Eröffnung der Kultaranta-Gespräche

Schwerpunktthema: Rede

Kultaranta/Finnland, , 16. Juni 2019

Der Bundespräsident hat zu Beginn der Kultaranta-Gespräche auf Einladung des finnischen Staatspräsidenten Sauli Niinistö am 16. Juni eine Ansprache gehalten: "Es liegt auf der Hand, dass wir Europäer in Zeiten zunehmender Unsicherheit und des Aufstiegs neuer Mächte, in Zeiten gewaltsamer Krisen und neuer Konfrontationen gut beraten sind, unsere Heimatbasis zu stärken. Wir müssen unseren inneren Zusammenhalt verbessern und unsere Kapazitäten und Instrumente für unabhängiges und strategisches Handeln ausbauen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei einer Diskussion mit dem Staatspräsidenten der Republik Finnland, Sauli Niinistö, während der Kultaranta-Gespräche

syEs ist wunderbar, wieder hier in Finnland zu sein! Meine Frau und ich erinnern uns gern an unseren Staatsbesuch in Finnland im September letzten Jahres, der uns nach Helsinki und Oulu führte. Doch wir konnten dabei nicht die gesamte Schönheit Ihres Landes sehen. Danke, lieber Sauli, dass Sie uns heute hier nach Kultaranta eingeladen haben, an diesen herrlichen Ort, und noch dazu an einem der längsten Tage des Jahres.

Seit unserem Zusammentreffen im September hat sich viel verändert. Ihr Land hat die Eishockey-Weltmeisterschaft gewonnen – hyvä Suomi! Finnland hat eine neue Regierung und wird in zwei Wochen die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen. Und die Bürgerinnen und Bürger Europas haben am 26. Mai ein neues EU-Parlament gewählt. Das ist ein guter Zeitpunkt, um sich mit den Herausforderungen für Europa und den großen Aufgaben auseinanderzusetzen, vor denen unser Kontinent und die Europäische Union stehen.

Finnland ist definitiv ein inspirierender Ort, um über diese Themen nachzudenken. Ich war 19 Jahre alt und leistete gerade meinen Wehrdienst in Goslar nahe der innerdeutschen Grenze, damals das am stärksten militarisierte Gebiet weltweit, als in Helsinki die Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa unterzeichnet wurde. Ich erinnere mich noch gut an die Fernsehbilder von damals: Gerald Ford und Leonid Breschnew, Henry Kissinger und Andrei Gromyko, Helmut Schmidt und Erich Honecker. Es war, wie wir im Nachhinein wissen, einer dieser Schlüsselmomente der Geschichte, die Auswirkungen auf eine ganze Generation haben. Die Weisheit und Genialität eines großen Finnen, Urho Kekkonen, waren hierfür unerlässlich. Er verfolgte die Interessen seines Heimatlandes, Finnland, doch er tat es mit großer Weitsicht und tiefem Verständnis und förderte damit Frieden und Sicherheit auf dem gesamten europäischen Kontinent und darüber hinaus.

Wenn wir heute die Schlussakte von Helsinki als Meilenstein der Geschichte feiern, vergessen wir zuweilen, wie kontrovers diese zur damaligen Zeit gesehen wurde. Für viele schien es, als hätte die Sowjetunion ihr wichtigstes Ziel erreicht: die Ratifizierung der Beherrschung und Besetzung Ost- und Mitteleuropas. Es dauerte seine Zeit, bis die Saat des dritten Korbs zu Menschenrechten und Grundfreiheiten aufging und letztlich zum Verschwinden des Eisernen Vorhangs und dem Einzug von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in ganz Europa beitragen konnte.

Das sollten wir im Hinterkopf behalten, denn die damaligen Staatsmänner waren sich keineswegs darüber im Klaren, welche Auswirkungen die Schlussakte haben würde. Ja, sie war ein Hoffnungsschimmer für eine bessere Zukunft. Doch die Auseinandersetzungen und systembedingten Rivalitäten dauerten noch viele Jahre an. Erst nach den wundersamerweise friedlich verlaufenden Revolutionen von 1989 erschien plötzlich alles ganz logisch – und vielen dann sogar als unumgänglich. Diese optimistische Hoffnung auf ein ungeteiltes und freies Europa, ein Europa, das auf friedlicher Zusammenarbeit, Rechtsstaatlichkeit und einer beständigen Vertiefung der Integration gründet, wurde 1990 in der Charta von Paris verankert.

Heute sind der Optimismus von 1989 und die Zuversicht der Internetpioniere einem allgegenwärtigen Pessimismus gewichen. Es scheint, als würden autoritäre Herrscher die Macht übernehmen und die Agenda bestimmen. Demokratie, Menschenrechte und internationale Zusammenarbeit scheinen auf dem Rückzug zu sein.

Es stimmt, dass unsere Gesellschaften und politischen Systeme unter Druck geraten sind. Sie sind rasanten und grundlegenden Veränderungen unterworfen. Die Gründe hierfür sind mannigfaltig. Einige sind lokal zu verorten, andere ergeben sich aus den allgemeinen globalen Entwicklungen und dem technologischen Fortschritt. Doch genauso skeptisch, wie ich den Optimismus des sogenannten unipolaren Moments gesehen habe, genauso wenig teile ich den heutigen Pessimismus. Wir Menschen neigen allzu oft dazu, linear zu denken – doch wenn es um Geschichte und Politik geht, ist das eine Illusion. Es ist an uns, die Zukunft zu gestalten. Und genauso, wie frühere Generationen von Politikern – von Willy Brandt bis Urho Kekkonen – hart daran gearbeitet haben, unter widrigen Bedingungen für Freiheit, Wohlstand und Frieden zu sorgen, müssen auch wir heute unser Bestes geben, und zwar nicht, indem wir einfachen und oft irreführenden Analogien zur Vergangenheit nachhängen, sondern vielmehr, indem wir uns intensiv mit der neuen und durchaus komplexen Situation auseinandersetzen, in der sich Europa heute befindet. Das war der Geist, in dem wir den deutschen OSZE-Vorsitz 2016 nutzen wollten und in dem Finnland seinen Vorsitz des Arktischen Rates ausgeübt hat. Und das ist auch der Geist, der heute noch dringender notwendig ist.

Ich werde nicht versuchen, detailliert die zahlreichen Veränderungen zu analysieren, die uns dazu zwingen, unsere politischen Strategien zu überdenken. Ich möchte nur zwei der großen Herausforderungen skizzieren.

Erstens die Stärkung der Europäischen Union. Es liegt auf der Hand, dass wir Europäer in Zeiten zunehmender Unsicherheit und des Aufstiegs neuer Mächte, in Zeiten gewaltsamer Krisen und neuer Konfrontationen gut beraten sind, unsere Heimatbasis zu stärken. Wir müssen unseren inneren Zusammenhalt verbessern und unsere Kapazitäten und Instrumente für unabhängiges und strategisches Handeln ausbauen. Nach jahrelanger Teilnahme an den Treffen des Rates Auswärtige Angelegenheiten und unzähligen Besuchen in Mitgliedstaaten, sowohl als Außenminister als auch nunmehr als Bundespräsident, bin ich mir durchaus der damit verbundenen Schwierigkeiten bewusst. Es gibt zahlreiche unterschiedliche politische Auffassungen in den einzelnen Mitgliedstaaten. Es gibt auch tiefere Gräben, die weitaus schwieriger zu überwinden sind. Und dann ist da noch der Brexit-Albtraum, der mit dem Verlust eines leistungsfähigen und wichtigen Mitgliedstaats einhergeht, insbesondere im Hinblick auf außen- und sicherheitspolitische Belange.

Und dennoch bin ich nach wie vor ziemlich optimistisch. In einem Gemeinsamen Aufruf, den Präsident Niinistö und ich zusammen mit 19 anderen Staats- und Regierungschefs vor der Europawahl unterzeichnet haben, heißt es: Einig sind wir uns jedoch darin: Die europäische Integration und Einheit ist unverzichtbar, und wir wollen Europa als Union fortsetzen. Nur eine starke Gemeinschaft wird sich den globalen Herausforderungen unserer Zeit stellen können.

Das ist die Grundlage. Und ich glaube – im Gegensatz zu den Skeptikern und dem heute vorherrschenden Pessimismus –, dass diese Grundlage noch immer intakt ist. Der Grundgedanke, auf dem die Europäische Union fußt, ist so stark wie eh und je.

Es müssen jetzt viele dringliche Entscheidungen getroffen werden, sowohl im Hinblick auf die neue Führungsriege der europäischen Institutionen und das neue Team in Brüssel als auch in Bezug auf die großen politischen Herausforderungen, vor denen wir stehen: Klimawandel, Migration und Digitalisierung. Ich freue mich, dass mit der in zwei Wochen beginnenden finnischen EU-Ratspräsidentschaft Ministerpräsident Antti Rinne und sein Team eine wichtige Rolle dabei spielen werden, das Wahlergebnis der Bürgerinnen und Bürger umzusetzen und einen mutigen Neustart für das europäische Projekt und seine Institutionen anzustoßen.

Die zweite Aufgabe stellt meiner Ansicht nach auf konzeptioneller Ebene eine noch größere Herausforderung dar. Der globale politische und wirtschaftliche Schwerpunkt verlagert sich weg von Europa. Die Säulen der internationalen Ordnung werden durch neue Rivalitäten erschüttert. Europa muss einige seiner grundlegenden Annahmen hinterfragen und seine Beziehungen zu den Großmächten dieser Welt überdenken.

Beginnen wir mit den Vereinigten Staaten. Oft wird vergessen, dass der Atlantizismus im 19. Jahrhundert, als die USA dem damals noch feudalistischen Europa ablehnend gegenüberstanden, kaum ausgeprägt war. Die starken transatlantischen Beziehungen von heute sind das Ergebnis zweier Weltkriege. Der Atlantizismus war eine amerikanische Schöpfung, die Europa unter beispiellosen Umständen gerettet und geschützt hat. Innerhalb des sich derzeit entfaltenden globalen Wettbewerbs, der insbesondere auch von den USA und China vorangetrieben wird, wird es zu einem Großteil an Europa sein, den Atlantizismus im ureigenen Interesse der Europäer wie auch der Amerikaner am Leben zu erhalten, so befremdlich einige Entwicklungen in Teilen der USA auch sein mögen. Der Atlantizismus wird politische Klugheit auf beiden Seiten erfordern, und zwar unabhängig von zeitweiligen Meinungsverschiedenheiten oder gar Rivalitäten. Das ist eine immense Herausforderung für eine umsichtige und verantwortungsvolle politische Führung. Gleichzeitig kann Europa dieser Aufgabe nur glaubhaft nachkommen, wenn es selbst ein tatkräftigerer Akteur wird. Wir müssen unsere eigenen europäischen Fähigkeiten stärken. Wir müssen außerdem einen aktiveren gemeinsamen außenpolitischen Ansatz entwickeln, der über Sanktionen und Blockaden hinausgeht. Einen Ansatz, in dessen Rahmen mehr in die Entwicklung von Partnerschaften mit Regionen investiert wird, die von entscheidender Bedeutung für unsere Interessen sind – wie die afrikanischen Staaten oder die Staaten Zentralasiens, wobei Usbekistan als derzeit besonders Erfolg versprechendes Beispiel dafür genannt werden kann, dass Veränderungen möglich sind.

Kommen wir nun zu Russland: Unsere Hoffnungen, auch meine eigenen, auf eine umfassende, zunehmend integrierte Partnerschaft mit Russland haben sich nicht erfüllt. Analysten und Historiker verfügen über umfangreiches Material, um die Gründe hierfür zu erforschen. Wir leben in einer Zeit der Spannungen, Sanktionen und gegenseitigen Schuldzuweisungen. Auch wenn die Ursachen der einzelnen Konflikte keineswegs identisch sind, herrscht doch auf beiden Seiten tiefe Enttäuschung. Einige fürchten die Rückkehr zu dem, was sie als business as usual bezeichnen. Ich teile diese Sorge nicht. Ich glaube nicht, dass es mit Russland künftig so etwas wie business as usual geben wird. Es ist etwas Neues: Moskau ist auf der Suche nach einem neuen konzeptionellen Rahmen für seine Beziehung zu Europa. Vieles deutet darauf hin, dass Russland sich zunehmend nach innen orientiert und sich für seine Zukunft so wenig wie kaum jemals zuvor in den letzten drei Jahrhunderten auf Europa als Orientierungspunkt und Quelle für Modernisierung bezieht. Ein sachlicheres Verhältnis, eines, das weniger stark mit Erwartungen hinsichtlich Veränderungen überfrachtet ist, muss ja keine schlechte Alternative sein. Allerdings bringt ein nüchterneres, distanzierteres Verhältnis auch Risiken mit sich. Und der andauernde Konflikt in der Ostukraine belastet die Beziehungen weiterhin schwer, ebenso wie die Annexion der Krim. Wie sollte Europas eigener neuer konzeptioneller Ansatz im Hinblick auf Russland aussehen? Wir sollten nicht stillschweigend billigen, dass der Raum zur freien Meinungsäußerung der russischen Zivilgesellschaft immer stärker eingeschränkt wird. Die kürzliche Verhaftung und anschließende Freilassung des Journalisten Iwan Golunow hat erneut gezeigt, dass es notwendig und wichtig ist, wachsam zu sein und praktische Solidarität zu leben. Doch wir sollten uns – im Interesse einer funktionaleren Partnerschaft – stärker bewusst machen, dass unsere eigenen Fähigkeiten, Russland zu verändern, begrenzt sind. Ich bin mir darüber im Klaren, dass dies ein kontroverser Prozess des Umdenkens ist. Aber er ist unausweichlich für uns Europäer, und ich weiß, dass Finnland auch heute an der Spitze dieser Debatte steht.

Und schließlich China. Ich weiß, dass Finnair eine der europäischen Fluglinien ist, die auf dem chinesischen Markt besonders aktiv sind. Um zu verstehen, warum, muss man einen Blick auf einen Globus, nicht auf eine Landkarte, werfen: Helsinki liegt viel näher an Peking als Berlin. Und doch müssen wir alle anerkennen, dass China uns einerseits näher rückt und sich doch gleichzeitig von uns entfernt. China ist in vielen Bereichen ein Partner, und wir sollten weiterhin in diesen funktionalen Teil unserer Beziehungen investieren: in die wirtschaftliche, kulturelle und politische Zusammenarbeit. China ist inzwischen Deutschlands größter Handelspartner. Doch China ist auch zunehmend ein Konkurrent und in einigen Bereichen sogar, wie es die Europäische Kommission kürzlich formulierte, ein systemischer Rivale. In welche Richtung soll sich diese Beziehung innerhalb der Dynamik zwischen den USA, China, Russland und Europa entwickeln? Sind wir in der Lage, unseren Zusammenhalt als Europäische Union zu wahren angesichts einer sich abzeichnenden globalen Hightech-Konfrontation oder vor dem Hintergrund der verheißungsvollen Infrastrukturinvestitionen, die China einem 17+1-Format, das von seinen eigenen Interessen dominiert wird, verspricht?

Die Art und Weise, wie wir unsere künftigen Beziehungen zu den Großmächten sehen, wird unweigerlich auch Auswirkungen auf die interne Dynamik unserer Bemühungen um eine Stärkung der Europäischen Union haben. Sie wird unsere Initiativen zur Vermeidung großer Konflikte und zur Förderung einer regelbasierten internationalen Ordnung prägen. Sie wird Einfluss auf unsere politischen Strategien für Bereiche wie den Klimaschutz und für Regionen wie den Hohen Norden oder die Arktis haben, wo sich Finnland und andere Staaten mit einem sich rasant verändernden Umfeld konfrontiert sehen. Doch sie wird auch in unserer komplizierten und von Krisen geplagten südlichen Nachbarschaft des Nahen und Mittleren Ostens und des Maghreb eine Rolle spielen. Das neue sicherheitspolitische Umfeld Europas ist nicht allein eine Konsequenz der Unruhe stiftenden Entscheidungen der derzeitigen US-Regierung. Es ergibt sich, so jedenfalls lautet meine Analyse, aus den tektonischen Verschiebungen der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Macht in der heutigen Welt.

Es gibt also viele Herausforderungen Wir sollten uns darauf konzentrieren, unser eigenes Haus in Ordnung zu halten. So werden wir am ehesten das Vertrauen in die Kraft unseres eigenen Beispiels bewahren beziehungsweise wiedererlangen.

An dieser Stelle möchte ich enden und die Veranstaltung zu dem werden lassen, was der Titel verspricht: den Kultaranta-Gesprächen.

Vielen Dank.