konkret mit den Menschen redet, die um ein solches Gespräch nicht gebeten haben und die sich der Politik, wie es oft pauschal heißt, vielleicht sogar fern fühlen, aus unterschiedlichsten Gründen.

Die Obdachlosen zum Beispiel, mit denen ich in Krefeld-Süd darüber gesprochen habe, was ihnen Artikel 1 des Grundgesetzes – ein Leben in Würde – bedeutet, die hatten sicher drängendere Themen als meinen Besuch. Aber sie haben sich auf das Treffen eingelassen, genauso wie ihre Unterstützer, die in einem ehemaligen Fabrikgelände Menschen mit und ohne Obdach zusammenbringen.

Oder der Rentner, der in Halle-Neustadt bei der Bürgerdiskussion sagte, dass der weitere Zuzug von Flüchtlingen hoffentlich, wie er formulierte, nichts zum Kippen bringen wird. Podien und Mikrofone gehören normalerweise nicht zu seinem Alltag, aber er hat auf unsere Einladung hin erzählt, was ihn beschäftigt. Ganz ruhig und ohne Schaum vor dem Mund. Genauso wie die Ehrenamtlerin, die dann sagte, dass sie demnächst geflüchtete Frauen gemeinsam mit Anwohnern an einen Tisch einladen möchte.

Oder der Auszubildende, Zuwandererkind der zweiten Generation und Vorsitzender des Jungen Rates Kiel, der in Neumünster darüber sprach, wie er zwischen den Kulturen pendelt: Türkisch oder Deutsch? Ich weiß eigentlich gar nicht, was davon meine Muttersprache ist. Offenbar ist mehr als eine Heimat möglich.

Auf meinen Reisen gab es viele nachdenkliche Momente. Etwa die Erkenntnis: Niemand von den Genannten hatte sich den 23. Mai 2019 als Datum für eine feierliche Geschichtsstunde oder eine fröhliche Grundgesetz-Party vorgemerkt. Aber – und das stimmte mich dann wieder zuversichtlich: Sie alle waren bereit, über die Werte zu reden, die unser Miteinander heute und in Zukunft ausmachen sollen. Danke, liebe Projektpartner bundesweit, für diese aufschlussreichen und vielschichtigen Begegnungen! Meine Frau und ich haben von unseren Besuchen dort, wo die Politik sonst eher selten zu Gast ist, sehr viel mitgenommen.

Wer durch die Berichte der sechzehn Länder blättert, die bei der Bundeszentrale als kleines Buch erschienen sind, der wird feststellen: Solche Dialogformate sind keine Selbstläufer. Politische Bildner – das wissen Sie, meine Damen und Herren – müssen entschlossen hingehen zu den bisher unerreichten Zielgruppen. Es wäre zwecklos, abzuwarten, bis sie von selber kommen. Politische Bildner müssen andere Formen der Sprache und Ansprache finden, sonst laufen ihre Kommunikationsbemühungen ins Leere. Und politische Bildner müssen sich, was mir am anspruchsvollsten scheint, regelmäßig fragen, ob ihre Themensetzung sich tatsächlich mit dem deckt, was die Menschen in unserem Land umtreibt. Schloss Bellevue liegt mitten in der viel zitierten Berliner Blase, deshalb kenne ich die Diskrepanz aus eigenem Erleben. Was im Regierungsviertel ganz oben auf der Agenda oder in den Überschriften der Medien steht, muss nicht unbedingt übereinstimmen mit dem Marktplatz in Brandenburg an der Havel, der mir über die Jahre als Wahlkreisabgeordneter vertraut geworden ist. Politische Bildung, die das im Blick behält, wird auch die richtigen Akzente finden, um bei den Leuten anzukommen.

Noch ein Punkt, den ich gelernt habe, obwohl ein Bundespräsident nur selten über Geld spricht: Politische Bildner müssen bereit sein, auch für kleine – im Sinne der Messbarkeit kleine – Erfolge viel Aufwand zu betreiben. Als ich in Neumünster die Kurse mit dem Titel New Ways for Newcomers erlebt und gehört habe, welche Summen der Landesbeauftragte in die Hand nimmt und wie intensiv für durchschnittlich zwölf Teilnehmende nach Kursleiterinnen und Kursleitern gesucht wird, die Arabisch oder Persisch sprechen, war mein erster Reflex: Was sagen wohl die Haushälter dazu? Aber als ich dann aus Biografien erfuhr, wie wirksam und nachhaltig solche Programme von Migranten für Migranten sein können, schien auch mir jeder Euro ab der ersten Stunde, wie es der Landesbeauftragte nennt, sehr gut angelegt.

Die sogenannte aufsuchende politische Bildung muss buchstäblich neue Wege gehen, beim Budgetieren neuer Methoden genauso wie bei der Eroberung neuer Wirkungsräume. Dorfanger, Sportplätze, Einkaufspassagen, Kieztreffpunkte, Theater – die im Wettbewerb vorgestellten Initiativen finden sich fast überall, außer dort, wo man politische Bildung üblicherweise vermutet: im Klassenzimmer, in der Bibliothek oder im Veranstaltungssaal. Stattdessen ziehen Schülerinnen und Schüler aus Regensburg mit einen Flashmob für Zivilcourage vors Rathaus, fährt ein Demokratiebus in die entlegensten Winkel an der Ostsee oder müht sich ein Livestream auch mal im nur einstelligen Zuschauerbereich um Aufmerksamkeit am Abend.

Sofern ich mir etwas für unsere heutige Saaldiskussion wünschen darf, dann bitte einen Exkurs zu Ihren Online-Erfahrungen, meine Damen und Herren, liebe Projektanbieter und -nachfrager. Politische Bildung nutzt ja schon länger das Medium Internet, aber wie effektiv aus Ihrer Sicht? Gelingt der Brückenschlag in andere Teile der Gesellschaft, in andere als jene, die manchmal etwas hochmütig als Bildungsbürgertum bezeichnet werden? Dringen die Inhalte der Grundrechte von Artikel 1 bis 19 online auch zu denen vor, die offline als schwer erreichbar gelten? Und falls ja, mit wie viel Tiefgang und in welchem Ton wird dann über unser Grundgesetz diskutiert?

Ich gehöre nicht zu den Kulturpessimisten und pauschalen Kritikern der sozialen Medien, sondern zu ihren täglichen Nutzern, aber ich will auch nicht verschweigen, dass mich manche Auswüchse in den Internetforen beunruhigen. Es darf uns nicht egal sein, dass einige junge Leute es normal finden, ihren Selbstwert an der Zahl ihrer Follower zu messen oder aus Überdruss einen Shitstorm loszutreten, der die Angegriffenen an den Rand der Verzweiflung treibt. Auch im digitalen Raum muss politische Bildung Grenzen aufzeigen. Regeln und Werte werden dort nicht überflüssig, sie sind dringender denn je!

Allerdings, wenn ich auf einer Digitalkonferenz Sätze sage wie Zivilisation ist die Kunst der Mäßigung, und Demokratie ist die Kunst des Kompromisses, dann weiß ich: Bildungsträger gewinnen mit solchen Sätzen – vor allem bei der jungen Generation – meistens keine Blumentöpfe und schon gar keine Likes. Aber es muss ihnen trotzdem gelingen, genau dieses Verständnis zu vermitteln. Wo es nicht über die Ratio, den Verstand funktioniert, dort eben über die Emotionen! Auch Respekt und Solidarität sind ja starke Gefühle, die etwas bewegen können.

Und auch dafür finden sich vielversprechende Beispiele unter den Wettbewerbsbeiträgen. Mein Herz für die Grundrechte etwa, das mag für manchen im ersten Moment plakativ oder profan klingen. Wer jedoch im Buchkapitel aus Bremen nachliest, wie viele Menschen diverser Herkunft und Altersgruppen auf diese spielerische Einladung zu einem Grundgesetz-Gespräch schon eingegangen sind, der wird zugeben müssen: So große Resonanz gibt es selten.

Politische Bildung neuer Art muss Zugeständnisse an den Zeitgeist, an veränderte Rahmenbedingungen und veränderte Lerngewohnheiten machen. Niedrigschwellig war das Schlüsselwort, das ich in unserem Projektjahr am häufigsten gehört habe. Wohlgemerkt: niedrigschwellig, nicht niveaulos. Es geht darum, die Hürden für den Zugang zu Angeboten so weit wie möglich zu senken. Also um den ersten Schritt, den ersten Kontakt, den ersten Funken der Begeisterung, auf den ein komplexer Lernprozess folgen kann.

Und folgen muss! Denn einen Befund kann ich der Bundesrepublik im Jubiläumsjahr leider nicht ersparen: Die Deutschen wissen zu wenig über ihr Grundgesetz. Infratest dimap hat vor kurzem 1.000 zufällig ausgewählte Menschen offen befragt, was ihnen zu unserer Verfassung so in den Sinn kam. 27 Prozent nannten Artikel 1, die Menschenwürde, oder allgemein die Grundrechte. Abgestuft folgten dann Gleichberechtigung, Meinungs- und Pressefreiheit, Rechtsstaat bis hin zur Religionsfreiheit mit 4 Prozent Nennungen. Darf uns das genügen?

Diese Frage möchte ich gern in den Saal geben, denn je nach Standpunkt kann man zu sehr unterschiedlichen Antworten kommen. So geben die allgemeinen Zustimmungswerte zum Grundgesetz ja durchaus Anlass zur Zuversicht – ich zitiere noch einmal Infratest dimap: 30 Prozent der Befragten bewerteten die Verfassung als sehr gut, 58 Prozent als eher gut, nur 8 Prozent als eher schlecht und 1 Prozent als sehr schlecht. Fazit: Die allermeisten befürworten das Grundgesetz, auch wenn sie es nicht genau kennen.

Ich glaube, auf diesem Ergebnis dürfen wir uns nicht ausruhen, denn es spiegelt das Stimmungsbild in Zeiten einer stabilen wirtschaftlichen Lage, positiver Arbeitsmarktdaten, frei von akuten innenpolitischen Krisen. Noch möchte der eine oder andere vielleicht hinzufügen, die Liste der Herausforderungen ist bekanntlich lang, angefangen von der Zukunft des Wirtschaftsstandortes angesichts von Digitalisierung, Strukturumbrüchen in der Mobilität oder Energieversorgung bis hin zu globalen Mega-Themen wie Klimawandel, Migration, Konflikten um Ressourcen oder religiöse Überzeugungen.

Es liegt mir wirklich fern, hier eine Bewährungsprobe unseres Grundgesetzes herbeizureden, aber wir alle wissen: Eine Verfassung muss sich gerade dann behaupten, wenn es hart auf hart kommt. Hätten wir in einer solchen Phase genügend Verfassungspatrioten? Ich meine Ja, aber ohne kluge und wirksame politische Bildung werden es sicher weniger. Und das ist nicht ungefährlich!

Einige Gäste hier im Saal haben einen Eid auf unser Grundgesetz geschworen und sind bereit, es unter Einsatz ihres eigenen Lebens zu verteidigen. Die anwesenden Offiziere der Bundeswehr zum Beispiel. Politische Bildung ist im Alltag der Truppe heute allgegenwärtig, integraler Bestandteil aller Ausbildungswege und Laufbahnen, ob Grundausbildung, freiwilliger Wehrdienst, Zeit- oder Berufssoldat, sie begleitet einfach alle, vom Gefreiten bis zum General sozusagen. In wenigen Wochen werde ich mir die Logistikschule der Bundeswehr in Garlstedt ansehen und freue mich deshalb sehr, schon heute das Netzwerk der politisch unabhängigen Bildner, wie es die Bundeszentrale und die Landeszentralen verkörpern, mit Akteuren der Exekutive zusammenzubringen. Ich bin mir sicher, der Gedankenaustausch wird fruchtbar. Und eines möchte ich an einem Tag wie diesem hinzufügen: Für mich ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Jugendoffiziere der Bundeswehr an Schulen und anderen Ausbildungseinrichtungen unseres Landes zur außen- und sicherheitspolitischen Fortbildung beitragen, kontroverse Diskussionen anregen und sich solchen Diskussionen auch selber stellen.

Zurück zum Tenor der Umfragen: Zum Grundgesetz bekennt sich die ganz große Mehrheit der Deutschen. Im Wort bekennen steckt kennen. Deshalb denke ich: Das Wissen zum Grundgesetz sollte in unserem Land so groß werden wie die Zustimmungswerte. Hirn und Herz im Gleichklang!

Das ist zweifellos ambitioniert, aber wir dürfen nicht hinnehmen, dass Millionen Menschen grundlegende Zusammenhänge nicht kennen. Zwischen der Weimarer, Bonner und Berliner Republik beispielsweise. Zwischen dem Holocaust und Artikel 1. Oder zwischen 1949 und dem, was wir heute westliche Werte nennen.

Politische Bildung ohne Geschichtsverständnis kann nicht funktionieren. Wie wollen wir Menschen dazu bewegen, 70 Jahre Grundgesetz zu feiern, wenn sie gar keinen Vergleich ziehen können, was eigentlich vorher war? Wenn ihnen das Bewusstsein fehlt, worum etwa 1953, 1968 oder 1982 in Deutschland gerungen wurde? Oder dass in der Bewertung des Jahres 1990 ein wesentlicher Unterschied zwischen Anschluss und Wiedervereinigung besteht?

Das sind keine bloßen Fußnoten der Geschichte, wie uns aktuelle Konflikte zeigen. In solchen Momenten ist oft von den Anfechtungen der Demokratie und von Identitätspolitik die Rede. Ich wünsche mir kein Deutschland, das seine nationale Identität absolut setzt und gegen andere richtet. Damit haben wir in der Vergangenheit großes Unheil über Europa und über uns selbst gebracht. Ich wünsche mir vielmehr ein Deutschland, das versteht, warum es wurde, was es heute ist – eine liberale Demokratie und ein Rechtsstaat.

Wer sich mit dem Grundgesetz beschäftigt, wird viele Anknüpfungspunkte dafür finden. Das bemerkenswerte Engagement der Frauen und Männer, denen ich in wenigen Augenblicken den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland überreichen werde, zeigt das auf anschauliche Weise.

16 Länder – 16 Verleihungen. Kein Zufall, Sie ahnen es. Wir werden gleich Näheres über die Projekte unserer Ehrengäste hören, über gelebte Demokratie, wie sie an Gedenkstätten, bei internationalen Jugendbegegnungen, in Integrationsräten, gleichstellungspolitischen Gremien, Fußballstadien, auf Bühnen oder sogar durch Aktionskunst greifbar wird.

Was mich besonders beeindruckt hat: Es gelingt dort immer wieder, Menschen ins Gespräch zu bringen, die sich sonst vielleicht nie getroffen hätten oder aufgrund ihrer Prägungen und Prämissen vielleicht sogar aus dem Weg gegangen wären.

Sie, liebe angehende Ordensträgerinnen und Ordensträger, fördern und führen genau die Dialoge, von denen ich mir wünsche, dass sie in unserem Land noch viel öfter stattfinden. Das Grundgesetz macht uns zu freien und gleichberechtigten Menschen, aber wie wir auf dieser Basis als Gesellschaft zusammenleben wollen, das kann nur durch Dialog, durch Erklären und Zuhören, durch Bereitschaft zum Kompromiss und zur Zusammenarbeit ausgelotet werden. Und genau dazu ermutigen und befähigen Sie junge und alte Menschen, Frauen und Männer, Einheimische und Zugewanderte, ganz gezielt auch die Zögerlichen in all diesen Gruppen. Sie machen sie zu selbstbewussten Bürgerinnen und Bürgern, Citoyens im besten Sinne des Wortes. Ihr Tun ist beispielhaft, und ich hoffe: sehr oft noch beispielgebend!

Ich darf nun mit jedem Orden hochoffiziell für die Bundesrepublik Deutschland Danke sagen.

Und ich tue es auch sehr persönlich: Sie, liebe Geehrte, stehen für ein gelebtes Grundgesetz und für die Zukunft unserer Verfassung. Ihr Wirken gehört für mich zu den überzeugendsten Gründen, 70 Jahre Grundgesetz nicht nur als Zahl, als Fakt zu würdigen, sondern voller Zuversicht im Herzen – ja, ganz emotional – zu feiern. Dankeschön!