Verleihung des Großen Verdienstkreuzes an Volker Schlöndorff

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 25. Juni 2019

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat den Regisseur Volker Schlöndorff am 25. Juni in Schloss Bellevue mit dem Großen Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. In seiner Ansprache während der Ordensverleihung sagte er: "Unser Land hat Ihnen sehr viel zu verdanken. Sie haben eine Bild- und Filmsprache gefunden für so vieles, was in unserer Gesellschaft virulent war und ist."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Verleihung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an Volker Schlöndorff in Schloss Bellevue.

Roxy, Rio, Apollo: Jeder von uns kennt wahrscheinlich noch den Zauber, den diese oder ähnliche typische Kinonamen der Fünfziger- und Sechzigerjahre einst ausgelöst haben. Sie verhießen fremde Welten und exotische Abenteuer, unerreichbare Helden oder verführerische Schönheiten. Sie verursachten Vorfreuden oder Tagträume, noch bevor man die Kinokarte gelöst hatte – und sie entließen uns nicht aus den Geschichten, auch wenn die Vorstellung schon lange vorbei war.

So hießen auf jeden Fall einige Kinos, in denen der kleine Volker Schlöndorff in Wiesbaden seine ersten Kinoerfahrungen gemacht hat – und die den ersten Keim legten für jene Leidenschaft für den Film, die ihn sein Leben lang nicht mehr loslassen sollte.

Wir können heute dankbar sein dafür, dass es einst eine so reichhaltige Kinolandschaft gab, die nicht nur Sie, Volker Schlöndorff, sondern auch die anderen späteren Filmemacher mit dem Kinovirus ansteckte, die dann einige Jahre später das unerwartete Wunder zustande brachten, das man erst den Jungen und dann den Neuen Deutschen Film genannt hat. Vielen von ihnen brachten ihre Leidenschaft und ihr Können internationalen Ruhm, große Anerkennung und bedeutende Preise ein. Bei einem Treffen Jahrzehnte später in New York, so berichten Sie in Ihrer Autobiografie, hat Werner Herzog zu Ihnen gesagt: Es ist doch erstaunlich, dass es uns immer noch gibt.

Dieser Kinolandschaft, die bis in die tiefste Provinz reichte, hat Wim Wenders später, als sie längst schon angefangen hatte, Vergangenheit zu werden, mit Im Lauf der Zeit ein kleines Denkmal gesetzt.

Die Magie des Kinos hat Sie, Volker Schlöndorff, erst recht in Frankreich verzaubert. Erst als Austauschschüler im Jesuiteninternat, wo nicht nur, wie klassischerweise, das Theater, sondern auch die ja immer noch relativ neue Kunst des Films geschätzt wurde.

Später dann in Paris, wo Sie, als noch ganz junger Filmenthusiast, die legendäre Cinémathèque française entdeckten. Sie schauten sich einmal quer durch die bis dahin bekannte Filmgeschichte. Aber Sie gingen dabei auch einer Profession nach, die wahrscheinlich außer Ihnen kaum noch jemand jemals ausgeübt hat: Sie besorgten live die Simultan-Synchronisation deutscher Filme oder von Filmen mit deutschen Untertiteln für die Französisch verstehenden anderen Zuschauer. Eintausend Filme, so schätzen Sie selber, haben Sie da innerhalb von drei Jahren gesehen, und das ist natürlich eine Schule, die durch nichts ersetzbar ist.

Wenn ich Sie heute mit einem hohen deutschen Orden auszeichne, dann nicht nur für Ihr Filmschaffen, sondern auch dafür, dass Sie ein unvergleichlicher Vermittler zwischen deutscher und französischer Kultur waren und sind – und zwar von sehr jungen Jahren an. Aus Ihrer Erfahrung dürften Sie auch wissen: Zwei so unterschiedlich geprägte Kulturen wie etwa die französische und die deutsche sind nie hundertprozentig synchronisierbar – aber sie können gerade in ihrer Verschiedenheit unendlich viel voneinander gewinnen.

Sie waren in der französischen Kultur so rasch zu Hause, dass Sie – und das finde ich, wie lange es jetzt auch her ist, immer noch sensationell – als Schüler des Pariser Elitegymnasiums Henri IV nach nur zwei Jahren Französisch den zweiten Preis des nationalen Philosophie-Wettbewerbs gewonnen haben. Was ein Foto und einen kleinen Bericht in France Soir nach sich zog, damals eine Zeitung mit Millionenauflage.

Schon in der Überschrift stand, dass der Oberschüler einst Filmregisseur werden wolle. So sind Sie wohl der einzige Regisseur des deutschen Films, wenn nicht weltweit, der lange vor seiner ersten Regiearbeit sozusagen der Weltöffentlichkeit mitgeteilt hat, was sie eines Tages von ihm zu erwarten habe.

Sie sind Ihren Weg mit beeindruckender Konsequenz gegangen und dafür reich belohnt worden, bis hin zur Goldenen Palme in Cannes und zum ersten deutschen Oscar – nach Bernhard Grzimek, den wir der Gerechtigkeit halber nicht vergessen wollen! Aber wichtiger als diese Erfolge war Ihnen, dass Sie immer, oder doch allermeistens, das tun konnten, was Ihnen Ihr künstlerisches Gewissen gebot.

Die Mahnung aus Schillers Don Karlos: Sagen Sie ihm, daß er für die Träume seiner Jugend soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird, die brauchte man Ihnen nicht zweimal zu sagen. Ich denke, Sie haben Ihre Träume in einem Maße verwirklichen können, wie es nur wenigen Menschen, nur wenigen Künstlern, zuteilwird.

Eine gewisse Unbedingtheit gehört sicher dazu – eine Unbedingtheit, wie Sie sie bei den heiteren ernsten Jesuiten, wie Sie geschrieben haben, in der rauen Bretagne kennengelernt hatten. Und wie sie zum Beispiel Pater Jean Bernard in Ihrem Film Der Neunte Tag verkörpert, dieses tief bewegende Meisterwerk über die Gewissensentscheidung eines Priesters, der vom KZ Dachau beurlaubt wird, um für die Nazis zu arbeiten, womit er sein und das Leben einiger seiner Nächsten hätte retten können – und der sich dagegen entscheidet. Ganz bestimmt kein Zufall, dass Sie diese wahre Geschichte ergriffen hat – und dass dann Sie diesen Stoff ergriffen haben.

Denn mit Ihren französischen Mitschülern im Internat in Vannes in der Bretagne hatten Sie einst als deutscher Jugendlicher Nacht und Nebel von Alain Resnais gesehen, den Film über die deutschen Konzentrationslager. Der Schlüsselfilm für Sie. Sie fragten sich: Wie war das möglich? ... Innerlich bin ich nie damit fertig geworden, und fast alle meine Filme, vom Erstling Törless bis zum Neunten Tag suchen immer noch die Antwort auf die Frage, die dieser Film auslöste.

In all der Glitzerwelt des Films und des internationalen Jetset, wie man seinerzeit noch sagte, die Sie reichlich kennengelernt und die Sie auch genossen haben, von Arthur Miller bis Brigitte Bardot, von Madonna bis Brian Jones, von Julie Delpy bis Sam Shepard, von Dustin Hoffman bis Faye Dunaway, haben Sie, weder im Leben noch in Ihren Filmen, vergessen, worauf es eigentlich ankommt.

Es geht um Treue und Verrat, um Geborgenheit und Verlassenheit, um Trauer, Sehnsucht und die wenigen Momente des Glücks. Und es geht darum, dem Gewissen zu folgen und an der Seite der Schwächeren zu stehen. Vom Törless über die Verlorene Ehre der Katharina Blum, von der Blechtrommel über Homo Faber, vom Tod eines Handlungsreisenden bis Strajk und darüber hinaus lässt sich in Ihrem Werk diese Spur verfolgen. Und auch das ist eine beeindruckende Konsequenz.

Seit früher Jugend sind Sie ein politischer Mensch – angefangen mit den Diskussionen mit den Mitschülern im Internat, über den Eintritt in die kommunistische Gewerkschaft CGT, die Demonstrationen gegen den Algerienkrieg in Paris, die Beteiligung am filmischen Statement Deutschland im Herbst, bis hin zum entschiedenen Engagement in Wahlkämpfen – auf welcher Seite, mögen Sie, meine Damen und Herren, ihn selbst fragen.

Vielleicht war Ihre wichtigste politische Tat aber, dass Sie sich nicht zu schade dafür waren, einige wichtige Jahre Ihres Lebens der Neuorganisation der traditionsreichen Babelsberger Filmstudios zu widmen. Das war mit unendlich vielen Schwierigkeiten verbunden, denen Sie sich mit großer Geduld und Tapferkeit gestellt haben.

Der Traum des Wiederanknüpfens an die glanzvolle Zeit der alten UFA-Studios musste begraben werden. Und doch hat sich das Engagement letzten Endes ausgezahlt. Dafür können Ihnen sehr viele Menschen dankbar sein – nicht nur Produzenten und Regisseure, sondern die vielen Kostümbildner, Kulissenbauer, Beleuchter, Techniker, Kameraleute, Caterer und so weiter, die auch durch Ihr Engagement, durch Ihren Verzicht auf wertvolle Jahre künstlerischen Wirkens, heute in Arbeit und Brot sind.

Unser Land hat Ihnen sehr viel zu verdanken. Sie haben eine Bild- und Filmsprache gefunden für so vieles, was in unserer Gesellschaft virulent war und ist. Ihre Generation war die erste, die unbelastet, weil ohne eigene Schuld an den Verbrechen des Dritten Reiches, in die Zukunft hätte gehen können. Sie haben aber, aus freiem Willen, eine Verantwortung geschultert, die viele der tatsächlich Verantwortlichen nicht übernehmen wollten.

Sie haben Texte, Bilder und Geschichten gefunden und erfunden, um sich der Vergangenheit zu stellen. Weil Sie gespürt haben, dass ohne radikal ehrlichen Umgang mit der Vergangenheit auch Gegenwart und Zukunft auf Lügen aufgebaut wären.

Dass nur die Wahrheit frei macht, das mag für so manchen nicht mehr sein als ein frommer biblischer Spruch. Aber wer Ihre Filme sieht, kann eine Ahnung davon bekommen, dass das stimmt: Nur wahre Filme sind auch schöne Filme. Auch wenn Ihr Vater nach dem Ansehen der Blechtrommel gesagt haben soll: Scheußlich.

Ich sah das anders. Michael Kohlhaas, Baal, Der plötzliche Reichtum der armen Leute von Kombach, Katharina Blum, Deutschland im Herbst, Blechtrommel: Ich bin mit Volker Schlöndorff erwachsen geworden. Seine Filme waren mir wichtig und haben sicherlich in bewegten Jahren meine Sicht auf die Welt mit geprägt.

Das sage ich für mich, aber ich darf Ihnen versichern, die allermeisten meiner Generation haben Ihre Filme anders aufgenommen als Ihr Vater. Und auch wenn er, wie Ihren Lebenserinnerungen zu entnehmen ist, sicher nicht bestechlich war, hätte es ihn doch vielleicht im Stillen gefreut, wenn der Bundespräsident Ihnen jetzt das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland überreichen darf.

Und zwar mit großer Freude.

Vielen Dank.