Verleihung des Großen Verdienstkreuzes an Bundesminister a. D. Thomas de Maizière

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 7. Juni 2019

Der Bundespräsident hat am 7. Juni bei der Verleihung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an Bundesminister a. D. Thomas de Maizière in Schloss Bellevue eine Ansprache gehalten: "Er hat sich immer als Minister im Wortsinn verstanden: als ein Diener des Staates, für den das Gemeinwohl im Zweifel Vorrang hat vor der Polarisierung oder dem eigenen Ego. Und es ist ihm als Amtsinhaber, vor allem als Innenminister, immer wichtig gewesen, den Zusammenhalt der Gesellschaft und das Vertrauen in den Staat zu stärken."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede bei der Verleihung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an Bundesminister a.D. Thomas de Maizière in Schloss Bellevue

Vor knapp 30 Jahren, kurz nach dem Fall der Mauer, verlegt ein junger Mitarbeiter der Westberliner CDU seinen Arbeitsplatz in den Osten der Stadt. Der promovierte Jurist will seinem Vetter zur Seite stehen, der gerade Vorsitzender der Ost-CDU geworden ist und ihn gebeten hat, vor der ersten freien Volkskammerwahl beim Aufbau neuer Parteistrukturen zu helfen.

Thomas de Maizière, so heißt der junge Mitarbeiter, bleibt Berater seines Vetters Lothar, als der wenig später zum Ministerpräsidenten der DDR gewählt wird und die Verhandlungen über den Einigungsvertrag aufnimmt. Und so schraubt und feilt er in diesen historischen Zeiten plötzlich mit am großen Werkstück Deutsche Einheit.

Damals, so hat Thomas de Maizière es selbst beschrieben, ist jeder Tag so wie fünf Tage. Vieles ist Learning by Doing. Er arbeitet fast immer bis zur Erschöpfung, schläft wenig, raucht viel. Aber es fasziniert und erfüllt ihn, an Geschichte mitzuwirken und gemeinsam mit anderen ein gutes Deutschland zu gestalten.

Anmut sparet nicht noch Mühe, Leidenschaft nicht noch Verstand – lieber Thomas de Maizière, Sie haben damals davon geträumt, die Kinderhymne von Bertolt Brecht zur Nationalhymne des vereinigten Deutschland zu machen. Und ich weiß, dass diese Zeilen Ihnen auch persönlich viel bedeuten. Ich finde, sie klingen wie die Lebensmaxime des Politikers und Staatsmanns, den wir heute Mittag hier gemeinsam ehren wollen.

In der Zeit der Wiedervereinigung wird der Westdeutsche Thomas de Maizière zu einem ostdeutschen Politiker. Aber diese Zeit ist für ihn auch in anderer Hinsicht folgenreich. Denn er lernt damals die Pressesprecherin des Demokratischen Aufbruchs kennen, eine Physikerin aus der Uckermark. Als sein Vetter eine Sprecherin für sein Team sucht, schlägt er sie vor, mit den Worten, ich zitiere Thomas de Maizière: Die macht einen ganz guten Eindruck.

Heute wissen wir: Die politische Karriere dieser Sprecherin sollte im vereinigten Deutschland noch ein kleines Stück weitergehen. Und, liebe Frau Merkel, als Bundeskanzlerin fanden Sie dann häufiger, dass Ihr Minister Thomas de Maizière einen ganz guten Eindruck macht.

28 Jahre hat Thomas de Maizière in verschiedensten Ämtern und Regierungen Verantwortung getragen. Zunächst hilft er beim Aufbau der ostdeutschen Länder mit: in Mecklenburg-Vorpommern als Staatssekretär im Kultusministerium und Chef der Staatskanzlei, in Sachsen als Chef der Staatskanzlei, Finanz-, Justiz- und Innenminister. Danach wechselt er, nach einem Anruf der Kanzlerin, auf die Bundesebene, wird Chef des Kanzleramts, Innenminister, Verteidigungsminister und nochmals Innenminister.

Er ist in diesen Jahren zu einem der beliebtesten Politiker unseres Landes geworden, zu einem, dem viele Menschen vertrauen, gerade weil er ein Mann der leisen, aber klugen Töne ist. Einer, der keinen Ehrgeiz hat, alles und jeden zu kommentieren, der nüchtern abwägt, der vermitteln kann, dem die Sache wichtiger ist als die Inszenierung der eigenen Person.

Kennengelernt haben wir uns schon früh in den Neunzigern, als wir noch beide in der Landespolitik unterwegs waren: Sie in Mecklenburg-Vorpommern, ich in Niedersachsen. Wir haben uns kennengelernt in Fragen der Rundfunkpolitik. Genauer gesagt ging es damals, als wir uns erstmals begegnet sind, um die Sicherung der Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in den neuen Bundesländern. Später waren wir dann gleichzeitig Chef einer Staatskanzlei, und seit der Zeit haben sich unsere Wege immer wieder gekreuzt.

Und gekreuzt ist ein gutes Stichwort im doppelten Sinn, denn über viele Jahre haben wir uns gemeinsam und ehrenamtlich für den Deutschen Evangelischen Kirchentag engagiert, der jetzt gerade in diesem Monat wieder vor der Tür steht. Ich erinnere mich gern an die Wochenenden, die wir gemeinsam und vegetarisch in Jugendherbergen und Evangelischen Bildungsstätten verbracht haben, um Kirchentage vorzubereiten.

Intensiv waren die Jahre unserer Zusammenarbeit im Kabinett nach 2005. Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als Thomas de Maizière aus Dresden nach Berlin kam und mein Nachfolger als Chef des Kanzleramts wurde. Das Übergabegespräch fiel damals recht knapp aus, weil ich schon halb im Flugzeug nach Paris saß, aber wir haben das nachgeholt, ein paar Tage später uns noch einmal getroffen, um uns über Erfahrungen, Aufgaben und vor allen Dingen auch Möglichkeiten im Kanzleramt zu unterhalten.

Dass Thomas de Maizière dann ganz bewusst nicht alles genauso gemacht hat wie sein Vorgänger, hat mich nicht überrascht, aber es hat mich beeindruckt – und ich bin sicher: nicht nur mich –, wie umsichtig er schon bald im Maschinenraum der Regierung gewirkt hat, wie diskret und geräuschlos er manchen kleinen – und auch den einen oder anderen größeren – Brand in der Koalition zu löschen wusste.

Thomas de Maizière ist bekennender Preuße, und er ist immer wieder als Preuße der Regierung porträtiert worden, auch wenn er viel im Rheinland aufgewachsen ist und Sachsen schon vor Jahren zu seiner Heimat erkoren hat. Das Preußische ist für ihn vor allem eine Frage der Haltung. Er hat sich immer als Minister im Wortsinn verstanden: als ein Diener des Staates, für den das Gemeinwohl im Zweifel Vorrang hat vor der Polarisierung oder dem eigenen Ego. Und es ist ihm als Amtsinhaber, vor allem als Innenminister, immer wichtig gewesen, den Zusammenhalt der Gesellschaft und das Vertrauen in den Staat zu stärken.

Loyalität und Pflichtgefühl gegenüber der Institution und dem Chef oder der Chefin an der Spitze – das hat den Minister Thomas de Maizière in all den Jahren ausgezeichnet. Aber er hat Loyalität nie mit Kritiklosigkeit oder Passivität verwechselt, sondern immer den Mut gehabt, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, seine Meinung zu vertreten und selbst die Initiative zu ergreifen.

Dietrich Bonhoeffer hat einmal geschrieben: In der Verantwortung realisiert sich beides, Gehorsam und Freiheit. Sie trägt diese Spannung in sich. Thomas de Maizière, der protestantische Christ, der Bonhoeffer sehr schätzt, hat diese Spannung schöpferisch genutzt, ohne dabei die Grenzen des politisch Machbaren aus den Augen zu verlieren – und ohne zu verdrängen, dass auch Minister fehlbar sind.

In der Demokratie ist ein Ministeramt immer nur ein Amt auf Zeit. Oft schiebt ein Amtsinhaber etwas an, legt einen Grundstein, steht aber selbst längst nicht mehr in der Verantwortung, wenn das Gebäude fertiggestellt wird. Oder er muss an etwas weiterbauen, das andere ihm hinterlassen haben, nicht selten im Licht neuer Erkenntnisse oder in einem ganz anderen politischen Klima.

Thomas de Maizière hat in den vergangenen drei Jahrzehnten aus Verantwortungsbewusstsein mehrfach die Ämter gewechselt, ob jedes Amt das erträumte war, weiß er nur selbst. Von Anfang an konnte er auf Großbaustellen mit anpacken und vieles mit ins Werk setzen, das bis heute nachwirkt: in Schwerin beim Aufbau eines neuen Schulsystems, in Dresden bei den Verhandlungen über den Solidarpakt II, im Kanzleramt bei der Einführung einer Schuldenbremse und vieles andere mehr.

Als Verteidigungsminister hat er, könnte ich mir vorstellen, mit der Abschaffung der Wehrpflicht eher gehadert, aber er hat sich der Herausforderung gestellt, die Bundeswehr in eine reine Freiwilligenarmee zu verwandeln. Der Slogan seiner Amtszeit lautete natürlich Wir. Dienen. Deutschland., und es ist auch Thomas de Maizière zu verdanken, dass die Bundeswehr und ihre Einsätze heute in unserer Gesellschaft auf große Wertschätzung und Akzeptanz stoßen.

In beiden Amtszeiten als Innenminister stand Thomas de Maizière, der Karl Popper zu seinen Schlüsselautoren zählt, ganz vorn im Kampf der offenen Gesellschaft gegen ihre Feinde. Er hat sich immer für einen Rechtsstaat stark gemacht, der wehrhaft, auch wachsam ist, aber nicht panisch und paranoid. Und er hat den schwierigen Spagat versucht, die Bürger nicht durch Terrorwarnungen abzustumpfen oder zu verunsichern, ihnen aber auch nicht das falsche Gefühl der Sicherheit zu vermitteln.

Schwere Entscheidungen musste der Innenminister Thomas de Maizière auch in der sogenannten Flüchtlingskrise des Jahres 2015 treffen. Auch damals, in einer Ausnahmesituation, hat er sich immer an den Prinzipien des Rechtsstaats orientiert. Und er hat schon früh Impulse in die Debatte gebracht, wie wir Zuwanderung begrenzen und gestalten können – im Interesse unseres Landes und der Menschen, die zu uns kommen. Ich finde es gut und wichtig, dass wir diese Debatte heute weiterführen.

Sie haben einmal gesagt: Man kann nicht sein Leben lang Tag für Tag nur Amtsträger sein, das wäre unmenschlich. Heute Mittag sind viele hier in diesem Raum, die den Menschen hinter dem Amtsträger gut kennen, den Rheinländer und Sachsen hinter dem Preußen: Ihre Frau, Ihre Tochter, Ihre beiden Söhne, gute Freunde auch aus Ihrer Schulzeit am Bonner Aloisiuskolleg, ehemalige Mitarbeiter und Weggefährten. Sie alle kennen ganz unterschiedliche Facetten von Ihnen – den Familienmenschen, der sich bei der Kanzlerin von einem wichtigen Koalitionsausschuss höchst ausnahmsweise, ein einziges Mal abmeldet, weil er den Abiball seiner Tochter nicht verpassen will; den Klavierspieler und Kinogänger; den Fan von Borussia Dortmund.

Politiker wollte Thomas de Maizière eigentlich nicht werden, nicht von Anfang an, bürgerschaftliches Engagement gehörte für ihn aber schon immer dazu. Er setzt sich ein für den Sport, für die Kammermusik und für seine Wahlheimatstadt Dresden.

Thomas de Maizière ist ein Bürger im klassischen Sinn, einer, der sich um seine Polis kümmert. Aber er verschanzt sich nicht hinter den Mauern seiner Heimatstadt, sondern er geht neugierig in die Welt. Und er versteht es wie kaum ein anderer, das Handwerk der Politik zu erklären und auch Einblicke zu geben in die Werkstatt des Regierens. So trägt er dazu bei, die Politik aus dem Schatten der Verschwörungstheorien zu holen. Und wirbt, ganz nebenbei, für das Engagement in demokratischen Institutionen, weil er zeigt, dass Regieren, allen Mühen zum Trotz, gelegentlich auch Quelle von Freude ist und Spaß macht.

Der Abschied aus der Bundesregierung ist Ihnen nicht leicht gefallen, daraus haben Sie kein Hehl gemacht. Und ich weiß, dass dieser Abschied viele Menschen in unserem Land berührt hat. Sie haben einmal gesagt, und zwar lange vor Ihrem Abschied: Es gibt keine Dankbarkeit in der Politik. Das klingt schon wieder ein bisschen streng, ein bisschen preußisch, aber vor allem glaube ich: Es stimmt nicht. Diese Ehrung jedenfalls ist mehr als ein formaler Staatsakt, und ich möchte, dass Sie sie als ein Zeichen großer Dankbarkeit verstehen.

Und weil wir dieses Land verbessern, lieben und beschirmen wir’s – so beginnt die letzte Strophe von Brechts Kinderhymne. Lieber Thomas de Maizière, Sie haben über Jahrzehnte mitgeholfen, dieses Land zu beschirmen und zu verbessern, und Sie tun es bis heute: als Abgeordneter des Deutschen Bundestages und als engagierter Bürger. Ich danke Ihnen von Herzen für Ihren großen Einsatz. Und ich freue mich, Ihnen jetzt das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland zu verleihen.

Herzlichen Dank.